Baumgarten, Michael - David, der König ohne Gleichen - Erster Vortrag.

Baumgarten, Michael - David, der König ohne Gleichen - Erster Vortrag.

Advent und Israels König.

Unter den Weihnachtserzählungen, welche Charles Dickens in früheren Zeiten zu veröffentlichen pflegte, geehrte Versammlung, befindet sich eine, welche darauf angelegt ist, die verschiedenen Weisen, wie das Weihnachtsfest in den Häusern gefeiert wird, anschaulich darzustellen und zwar um zu zeigen, welch eine Wirkung die lebhafte Vergegenwärtigung der mannichfaltigen Bilder, welche die Weihnachtsfreude veranschaulichen, auf ein menschliches Gemüth hervorzubringen vermag. Unbeschreiblich schön und sinnig werden die unterschiedlichen Gestalten der häuslichen Weihnachtsfeier hier geschildert; wir betreten die hellen und duftenden Gemächer der Wohlhabenden und wo nur die natürliche Regung des menschlichen Herzens nicht gänzlich ins Stocken gebracht ist, da erscheint der Ueberfluß des Lebens am heutigen Abend mit einem eigenthümlichen Lichte von Milde und Menschenfreundlichkeit überkleidet; aber auch in die Wohnungen der Dürftigen werden wir geführt und der Dichter versteht die äußere Aehnlichkeit dieses Zustandes mit der ersten und ursprünglichen Weihnacht vollkommen richtig, er zeigt uns, wie hier, was an Glanz und Genuß abgeht, durch Reinheit und Kraft der Empfindungen so reichlich ersetzt wird, daß die Armuth in dieser weihnachtlichen Verklärung als ein Schauspiel ohne Gleichen für alle richtigen Gemüther erscheint; auf die Straßen Londons werden wir hinausgeführt und wir schauen hier eine allgemeine Fröhlichkeit und athmen so zu sagen eine festliche Atmosphäre, wie sie nur einmal im Jahre zu haben ist; ja so kräftig und so allgemein ist diese Freude, daß ihre Töne auch da vernommen werden, wo Menschen aus ihrer Häuslichkeit herausgerissen in weite Fernen entrückt sind, wir hören, wie die beiden einsamen und stummen Lootsen in dem Leuchtthurm auf dem Riff des wilden Weltmeeres ein Weihnachtslied anstimmen und wie die Matrosen auf den Indienfahrern ihrer Heimath gedenken und sich gegenseitig „fröhliche Weihnachten“ zurufen. Wer sich dieses Alles vergegenwärtigt und dann seine eigenen Empfindungen aus früheren Selbsterfahrungen wachruft, der muß es sich gestehen: wundersam ist es mit der Weihnachtszeit, fast nicht anders, als wenn aus weiter tiefer Himmelsferne ein göttlicher Lebenshauch die kalte Erde und die starre Menschheit anfächelt und mit neuer Kindheit segnet. Aber freilich um den Geist dieser Erscheinungen zu deuten und zu verstehen, dazu gehört ein empfänglicher Sinn und in jedem Menschen wohnt eine unselige Kraft, welcher es ein Leichtes ist, alle diese Wahrnehmungen in ihre äußerlichen Elemente und Atome aufzulösen und ihrer belebenden Seele zu berauben. Dickens zeigt uns in jener Erzählung einen ergrauten Geizhals, dessen Herz zu Kieselstein verhärtet ist, und der deshalb Weihnachten als die Zeit der Faullenzer, Prasser und Bettler verabscheut. Aber eben an diesem alten Sünder soll die Wirkung der Weihnachtsfeier veranschaulicht werden. An der Hand eines ihm erscheinenden Geistes wird Master Scrooge in seine Jugendzeit zurückgeführt, die denkwürdigsten Weihnachtszeiten seines früheren Lebens schaut er noch einmal als Gegenwart und er wird inne, wie sehr ihm sein Herz durch den Lauf der Zeiten umgewandelt worden; sodann wird ihm ein Einblick eröffnet in das, was während der festlichen Stunden in den Häusern und Herzen vorgeht; und in der That, wenn wir dies Alles mit richtigem Sinn an uns vorübergehen lassen, so begreifen wir die wundersame Wirkung: Master Scrooge wird durch diese ihm vorgeführten Erscheinungen erschüttert und überwältigt, sein gänzlich erstarrtes Gefühl, wird wieder lebendig und er selbst wird von Stund‘ an ein neuer Mensch.

Der berühmte englische Schriftsteller hat mit dieser seiner Dichtung den innersten Sinn der Weihnachtsfeier ausgesprochen, daß sie nämlich das Fest einer neuen Schöpfung der Menschheit bedeutet, welche Neuschöpfung die Fesseln und Ketten der alten Menschheit sprengt und Tod und Nacht des alten Wesens in Licht und Leben verwandelt. Dickens hat Recht daran gethan, diesen tiefen geschichtlichen Sinn in der Feier des Festes, wie sie noch gegenwärtig in der christlichen Welt besteht, aufzuweisen. In der That kann nur derjenige, welcher auf diesen geschichtlichen Grund zurückgeht, die sinnreiche und geheimnißvolle Gegenwart unserer Weihnachtsfeier verstehen.

Zwar finden wir im vorchristlichen Heidenthum mehrfache Analoga zu unserem Weihnachtsfeste. Die Saturnalien der Römer in der zweiten Hälfte des December waren ein Freudenfest, an welchem die Sclaven ihr Menschenrecht genossen und Freunde sich gegenseitig beschenkten; im scandinavischen Norden wurde die traurige Winterzeit verherrlicht durch das Julfest, von welchem unser weihnachtliches Julklapp noch heute seinen Namen hat. Bei den Persern war am 25. December das Fest des Mithras, der Tag der siegenden Sonne. So wie das ganze Heidenthum wesentlich Naturreligion ist, so weisen uns auch diese Feste auf die Natur zurück, was namentlich bei dem letztgenannten unmittelbar einleuchtet. Aber eben deshalb kann auch unsere Weihnachtsfeier, obwohl sie der Zeit und äußern Erscheinung nach an jene Feste erinnert, aus diesen heidnischen Anfängen nicht erklärt werden. Wir sind überall mit dem Naturleben nicht mehr so unmittelbar verbunden, wie das Alterthum; wer von uns empfindet denn am 24. December etwas von der unbesiegbaren Kraft der Sonne, weil sie um eine Linie höher steigt? Eine andere Sonne muß es sein, als die am Horizonte schwebende und in trübem Nebenflor gehüllte, deren Strahlen durch die Herzen zucken wenn sie in Hütten und Palästen bei Jungen und Alten von der Weihnachtsfreude erwärmet und aufgethauet werden. Von einer Christin der ersten Jahrhunderte, von der Kappadocierin Nonna, der Mutter des Kirchenvaters Gregor von Nazianz, wissen wir, daß sie im schwersten Kummer und bei der tiefsten Betrübniß, sobald ein christliches Fest anbrach, ihre weißen Kleider anlegte und ihre Trauer in Festfreude auflöste. Sie wohnte mitten unter Heiden, aber ihre Festfreude ist etwas wesentlich Anderes, als die Ausgelassenheit der Saturnalien, als die Freude über die Sonnenwende, als das Julfest in der Falkennacht. Hier sehen wir nicht bloß einzelne Strahlen eines fernen Lichtes, sondern die gegenwärtige Kraft eines alle Finsterniß überwindenden Selbstlichtes; hier schauen wir nicht eine aus der Natur sondern aus dem Reiche des Geistes stammende Lebensmacht, welche die Erde und die Menschheit dereinst urkräftig angerührt. Und alle unsre Weihnachtslichter und Weihnachtsgefühle, eine andere Quelle und eine geringere Ursache können sie nicht haben, als diese göttliche in die Geschichte eingetretene Lebensmacht. Freilich kann uns dann auch, sobald sich die Sache so verhält, nicht entgehen, daß die Weihnacht weit mehr bedeutet, als wir gewöhnlich von ihr zu empfangen pflegen. Die jungen Herzen hüpfen und die alten Herzen schlagen rascher und ein geheimnißvoller Zauber erfüllt die Atmosphäre der menschlichen Wohnstätten; aber sowie die Weihnachtslichter schnell herunterbrennen, so sind auch nur allzu häufig die festlichen Empfindungen gar bald entschwunden und es tritt wiederum ein der einförmige Gang des täglichen Lebens, welches sich in dem gewohnheitsmäßen und trägen Wechsel von Geschäft und Erholung abnutzt und von Jahr zu Jahr weniger empfänglich wird, die Weihnachtsgefühle der Kindheit zu verstehen und in sich zu erneuern. O wer hat es nicht oftmals vernommen, wenn er das menschliche Leben betrachtet, dieses heimliche Seufzen des Geistes der Menschheit, wie er unter dem Druck unwürdiger Knechtsarbeit sich nach Freiheit sehnt? O wen überkommt und ergreift dann nicht je zuweilen das unaussprechliche Verlangen, eines Lichtes theilhaftig zu werden, welches ihm nimmer ausgeht, sondern ihn in alle Dunkelheiten seines Weges hineingeleitet, eines Lebens, welches ihn mitten unter den Trümmern der Vergänglichkeit trägt und emporhält, einer Freude, welche wie himmlische Musik auch auf den schwierigsten und dunkelsten Bahnen seine Füße beflügelt und alle Dissonanzen des Weltgetümmels in schöne Harmonie aufzulösen vermag! Wohlan, dieses himmlische Licht, dieses ewige Leben, diese unvergängliche vollkommene Freude, diese wahrhafte und wesentliche Freiheit, dieser ganze Schatz der höchsten Güter liegt beschlossen in der der Weihnachtsfeier zu Grunde liegenden Geschichte, hier ist er zu heben und in Empfang zu nehmen und zur Legitimation des vollberechtigten Anspruches gehört weiter Nichts, als daß Einer ein Mensch ist, der Verlangen hat, seine alte und natürliche Menschheit mit einer neuen und göttlichen Menschheit zu überkleiden. Wenn wir es also mit Recht beklagen müssen, daß unsere erhebenden und festlichen Weihnachtsgefühle so flüchtiger Natur sind, so kann die Ursache davon nur darin liegen, daß wir es an uns selber fehlen lassen. Zwischen jedem Menschenherzen und dieser Weihnachtsbegebenheit liegen tausend Beziehungen, welche als gerade Linien Beides mit einander verbinden; nur an uns also ist es, jenes Himmelslicht, welches die Erdennacht dereinst wunderbar beleuchtete, mit vollen Zügen aufzunehmen und zum bleibenden, unzerstörbaren Hintergrund unseres Herzens zu machen.

Jede wiederkehrende Weihnachtsfeier ist für uns eine Einladung, in dieses höchste und innerste Heiligthum einzutreten, um die wahre Weihe und Salbung für das höhere Leben zu empfangen, und das Herannahen des Festes ist demnach eine ernste Mahnung, daß wir unsere Füße von dem Staub der Erde reinigen mögen. Im Hinblick auf das gegenwärtig bevorstehende Fest ist es mir daher nicht unpassend erschienen, daß wir einige Abendstunden daran wenden, um uns über einen Gegenstand zu unterhalten, welcher mit der Geschichte des Weihnachtsfestes in sehr naher Beziehung steht.

Die Weihnachtsbegebenheit ist diejenige Thatsache, in welcher sich das Göttliche und Menschliche, das Himmlische und Irdische zu dem wirklichen Anfang einer neuen und ewigen Menschheitsgeschichte zusammenwebt. Da nun Alles darauf ankommt, daß wir das himmlische Licht dieser Thatsache in seiner ganzen Kraft und Fülle in uns aufnehmen, so ist äußerst wichtig, ja unumgänglich nothwendig, daß wir dieselbe in ihrem wirklichen und geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen und zu verstehen suchen. Denken wir uns nämlich jene heilige Begebenheit nur als einen Punkt, als ein einzelnes Moment, so können wir sie nicht festhalten, denn was wir festhalten, was wir in unser inneres gesammtes Leben aufnehmen sollen, das muß mit unserem ganzen menschlichen Sein und Leben, mit unserem menschlichen Denken und Fühlen in einer naturgemäßen Beziehung stehen, denn Alles, was diese Beziehung nicht aufweisen kann, muß uns bei näherer Betrachtung unheimlich und gespenstisch erscheinen, kann dann aber auch unmöglich eine heilsame Einwirkung auf unser Leben ausüben. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, daß die gegenwärtige Menschheit in ihrem Selbstbewußtsein ausgebildeter ist, als die frühere, die Kräfte und Ordnungen der Natur, die Gesetze der Geschichte, die Regeln des menschlichen Denkens sind gegenwärtig weit allgemeiner und genauer bekannt, als in früheren Zeiten. Was daher einem früheren unentwickelteren Selbstbewußtsein zum Verständniß einer Thatsache genügend erschien, ist oftmals für unser Denken höchst ungenügend, worüber ein früheres weniger scharfes und zartes Selbstbewußtsein ohne Anstoß hinwegging, das ist für uns nicht selten ein unübersteigliches Hinderniß. Daß nun die Weihnachtsthatsache dem angedeuteten Gesetze vollkommen genügt, daß sie an sich in einem wirklichen geschichtlichen Zusammenhang steht, der jedem menschlichen Bewußtsein vollkommen deutlich verständlich und zugänglich gemacht werden kann, das leidet keinen Zweifel. Aber diejenige Wissenschaft, welche für dieses heilige Geschäft berufen ist, hat darin von jeher viel versäumt, jetzt aber verwaltet sie dieses Geschäft vielleicht schlechter denn jemals. Entweder geht man von der Grundthatsache aus, sucht aber den Zusammenhang derselben durch Denkformen anschaulich zu machen, welche einer früheren Zeit entstammen, die schon zur Zeit ihrer Entstehung nicht ganz entsprechend waren, jetzt aber jedem gebildeten Bewußtsein sofort als unzulässig erscheinen müssen. Oder man geht von dem Stand der gegenwärtigen Bildung und der herrschenden Denkart aus, aber man gelangt nicht bis zu der Wirklichkeit jener göttlichen Thatsache, welche man sodann entweder als ein rein Unverständliches stehen läßt oder auch in etwas Anderes, in ein willkührlich Erdachtes umsetzt. Wenn daher gegenwärtig Tausende von Weihnachtskerzen brennen, welche an jene himmlische Klarheit, welche auf dem Felde zu Bethlehem einst geleuchtet hat, gar keine Erinnerung wachrufen und deshalb auch erlöschen, ohne in den Herzen eine Spur zurückzulassen, so kommt dieses zu einem großen Theil auf Rechnung jener theologischen Versäumnisse. Aus diesem Grunde beabsichtige ich, geehrte Anwesende, Ihre Aufmerksamkeit auf ein hervorragendes Moment des geschichtlichen Zusammenhanges, welches in den heiligen Urkunden über die Begebenheit des bevorstehenden Festes wie kein anderes hervorgehoben wird, hinzulenken. Die himmlische Ankündigung Jesu von Nazareth, welche Maria seine Mutter empfängt, lautet: „du wirst einen Sohn gebären, der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben und er wird ein König sein über das Haus Israel ewiglich“ (Luk. 1, 31-33). Den Hirten auf dem bethlehemitischen Felde sagt der himmlische Bote: „euch ist heute ein Retter geboren, welcher ist ein Gesalbter und Herr, in der Stadt Davids“ (Luk. 2, II). Zacharias der Vater des Täufers preist den Gott Israels, daß er seinem Volke aufgerichtet habe ein Horn der Rettung „in dem Hause seines Knechtes David“ (Luk. 1, 68). Diesen Ankündigungen, welche die Geburt Jesu begleiten, entsprechend rufen nachher die Hülfsbedürftigen Jesum an mit dem Worte: „Jesu du Sohn Davids erbarme dich unser“ (Matth. 9, 27. 20, 30. 33) und so geläufig und bedeutsam ist diese Anrufung, daß selbst die Kanaaniterin, welche nicht zum Volke der Juden gehörte, Jesum mit derselben Benennung um Hülfe anficht (Matth. 15, 22). Und endlich als Jesus seinen königlichen Einzug hält in Jerusalem, ist es wiederum diese seine Abstammung vom König David, welche das jubelnde Volk und die singenden Kinder feiern (Matth. 21, 9. 15). Wir sehen also, gleich bei seiner Geburt wird Jesus vom Himmel her als der Sohn Davids verkündigt, und als Sohn Davids wird er in Freud und Leid von seinem Volke begrüßt und verherrlicht. Es muß diese bedeutsame und nachdrückliche Verknüpfung des Namens Jesu mit dem Namen seines königlichen Ahnherrn doch wohl Etwas mehr besagen, als daß Joseph sein Pflegevater und vielleicht auch seine Mutter Maria aus dem Hause Davids abstammten; David, sein Thron und sein Reich muß offenbar eine wichtige und bedeutsame Beziehung zu Jesu und seinem himmlischen Königreiche haben und es muß deshalb über den geschichtlichen Zusammenhang der Geburt Jesu Licht verbreiten, wenn wir uns die Persönlichkeit und Geschichte Davids klar machen. Und dieses ist eben der Gegenstand, für welchen ich Ihre Theilnahme in Anspruch nehmen möchte.

Gäbe es nun freilich keinen anderen Maßstab für geschichtliche Bedeutsamkeit und Größe, als nach welchem wir Cyrus, Alexander und Cäsar für große Männer erklären, so dürfte ich kaum wagen bei einem Gegenstande, wie der angekündigte ist, auf Ihr Interesse zu hoffen. Nach diesem Maßstab ist David eine geringe Erscheinung, König war er allerdings, aber über ein kleines Volk und über ein eng abgegrenztes Gebiet und seine Thaten haben in Vergleich mit den großen Begebenheiten auf dem großen Schauplatz der Weltgeschichte kleine Dimensionen. Aber mögen immerhin die Thaten der Kriegshelden und Eroberer die Längen und Breiten der Weltgeschichte ausfüllen, es giebt auch Tiefen und Höhen im Menschenleben, welche ihre Geschichte haben und zwar eine weit gehaltvollere als jene; die geheimnißvollste Tiefe, welche zugleich die erhabenste Höhe ist, ist das religiöse Leben. In dieses von dem Getümmel der Welt weit entrückte, in dieses still verborgene Gebiet des Menschenlebens hat David seinen Namen eingegraben mit Zügen, welche Jahrtausenden trotzen, und zwar leuchtet der Charakter seines religiösen Angedenkens um so heller, da die Geschichte ihn denselben zugleich als Helden und König verzeichnet hat, und zwar so, daß sein religiöses Leben und sein königliches Walten nicht neben und außer einander liegen, sondern Beides sich gegenseitig durchdringt, so daß er die beiden entgegengesetzten Pole des menschlichen Lebens umspannt und deshalb jeder Seite seines Lebens durch die entgegengesetzte einen eigenthümlichen Glanz und Ruhm verleiht.

Um uns im Voraus von der geschichtlichen Bedeutung des davidischen Namens einigen Eindruck zu verschaffen, will ich nur an zwei Momente erinnern: David ist der Gründer der Stadt Jerusalem, David ist der Haupturheber der Psalmenpoesie. Jerusalem und die Psalmen tragen Davids Namen durch die Jahrhunderte bis an das Ende der Tage, über Land und Meer bis an die Grenzen des Erdkreises. Keinen geographischen Namen giebt es auf der ganzen Erde, der wie Jerusalem so tiefe Erinnerungen, Gefühle und Hoffnungen zu erwecken vermag, keine Stadt der Erde ist in alter und neuer Zeit so gefeiert und besungen, so umworben und so umstritten worden, wie Jerusalem. Alle drei Religionen des Monotheismus, Judenthum, Islam und Christenthum, verehren diesen Namen als einen heiligen, für alle drei Religionen bezeichnet dieser Name ein Heiligthum nicht bloß der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch der Zukunft. Besonders aber ist es Davids eigenes Volk, dessen Herz an Jerusalem wie an einen ewigen Magnet gebunden bleibt. „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen, meine Zunge müsse am Gaumen kleben, wenn ich dein nicht gedenke“, so singen die Juden unter den Weiden an den Wassern zu Babylon (Ps. 137, 1-6) und jetzt, wo dieses Volk wie ein in Scherben zerschlagenes Gefäß in alle Länder zerstreut ist, noch jetzt liegen die armseligen Reste dieses Volkes alle Tage und besonders am Freitag in der Nähe des Tempelberges und singen im Staube die herzzerreißende Klage um Zion. Und die Psalmen? Freilich so breit und prächtig wie die Poesie der Hellenen auf dem Strome des Weltlebens dahinfährt, macht sich diese geistliche Liedersammlung der Hebräer nicht. Aber da, wo das Rauschen und Säuseln der homerischen Gesänge, der pindarischen Hymnen, der sophokleischen Dramen, der horazischen Oden verstummt, wo aber die eigentlichen Tiefen und Höhen des Menschenherzens ihre geheimnißvolle Stäte haben, da beginnt die Macht dieser bescheidenen, keuschen und strengen Lieder. Da, wo die Seelen in großer Einsamkeit mit Gott ringen, wo Gnade und Sünde, Himmel und Hölle, Leben und Tod mit einander im Kampfe liegen, da rauscht der Psalm auf dem feierlichen Kinnor und giebt für das in allen sonstigen Sprachen Unnennbare Worte des Schmerzes und Worte der Wonne und stärkt die Geister mit Kräften himmlischer Begeisterung und Freude. Und niemals verbrauchen sich diese Lieder, niemals nutzen sie sich ab; jeden Morgen sind sie frisch, wie der junge Tag. Denn die Kunst hat an ihnen wenig Antheil, desto mehr aber die Wahrheit; und die Wirklichkeit des Menschenlebens in seinen Höhen und Tiefen, wie diese Wirklichkeit durch die reinsten Herzen unvergleichlich tief fühlender Männer, dieser heroischen Vorkämpfer in den heiligsten Kriegen der Menschheit, hindurchgegangen ist, aus dieser heilig kastalischen Quelle sind sie gequollen, und darum eben sind sie durchwürzt von einem unvergänglichen Duft und von einer ewigen Kraft des Geistes der Wahrheit. Nein, keine Poesie der Erde hat eine so reiche, so fruchtbare Geschichte auf den Blättern der am reinsten und tiefsten fühlenden Menschheit, wie dieser hebräische Psalter, der nach David als seinem vornehmsten Meister benannt wird.

Sie sehen also, kein geringfügiger Gegenstand ist es, den ich Ihnen biete, wenn ich Ihnen Davids Persönlichkeit und Geschichte vorzuführen beabsichtige.

Da David reichlich tausend Jahre vor Christus gelebt hat, mithin seine Geschichte in das fernste Alterthum zurückgeht, so ist es natürlich, daß es für uns Spätlebende in dieser Geschichte Schwierigkeiten giebt, die nicht so leicht zu lösen sind und welche nur demjenigen sich aufschließen, der sich auf dem Wege gelehrter Forschung mit dem höchsten Alterthum der Menschheit vertraut gemacht hat. Es kann nicht meine Absicht sein, Sie mit Erörterungen über dergleichen Probleme aufhalten zu wollen. Glücklicherweise liegt aber auch die Sache so, daß wir die Hauptzüge, welche für unsern Zweck in Betracht kommen und welche ein genügendes Gesammtbild gewähren, auch ohne jene gelehrte Ausrüstung bei nur einiger Anstrengung unseres Nachdenkens sehr wohl fassen und verstehen können. Außerdem kommt uns zu Statten, daß die Geschichte Davids wie die gesammte biblische Geschichte, wenn sie richtig verstanden und dargestellt wird, die Gewähr der Wahrheit in sich selber trägt und jeder Nachdenkende, auch wenn er nicht im Stande ist, auf dem Wege der gelehrten Untersuchung bis an die Quellen vorzudringen, sich von der Glaubwürdigkeit überzeugen kann. Bei aller Fertigkeit und Kunst der dichtenden Phantasie hat doch die wirkliche Geschichte in der Regel und namentlich wenn sie mit ungewöhnlichen Umständen und außerordentlichen Verhältnissen umgeben ist, einen eigenthümlichen und unnachahmlichen Stempel. In eminentem Grade gilt dies von dem Gebiete der heiligen Geschichte, welches sich durch eine scharfe und feine Linie von dem übrigen Bereiche der menschlichen Geschichte abscheidet. Bei richtiger Würdigung der menschlichen Natur wird man sich überzeugen, daß die biblischen Thatsachen überhaupt und namentlich so, wie sie erzählt vorliegen, nicht könnten erzählt worden sein, wenn sie nicht wirklich geschehen, sondern bloß erdacht worden wären. Wem dieses etwa befremdlich klingen sollte, den verweise ich getrost auf meine folgende Darstellung der Geschickte des großen israelitischen Königs.

Der gelehrten Erörterungen über die Gründe der Glaubwürdigkeit, über die Beschaffenheit der Quellen, über chronologische und archäologische Schwierigkeiten können wir uns also unbeschadet unseres Zweckes füglich entschlagen. Aber was wir nicht entbehren können, ehe wir in Davids Geschichte selber eingehen, das ist dieses: das Volksleben, innerhalb dessen sich die Geschichte Davids bewegt, und seine voraufgehende Entwicklung werden wir uns klar machen müssen, ehe wir Davids Auftreten im öffentlichen Leben verstehen können.

Vor allen Dingen müssen wir das Volk Israel in seiner Eigentümlichkeit zu erkennen suchen. Diese Eigentümlichkeit besteht, wie Jeder schon von ferne sieht, in seiner Religion. Jedes Volk hat freilich im Alterthum seine eigenthümliche Religion, aber alle übrigen alten Volksreligionen werden von einem gemeinsamen Bande umschlungen, und diesem gemeinsamen Charakter setzt sich die Eigenthümlichkeit der israelitischen Religion entgegen. Während alle übrigen Völker des Alterthums das göttliche Wesen, welches sie verehren, mit der Welt vermischen, unterscheiden die Israeliten den Gott, welchen sie anbeten und welchen sie Jehova nennen, ganz bestimmt von der Welt, was sich am deutlichsten darin zu erkennen giebt, daß jede Erscheinung Jehovas immer von seinem Wesen unterschieden war und jegliche Abbildung Jehovas, wenn sie auch noch so gut gemeint sein mag, als Abfall angesehen wird. Damit hängt genau zusammen, daß während die Heiden die Gottheit als ein Mannigfaltiges denken, wie denn alles Weltliche mannigfaltig ist, die Israeliten mit der größten Strenge und Schärfe auf die ungetheilte Einheit des göttlichen Wesens halten. Die Israeliten waren sich bewußt, in dieser religiösen Unterschiedlichkeit die Reinheit und Wahrheit der Religion für alle Völker und Zeiten zu besitzen. Sie schrieben sich von Alters her das Priesterthum zu, durch welches alle Völker aus der Welt zu Gott geführt werden sollen s. 2 Mos. 19, 6), und wenn dereinst der Segen Jehovas durch Abraham und seine Nachkommenschaft über alle Stämme und Völker gekommen sein werde, so dachten sie sich dieses als Ziel und Ende aller Geschichte. Gleicherweise konnten sich die Hellenen keine menschenwürdige Bildung und Cultur vorstellen, wenn nicht ihre Wissenschaft und Kunst die Weihe ertheilt, und den Römern erscheint die Welt staat-und machtlos, wenn nicht die Herrschaft und die Gesetze der ewigen Roma die Völker und Länder des Erdkreises umspannen. Diesen universalgeschichtlichen Ahnungen der genannten drei Völker hat die Geschichte selber den Stempel der Wahrheit und Berechtigung aufgeprägt. Kunst und Wissenschaft des griechischen Alterthums ist nicht bloß die Schule, sondern auch das bleibende Vorbild für die Geistescultur aller Zeiten geworden, und der römische Rechtskörper, sowohl als Reich wie als Gesetzbuch, ist der feste Rahmen geblieben, in welchen die bürgerlichen Ordnungen diesseit und jenseit des Oceans eingespannt worden sind. So wie die geschichtlichen Normen der beiden eben genannten Völker sich auf die Entwickelung des Weltlebens beziehen, des idealen, sowie des realen, gewährt das israelitische Volk den bleibenden Typus für das religiöse Leben, für das Verhältnis) zwischen Gottheit und Menschheit und in dem Maße, als für dieses innerlichste und zarteste Verhältniß die Zuversicht um so nothwendiger ist, als für die Weltverhältnisse, ist auch das israelitische Bewußtsein von der zukünftigen Bestimmung dieses Volkes um so selbstgewisser und bestimmter; während die beiden andern Völker nur eine instinctmäßige Ahnung von ihrer zukünftigen Bestimmung besitzen, steht bei den Israeliten ihre universalgeschichtliche Zukunft in der Form der Weissagung und Hoffnung zweifellos fest. In diesem Lichte der Zukunft haben alle Gaben und Vorzüge, deren sich Israel erfreut, ihr schließliches Absehen auf die Gesammtheit der Völker; es können demnach diese Auszeichnungen dem erwählten Volke nicht etwa zum Genusse und zum Ruhme hingegeben sein, sie erheischen einen strengen und heiligen Dienst, durch welchen diese Schätze und Güter des höchsten Lebens, die zunächst Israel anvertraut sind, der Gesammtheit der Völker zugänglich gemacht werden sollen. Es gehört also zu den vielen Irrthümern, welche über das alttestamentliche Volk verbreitet sind und unbesehens fortgepflanzt werden, daß es eine Haupteigenschaft der Israeliten sei, in eitler Selbstüberhebung und mit hochmüthiger Verachtung aller andern Völker, welche sie Heiden nennen, ihres besondern Bundes mit Jehova, dem höchsten Gott, sich zu berühmen. Die Carricatur der Nationaleitelkeit geht überall und allezeit neben dem berechtigten und pflichtmäßigen Selbstbewußtsein nationaler Eigentümlichkeit einher und so auch bei den Juden, will man aber wissen, was wahrhaft israelitisch ist, so frage man und erforsche diejenigen, welche die Geschichte selbst als die Repräsentanten ihres Volkes beglaubigt hat, man wird erkennen, daß diese allerdings durchdrungen sind von dem Bewußtsein des höchsten Vorzuges, der ihrem Volk zu Theil geworden, aber in keiner Weise ist dieses Selbstbewußtsein mit irgend einer Art von Selbstbespiegelung verbunden, im Gegentheil, die Umgebungen jenes israelitischen Selbstbewußtseins sind strenge Selbstentsagung, aufrichtige Demuth, größte Leidenswilligkeit und Leidensfähigkeit, höchste Anspannung aller Kräfte Leibes und der Seele, so daß Jeder sagen muß, in diesen Umgebungen der tatsächlichen Wirklichkeit spiegelt sich die Wahrheit jenes Selbstbewußtseins ab. Damit fällt dann zugleich auch ein anderer Wahn, der gleichfalls von Mund zu Mund zu gehen pflegt, als ob der Gott der Israeliten ein höchst beschränktes und parteiisches Wesen sei, welches seinem Lieblingsvolk mit blinder Liebe zugethan sei, den Heiden dagegen nie anders als mit Grimm und Zorn begegne. Es ist unglaublich, wie dreist auch in aufgeklärten Zeiten eine Generation der andern Etwas vorlügen kann, wenn es nur den herrschenden Vorurtheilen schmeichelt. Wer wirklich in die alttestamentlichen Bücher hineinblickt, wird sich bald überzeugen, daß sich eine größere Strenge, als Jehova gegen sein eigenes Volk ausübt, gar nicht denken läßt. „Siehe, unter seinen Knechten ist Keiner ohne Tadel und an seinen Boten findet er Thorheit“ (s. Hiob 4, 18); wenn Eliphas so von den himmlischen Geistern Jehovas redet, so ist kein Wunder, daß alle Blätter der alttestamentlichen Geschichte zeigen, wie Jehova diejenigen am meisten züchtigt, welche er am meisten liebt.

Wenn man sehen will, wie das eigene Volk nirgends geschont wird, wie die Besten und Höchsten des Volkes ohne jegliches Ansehen der Person gedemüthiget werden, wie unbefangen und neidlos was unter andern Völkern gut und löblich ist anerkannt wird, so muß man in die israelitische Literatur des alten Testamentes hineinschauen, und daß ich oben bemerkte, der Stil der alttestamentlichen Erzählung könne nur als Abdruck der geschichtlichen Wirklichkeit begriffen werden, ist einem guten Theile nach in dieser unvergleichlichen Strenge begründet. Solche unbegreifliche Vorurtheile, wie die eben erwähnten, könnten überall gar nicht entstehen und zum wenigsten sich nicht festwurzeln, wenn nicht die alttestamentliche Geschichte und Literatur vorzugsweise einen religiösen Charakter hätte und damit dem Schicksal unterworfen ist, welches das Religiöse überall zu bestehen hat. Weil nämlich das Wahre und Wesentliche in der Religion selten begriffen und verstanden wird, so wird das Religiöse viel leichter, als irgend eine andere Lebenserscheinung, mit seinen Trugbildern und Ausartungen verwechselt.

Das Religiöse ist in dem Volke Israel und seiner Geschichte der allbestimmende Grundfactor und eben deswegen bleiben die übrigen Leistungen dieses Volkes auf dem allgemeinen und geschichtlichen Gebiete untergeordnet und gering. Aber auch diesen Umstand versteht man ganz falsch, wenn man meint, die israelitische Religion habe einen weltverachtenden Charakter und die Gottheit Israels setze die Welt zu einem verschwindenden und gehaltlosen Moment herab. Nur wenn man oberflächlicher Weise einzelne Aeußerungen des alten Testamentes aus ihrem Zusammenhang reißt, kann man auf eine solche Vorstellung gerathen. Hält man sich aber an den Zusammenhang der alttestamentlichen Aussagen, so ist Himmel und Erde von Jehova geschaffen und auf der Erde der Mensch dazu gesetzt, die in der Schöpfung von Himmel und Erde gesetzte göttliche Bestimmung durch freie Selbstbewegung und Selbstthätigkeit zu verwirklichen. Von diesem Gesichtspunkte aus ist allerdings zunächst Himmel, Erde und Menschheit abhängig, insofern beschränkt und endlich, sodann aber durch Jehovas Wort geschaffen und von seinem Geiste belebt, und insofern auch Gott gegenüber wesenhaft bleibend und ewig. Modificirt wird nun dieser Gesichtspunkt dadurch, daß der Mensch, das freie und bewegende Centrum der geschaffenen Welt, seiner Bestimmung untreu wird und dadurch so weit an ihm ist den ganzen göttlichen Weltzweck vereitelt. Es ist die Kehrseite von dem vollen Ernste dieses in dem Menschen beschlossenen Weltzweckes, daß nach dem Falle des Menschen die in sich eitel gewordene Welt vor Jehovas Angesicht, vor seinem Oden und Geist keinen Bestand mehr hat. In solchem Sinne und Zusammenhang ist es, daß geschrieben steht: die Berge schmelzen wie Wachs vor Jehova und die Himmel werden zusammengewickelt wie eine Buchrolle. Aber ist denn nicht der Hauptinhalt des alten Testaments die göttliche Thätigkeit und Veranstaltung zur Wiederaufrichtung des gefallenen Menschen? Und ist nicht die Gewißheit, daß dieses Ziel, wenn auch in der Ferne der Zeiten, erreicht werden wird, die innerste Seele dieser israelitischen Schriften?

Und im Hinblick auf dieses Ziel gewinnt Himmel und Erde wieder neuen Bestand; mag immerhin ihre äußere Gestalt vergehen, ihr Wesen, vom Standpunkte des wieder aufgerichteten Menschen, als in Gottes Wort gegründet angeschaut, bleibet ewiglich. So ist freilich das israelitische Weltbewußtsein von dem heidnischen sehr verschieden, aber ebensowenig ist dasselbe eine Weltnegation. Während die Welt für das heidnische Bewußtsein das Erste und das Letzte ist, muß die Welt in dem israelitischen Bewußtsein durch ein zwiefaches Leuterungsfeuer hindurchgehen; sie ist nicht urselbstständig, sondern geschaffen, sie unterliegt sodann um des gefallenen Menschen willen der Eitelkeit und dem Fluche, wird aber um des erlöseten Menschen willen wiederum geheiligt. Um dieses zwiefachen inneren Processes willen kann sich das Weltbewußtsein in Israel nicht so reich und üppig entfalten, wie bei den Heiden, aber dafür ist es um so unbefleckter und um so lehrreicher für die Gewissen aller Zeiten. Die Weltbildung und Weltgestaltung reicht in der israelitischen Geschichte gerade soweit, um anschaulich zu machen, wie das religiöse Princip den ganzen Bereich des volksthümlichen Lebens reinigen und heiligen soll und insofern sind diese Gestalten bleibende Normen für das religiöse Urtheil und Leben der menschheitlichen Zukunft.

Diese allgemeinen Andeutungen über die Eigentümlichkeit des israelitischen Volkes dienen zum Verständniß der Geschichte Davids, sowie andererseits diese Geschichte wiederum eine Bestätigung wird für diese voraufgehende allgemeine Betrachtung. Wir werden aber, da wir es mit einem König zu thun haben, zur allgemeinen Orientirung das israelitische Staatswesen noch näher ins Auge fassen müssen. In Bezug auf dieses Gebiet nun ist der Alles beherrschende Grundsatz: Jehova ist König und Israel sein erworbenes Volk, sein auserwähltes Erbtheil. Man hat dieses göttliche Königthum, welches man seit Josephus Theokratie zu nennen pflegt, meistens als eine sublimirte Art von orientalischer Despotie verstanden. Es ist leicht zu sehen, daß diese Auffassung mit der schon vorhin abgewiesenen Vorstellung von der weltvernichtenden Natur Jehovas zusammenhängt; aber auch aus der Geschichte dieser sogenannten Theokratie selber können wir beweisen, daß jene Auffassung auf Unwissenheit beruht. Jehova findet sein Volk, so ist die alttestamentliche Anschauung, in dem harten Diensthause ägyptischer Tyrannei, er hört das Schreien seines Volkes, als der Druck sein höchstes Maß erreicht hat, und mit ausgerecktem Arm und erhobener Hand befreit er Israel aus dem eisernen Ofen seiner Knechtschaft und macht es sich selber zu eigen, und zwar keineswegs, um eine Form der Knechtschaft mit einer andern zu vertauschen. Das Recht, welches sich Jehova thatsächlich über Israel erworben hat, versteht und braucht er nicht so, daß er sein göttliches Regiment über sein Volk als ein absolutes darstellt und ausübt. Für alle Zeiten muß es beachtet werden, daß der gewaltige und eifrige Jehova, der Gott der Götter und Schöpfer Himmels und der Erde, in dem majestätischen Act der sinaitischen Gesetzgebung zuerst dem Volke seine Gebote vorlegt, um sodann Israels Willensmeinung zu erfahren, und zwar wird diese Form so genau und streng innegehalten, daß zuerst das Volk im Allgemeinen sich zu erklären hat (s. 2 M. 19,3-8), sodann nachdem die erste Abtheilung der Gesetze feierlich verkündigt und geschrieben war, das Volk noch einmal seine freie Zustimmung ausspricht (s. 2 M. 24, 7). Nur über ein freies Volk will Jehova herrschen, und nachdem das Volk dreimal seinen freien Gehorsam zugesagt (s. 2 M. 20, 19 und die beiden a. St.), schließt Jehova mit seinem Volk einen Bund (s. 2 M. 24,8). Da jedes Bundesverhältniß immer zwei Theile voraussetzt, welche in Ansehung dieses Verhältnisses sich selbstständig und ebenbürtig gegenüberstehen, so wird in dieser Bundesschließung am Sinai das Volk Israel als eine freie und selbstständige Persönlichkeit von Jehova feierlich anerkannt, und so oft auf diesen Bund zurückgegangen wird oder so oft derselbe erneuert wird, wiederholt sich diese Anerkennung immer aufs Neue. Wir dürfen uns daher auch nicht wundern, daß Josua in einem feierlichen Momente ausdrücklich dem Volke seinen freien Willen zurückgiebt, und Israel noch einmal Gelegenheit erhält, seine freie Zustimmung zu dem Dienste Jehovas zu erklären (s. Jos. 24, 14-21). In dem gesammten Alterthum giebt es keine Thatsache, durch welche Würde und Hoheit der menschlichen Persönlichkeit dergestalt zur Anerkennung kommt, wie durch dieses thatsächlich vorliegende Verhältniß zwischen Jehova und Israel. Daß das ganze Alterthum zu einem erhabeneren Gedanken als dem Jehovas, „der da spricht und es geschieht“, „vor dem alle Heiden sind wie der Tropfen im Eimer“, sich nicht emporgeschwungen, das ist allgemein zugestanden, daß aber vor dem weltverzehrenden Feuer Jehovas das Volk Israel mit der Würde eines erstgeborenen Sohnes (s. 2 M. 4, 22) in seiner Freiheit und Selbstständigkeit anerkannt und als solche Persönlichkeit behandelt wird, das ist wenig beachtet und berücksichtigt. Es ist aber dieser Umstand von der größten Wichtigkeit, um die Eigenthümlichkeit des staatlichen Gemeinwesens dieses Volkes zu verstehen. Es ist bekannt, daß selbst auf den Höhen der hellenischen Bildung der Begriff der menschlichen Persönlichkeit zur Geltung nicht gelangen konnte: der Sclavenstand ist die nothwendige Unterlage für die Freiheit und Muße der atheniensischen Bürger, und erscheint nicht selbst in dem idealischen Entwurf des platonischen Freistaates die Persönlichkeit des weiblichen Geschlechts fast entmenschlicht? Nun ist zwar die eigentliche Verwirklichung der Freiheit und Selbstständigkeit menschlicher Persönlichkeit als solcher auch in Israel noch nicht vorhanden, aber für die Zukunft wird dieselbe mit voller Bestimmtheit und Klarheit in Aussicht gestellt und diese Zukunft wird in der Gegenwart thatsächlich angebahnt und eingeleitet. Zwar steht das weibliche Geschlecht dem männlichen noch nicht völlig ebenbürtig gegenüber, aber in Einklang damit, daß dem Weibe für die Zukunft ein großer Beruf zuerkannt ist, treten auch bereits in der alttestamentlichen Zeit einzelne weibliche Individuen als geschichtliche Persönlichkeiten auf. Zwar kommt es vor, daß Israeliten ihre Freiheit verlieren, aber im siebenten Jahre muß jeder israelitische Knecht entlassen werden. Ebenso haben alle Israeliten Anrecht an den Grund und Boden des gemeinsamen Landes und die schroffen Gegensätze der Vermögens-Verhältnisse, welche in Athen und Rom nur durch revolutionäre Acte ausgeglichen werden konnten, wurden in Israel durch das Gesetz des Jubeljahres, in welchem das Horn der Freiheit jedem Israeliten Rückkehr zu seinem verlorenen Acker und Hause verkündigen sollte, von vorn herein verhütet oder gemildert und wenn auch, wie es scheint, dieses große Gesetz der Freiheit und Gleichheit nicht zur Ausführung gekommen, so hat es doch einen sittlichen Einfluß geübt (s. Jes. 5, 8. Mich. 2, 2), und die römische Erfahrung, welche zu spät sich in dem Satze aussprach: „die großen Landgüter haben Rom zu Grunde gerichtet“, von Israel abgewendet.

Dieses israelitische Bewußtsein einer idealen, wenn auch noch nicht verwirklichten, Freiheit, Selbstständigkeit und Gleichheit hatte unmittelbaren Einfluß auf dasjenige Gebiet, von welchem wir hier zu handeln haben. Während die Nachbarvölker ringsum, während überwiegend der ganze Orient monarchisch oder vielmehr despotisch regiert wird, finden wir in dem kleinen Lande am Jordan Jahrhunderte lang einen selbstbewußten und alles Königthum abweisenden Freistaat. Das Bewußtsein der brüderlichen Gleichheit überwog bei den Israeliten so sehr, daß sie Keinen ihres Gleichen als ihren bleibenden Herrn zu erkennen vermochten, und Keiner, wenn er auch vor den Uebrigen sich auszeichnete, hielt diesen Vorzug bedeutend genug, um ihn nicht in der allgemeinen Gleichheit unter dem Königthum Jehovas verschwinden zu lassen.

Von Gideon, dem tapferen Heerführer Israels in der Zeit der midianitischen Noth, wird uns Folgendes erzählt: und es sprachen Männer von Israel zu Gideon, herrsche über uns, du und dein Sohn und deines Sohnes Sohn, weil du uns errettet hast von der Hand Midians! Und Gideon sprach zu ihnen: „nicht ich will über euch herrschen, und nicht soll mein Sohn über euch herrschen, Jehova soll über euch herrschen“ (s. Richt. 8, 22. 23). Das ebenso lehrreiche Widerspiel dieses ächt israelitischen Geistes ist das usurpirte Königthum eines der vielen Söhne desselben Gideon von seinem Kebsweibe zu Sichem. Dieser entartete Sohn Gideons, Namens Abimelech, errichtete auf acht orientalische Weise eine Tyrannis in Sichem, aber obwohl er sich eine Weile behauptete, mußte doch dieses Wagestück eines fremden Geistes an der Kraft und Gesundheit des israelitischen Volksbewußtseins scheitern. Jotham, ein anderer Sohn Gideons, spricht auf dem Berge Garizim in einer sinnigen Parabel dem Usurpator feierlich sein Urtheil (s. Richt. 9, 7-21) und ein israelitisches Weib führt dieses Urtheil aus, indem es mittelst eines Mühlsteines dem Leben und Königthum Abimelechs ein Ende macht (s. Richt. 9, 53. 57).

Demnach könnte es scheinen, als ob das göttliche Königthum in Israel das menschliche Königthum für immer ausschließen sollte und dieses nur möglich werden könnte, wenn Israel seinem wahren und ursprünglichen Geiste untreu würde. Indessen, das ist keineswegs der Fall. Schon von den ersten Anfängen der israelitischen Geschichte her wird auf das israelitische Königthum in bedeutsamer Weise hingewiesen (s. 1 M. 17, 6. 35, 11. 36, 31) und auch das mosaische Gesetz nimmt Bedacht auf das künftige Königthum in Israel (s. 5 M. 17, 14-20). Wir entnehmen daraus, daß das menschliche Königthum in Israel keineswegs eine Abnormität oder gar eine Unmöglichkeit ist, aber wir werden darauf gefaßt sein müssen, daß während sonst dieses Institut sehr häufig als etwas Unbedingtes und Absolutes aufgefaßt und gehandhabt wird, das israelitische Volksbewußtsein sehr bestimmte Schranken und Bedingungen setzt, innerhalb welcher das Königthum hier eingeschlossen ist. Haben wir doch dafür ein naheliegendes Analogen. Weil der Schwerpunkt der germanischen Völker von Alters her in der Gemeinde der freien Männer ruhte, so gab es hier ähnlich wie in Israel von Haus aus keine andere Gestalt des Königthums, als die der kriegerischen Heerführung. Als nun aber auch unter den Germanen im Laufe der Zeit das Königthum ein bleibendes wurde und alle bürgerlichen Verhältnisse umfaßte, blieb dasselbe, so lange es nicht durch fremdländische Einflüsse corrumpirt wurde, eben wegen des ursprünglichen Freiheitsbewußtseins bestimmten Grenzen unterstellt und unterschied sich wesentlich von dem Königthum auf gallischem Boden. Für das israelitische Königthum hat das mosaische Königsgesetz sehr bestimmte Vorschriften aufgestellt. Dem Volke wird es anheim gegeben, aus seiner eigenen Mitte einen König über sich zu setzen, aber keinen Andern soll es auf den königlichen Thron setzen, als welchen Jehova erwählen wird. Da nun der Name Jehovas in dem israelitischen Volksbewußtsein die gewisseste aller Realitäten bedeutet, so ist die Königswahl Jehovas nicht eine bloße Ceremonie oder ein leeres Zeichen, sondern eine Thatsache, die ihre innere Wahrheit bewähren muß. Der von Jehova gewählte König muß sich dadurch beweisen, daß er den Willen Jehovas thut. Zu dem Ende verordnet das mosaische Gesetz, daß die Leviten eine Abschrift des göttlichen Gesetzbuches dem Könige überreichen, und daß der König auf seinem königlichen Stuhl in diesem heiligen Buche lesen soll sein Leben lang, auf daß er Jehova fürchten lerne und alle Rechte des göttlichen Gesetzes halte. Alle Israeliten sind verbunden, das göttliche Gesetz zu halten, aber Keinem wird dieses Gesetz so nachdrücklich zur Nachachtung eingeschärft, wie dem Könige. Dieses Königsgesetz weiß, daß das Wort des Königs Johann: Welch' irdischer Mann kann wohl zum Verhör Geweihter Könige freien Odem zwingen? den natürlichen Sinn der Könige aller Zeiten ausspricht, darum unterstellt es den König Israels mehr als jeden andern Mann der allgebietenden Majestät des himmlischen Namens. Und wir sehen nunmehr, wie neben dem göttlichen Königthum in Israel ein menschliches Königthum werden kann, nämlich so, daß der menschliche König den göttlichen Willen Jehovas, wie derselbe in dem geoffenbarten Gesetze ausgesprochen ist, zu dem seinigen macht. Denn dann ist das menschliche Königthum die irdische Verwirklichung des göttlichen Königthums. Das mosaische Königsgesetz stellt aber noch ein ganz bestimmtes und allgemein wahrnehmbares, sowie völlig unzweideutiges Kriterium auf, an welchem das wirkliche Eingehen des irdischen Königs in den Sinn und Geist Jehovas, des himmlischen Königs, erkannt und erfahren werden kann und soll. Auf seinem königlichen Stuhl, auf dem er über Alle thronend waltet, soll der König Israels „sein Herz nicht erheben über seine Brüder“. Das war, wie wir gesehen, die heilsame Wirkung der israelitischen Vorstellung, daß Jehova, der Schöpfer Himmels und der Erde, der König sei über sein Volk Israel, daß unter diesem himmlischen Regiments alle Gegensätze des menschlichen Lebens sich immer wieder in wesentliche Gleichheit auflösen mußten, daß die Volksgenossen wie Glieder eines Hauses, wie Brüder innerhalb einer Familie erschienen. Der königliche Stuhl ist nun allerdings eine über die allgemeine Gleichheit in eminenter Weise hinausgehobene Spitze und die Geschichte des Königthums beweist es überall, daß diese Höhe außer in den seltensten Fällen die nationale Einheit und Gleichheit durchbricht. Eben deshalb, weil diese Erfahrung für Israel nicht bloß eine Störung seiner Entwicklung, sondern ein Abbruch eines wesentlichen Grundbestandtheiles seiner Existenz wäre, eben deshalb darf das Königthum in Israel nicht naturwüchsig entstehen und dem Gesetze seiner natürlichen Spannkraft überlassen bleiben, sondern aus sittlichen Bedingungen und Ursachen muß es hervorwachsen und wenn es hergerichtet ist, muß es der unwandelbaren Bedingung unterworfen bleiben, daß es die allgemeine brüderliche Gleichheit in Israel nicht aufheben darf. Nicht bloß mit Worten und Thaten soll der König diese israelitische Gleichheit nicht verletzen, das Gesetz geht zurück bis zu der Urquelle alles königlichen Uebermuthes: „der König soll sein Herz nicht erheben über seine Brüder“. Das leuchtende Vorbild für dieses königliche Verhalten ist die Geschichte Josephs. Dieser war ein Herr über ganz Aegyptenland und seine Brüder waren hilfsbedürftige Hirten, die ihn und seinen Vater bis aufs Blut beleidigt hatten. Nichts destoweniger erhebt Joseph sein Herz nicht über seine vor ihm liegenden Brüder, sondern zeigt ihnen tatsächlich sein brüderliches Herz dergestalt, daß sie aufs Tiefste von seiner Liebe ergriffen werden. Dieses israelitische Vorbild beweist außerdem, daß das Gefühl der brüderlichen Gleichheit mit seinem Volke von dem Könige Israels keineswegs eine weichliche Nachsicht für die Thorheiten und Fehler seines Volkes erheischt, sondern sich sehr wohl mit einer strengen und männlichen Gesinnung verträgt, auf deren ernstem Grunde Josephs brüderliche Liebe nur um so schöner leuchtet. Wenn nur der König nicht sein Herz über seine Brüder erhebt, so mag er immerhin Strenge üben, wo es nöthig ist, wie Joseph, selbst aus seiner Strenge wird seine Liebe hervorblühen und diese Liebe wird auch dem Geringsten unter seinem Volke fühlbar sein, wie einst das brüderliche Gemüth Josephs.

Wir haben die Ursache erkannt, wegen welcher der israelitische Freistaat lange Zeit das Königthum abwies, wir haben die Bedingungen kennen gelernt, welche für das Königthum in Israel, wenn seine Zeit gekommen sein wird, maßgebend sind. In Gemäßheit des religiösen Grundcharakters hatte Israel in den ältesten Zeiten seine zusammenfassende Einheit lediglich in dem hohenpriesterlichen Amte. So lange dieses Amt von den Nachkommen Arons mit treuen und reinen Händen verwaltet wurde, war für gewöhnliche Zeiten die bürgerliche Stammverfassung ausreichend und in außerordentlichen Zeiten fehlte es nie an hervorragenden Persönlichkeiten, welche Israel in den Krieg führten und seine durch auswärtige Feinde gestörten Ordnungen wieder herstellten, ohne auf eine bleibende oder erbliche Würde Anspruch zu machen. Als nun aber die Söhne Elis des Hohenpriesters mit dem Heiligen Frevel trieben und der Vater nicht die Kraft besaß, seinen entarteten Söhnen Einhalt zu thun, da wurden die Grundfesten des Volksbestandes in Israel erschüttert, der bis dahin ausreichende Haltpunkt des aaronitischen Hauses und seines heiligen Dienstes war nunmehr in seiner Integrität angegriffen und das Bewußtsein der öffentlichen Sicherheit ging verlöten. Es gehört zu der inneren und geheimnißvollen Eigenthümlichkeit dieses Volkes, daß bei öffentlichen Schäden und Gebrechen, Nöthen und Gefahren es niemals an Stimmen des öffentlichen Gewissens fehlt, welche laut und unverhohlen die bitteren Wahrheiten aussprechen. Solche Stimmen ließen sich auch in den Tagen Elis vernehmen. Während ein Mann Gottes dem Hause Elis den Untergang androht (s. 1 Sam. 2, 27-36), ist es die weibliche Stimme der Hanna, welche eine neue Ordnung der Dinge unter Hinweisung auf eine neue Salbung verkündigt (s. 1 Sam. 2, 1-10). Bisher ruhte die Weihe des heiligen Salböls allein auf dem Haupte des Priesters, und dieser war der Gesalbte Jehovas. Da nun aber jetzt das priesterliche Haus sich als untüchtig erwiesen, verweist Hanna auf ein neues Amt, welches nun vorzugsweise diese heilige Weihe empfangen soll, und bezeichnet als Gesalbten Jehovas den König Israels, durch welchen die Verehrung aller Ordnungen wiederum zurecht gebracht werden soll. In Israel, dem Volke Gottes, ist nicht jener geistlose, thörichte und verderbliche Sinn, der in unseren Tagen so oft als Frömmigkeit gepriesen wird, daß alte Institute, auch wenn sie schadhaft geworden und sich als untüchtig erweisen, um jeden Preis müssen erhalten werden, um nur jeder Neuerung, die unbesehen für verwerflich geachtet wird, vorzubeugen. Im Gegentheil, es sind in Israel eben die frömmsten und heiligsten Männer, welche das Alte, was untauglich geworden, ohne Schonung abthun und den bessernden Neuerungen mit kräftiger Hand Bahn brechen. In Israel ist ein kräftiges und gesundes Bewußtsein von der Nothwendigkeit geschichtlicher Entwicklung und Bewegung, aber eben deshalb wird das Neue oder das Epochemachende immer so gegründet, daß es sich mit dem Wesenhaften des früheren Entwicklungsganges richtig zusammenschließt. Daraus erklärt sich das Verhalten Samuels, des Sohnes jener Hanna. Derselbe ist es, welcher das Königthum, gegen welches sich bisher das israelitische Bewußtsein immer gesträubt hatte, als eine neue Institution einführt, aber er thut dieses so, daß er die Berechtigung der früheren Zeit mit voller Entschiedenheit vertritt.

Das, was das ebenso tiefe als klare Gemüth der Hanna in heiliger Ahnung ausgesprochen, ist zu derselben Zeit auch in dem Volke zum Bewußtsein gekommen; aber das Volk faßte das Bedürfniß des Königthums weniger rein und mehr äußerlich auf. Das Volk Israel sprach zu Samuel: „setze uns einen König, wie alle Heiden haben“ (s. 1 Sam. 8,9-20). Da das Volk auf den Vergleich mit den Heiden Gewicht legt, so zeigt sich, daß es den specifischen Charakter des israelitischen Königthums außer Augen setzt und darum sieht Samuel in jener Forderung des Volks mit vollem Recht einen Widerspruch gegen das Königthum Jehovas, welches neben einem Könige, der den heidnischen gleicht, seinen Bestand, wie wir gesehen haben, nicht behalten kann. Aber die göttliche Stimme bedeutet dem Samuel, daß er nichtsdestoweniger dem Volke seinen Willen erfüllen soll, ohne Zweifel weil das Volk in der Sache selbst Recht hat, wenn es sich auch verkehrt ausspricht. Und Samuel, eine wahrhaft geschichtliche Persönlichkeit, weit entfernt von unbeugsamer Starrheit, salbt den Saul zum ersten König über Israel.

Wäre Saul König eines andern Volkes geworden, mancher König würde sich freuen können, ein solches Andenken zu hinterlassen, als ohne Zweifel Sauls Namen umgeben haben würde. Denn nicht bloß war Saul eines Hauptes höher denn Jedermann in Israel, es fehlte ihm auch sonst nicht an königlichen Gaben und Tugenden, Tapferkeit, Gerechtigkeit, auch Empfänglichkeit für höhere menschliche Gefühle treten unverkennbar in seiner Geschichte hervor und nur aus solchen nicht gemeinen Zügen seiner Persönlichkeit erklärt sich die Anhänglichkeit, welche trotz der traurigen Wendung, welche Sauls Geschichte nahm, ihm und seinem Hause in Israel erhalten blieb. Aber freilich, was sich uns bisher schon aus der vorläufigen Betrachtung ergeben hat, das zeigt sich nun auch tatsächlich: der israelitische Königsstuhl ist eine scharfe Probe ohne Gleichen für das Innere dessen, der auf ihm seinen Sitz hat. Dieser Probe waren die nicht gemeinen Vorzüge Sauls nicht gewachsen. Von dem Könige Israels wird, wie wir gesehen, vor allen Dingen verlangt, daß sein Wille im bewußten und unwandelbaren Einklang stehe mit dem heiligen und höchsten Willen Jehovas; dazu ist nun unumgänglich erforderlich eine eben so große Strenge als Zartheit, eine eben so große Demuth als Festigkeit der Gesinnung. Diese vollendete Weihe eines menschlichen Gewissens ist es, was Saul mangelt und darum wird ihm sein königlicher Thron zu einem Felsen des Aergernisses. Der freudige Geist, den er für sein hohes Amt empfangen hatte, ward durch sein eigenwilliges Verhalten getrübt und ein böser finsterer Geist kam über ihn. Obwohl er der Gesammtheit des Volkes gegenüber nicht abließ, seine königlichen Pflichten zu beobachten, so erhob sich sein Herz über und wider den besten und bewährtesten Mann in ganz Israel; mit Neid, Argwohn und blutiger Rachsucht verfolgte er eben denjenigen, welchen auf alle Weise zu lieben und zu ehren seine königliche Pflicht gegen Israel gebot. Damit verfiel denn König Saul, der für das ganze Volk einen festen Halt abgeben sollte, eigener innerer Unruhe und qualvoller Unsicherheit und sein tragisches Ende war eine verlorene Schlacht und Tod durch sein eigenes Schwert. Höchst traurig verläuft und endet die Geschichte des ersten Königs in Israel, aber desto heller leuchtet auf diesem dunklen Hintergrunde das Königthum Davids.

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