Zeller, Johannes – Karfreitagspredigt

Zeller, Johannes – Karfreitagspredigt

Text. Luk. XXIII, 35
Und das Volk stand, und sah zu. Und die Obersten spotteten sein auch samt ihnen, und sprachen: Er hat Andern geholfen, er helfe ihm selber, ist er der Christ, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Kriegsknechte, traten zu ihm, und brachten ihm Essig, und sprachen: bist du der Juden König, so hilf dir selber. Es war auch oben über ihm geschrieben eine Überschrift, mit griechischen und lateinischen und hebräischen Buchstaben: Dies ist der Juden König. Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn, und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfahen1), was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.‘ Und sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land, bis an die neunte Stunde; und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels zerriss mitten entzwei. und Jesus rief laut und sprach: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Und als er das gesagt, verschied er.

Großer, heiliger Gott! Noch nahen wir uns dir in der Abendstunde des großen Tages, wo das vollkommene, reine Opfer auf Golgatha dargebracht worden, wo Dein Sohn am Kreuz ein Leben dahingegeben hat. Herr, gefällt es dir, wenn wir mit Zittern deinem Throne nahen, oder willst Du uns mit gesalbtem Haupte und freudigem Angesicht erblicken? Auch wir sind ja schuldig am Tode Jesu, der die Sünden der ganzen Welt trug, und doch gedenken wir dabei dessen, dass Du, Allgütiger, die Welt also geliebt hast, dass du diesen Deinen eingebornen Sohn gabst, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Gott, ja, du bist die Liebe, das bezeugt uns der heutige Tag. Am Kreuze, da hast du sie uns bewiesen, da du zu unserer Erlösung getan, was du von Abraham nicht wirklich verlangt hast. So wollen wir denn unter dem Kreuze zuerst im Namen Deines Sohnes um Vergebung unserer Sünden bitten und um recht innige Erkenntnis deiner Liebe, die nun: Gnade, Gnade sei mit euch! ruft. O aber wenn du diesen Trost in unser Herz ausgegossen hast, so gib uns Mut und Kraft, auch mit aller Treue, mit Ernst an unserer Seligkeit zu arbeiten, dass nicht alle die Gnade, die du uns anbietest, von uns ungenutzt bleibe. Ach, es stirbt ja selbst auf Golgatha, in deiner Nähe, o Jesus, ein Unbußfertiger: so können wir auch jetzt noch, nachdem du abermals uns einen Karfreitag geschenkt, uns unter dein Kreuz geführt, unbußfertig sterben. Nein, öffne unsern Herzen die Pforten des Himmels. Erbarme dich, Allerbarmer, aller, die wir hier versammelt sind. Lass uns hier mit Dir sterben, damit wir auch mit Dir auferstehen und in Dir selig werden. Amen.

Geliebte im Herrn!

Heute kann nun wohl kein anderer Wunsch, kein anderer Gedanke in euch leben, als, eine Wallfahrt zum Kreuz auf Golgatha zu machen, und wenn ihr euch noch nicht gerüstet habt, so macht euch jetzt sogleich mit eurer Seele auf und schaut empor. Drei Gekreuzigte sind auf Golgatha, zwei Übeltäter und Jesus in der Mitte. Wir blicken hinauf zu ihnen, zu allen dreien, denn sie predigen uns mit wenig Worten unerschöpflich Vieles, mit Trost und Schrecken Heilsames; sie predigen uns unausweichlich notwendige Erkenntnis. - Darum, ihr Lebenspilger, haltet nun einmal eure Gedanken und Begierden zurück und sammelt euch hier. Wir reden von den drei auf Golgatha am Kreuze Sterbenden, zuerst von dem unbußfertigen Schächer, dann von dem bußfertigen, und zuletzt von dem siegreich abscheidenden Erlöser.

I.

Gewöhnlich blickt man auf Golgatha auf den Herrn und dann auf den sich bekehrenden Schächer, der den Gnadenruf empfing: „wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, und man freut sich, hier zu erfahren, dass es nie zu spät ist mit Buße und Bekehrung, dass auch ein Übeltäter noch am Rande der Ewigkeit zum Glauben kommen kann. Ich bin ferne davon, diese herrliche Tröstung, die das Evangelium uns gibt, euch zu nehmen, oder auch nur zu verkleinern: aber einen falschen, trüglichen Trost wollen wir doch nicht auf Golgatha holen, wo das triefende Blut des Sündlosen uns wahrlich alle Lüge und Selbsttäuschung endlich sollte ausrotten! Wir empfangen hier allerdings die Zuversicht, dass Keiner, auch nicht der in der zwölften Stunde erst zur Erkenntnis seiner Schuld Gekommene, verzweifeln soll; hier empfangen wir eine Kraft wider die schreckliche Verzweiflung, als ob es zu spät sei. Aber nicht minder gewaltig mahnt uns das Beispiel des gottlosen Schächers, dass auch nicht Einer sicher sei, dass Keiner sich belüge, als ob es immer noch Zeit sei, sich zu bekehren. Zwei furchtbare Feinde, zwei seelenmordende Feinde harren des Menschen in seiner Todesstunde: Verzweiflung oder Sicherheit. Jener ist der seltenere, dieser der häufigere; ja, die Sicherheit, die Blindheit über sich und die Ewigkeit, die kalte Ruhe beim Sterben ist so häufig, so allgemein, dass sie nicht mehr für etwas Unrechtes gehalten wird. Aber hier ist uns nun ein Schild wider beide, gleich gefährliche Feinde gegeben worden; hier ist eine Waffe, dieselben anzugreifen und zu besiegen. Wir greifen zuerst den Feind, der Sicherheit heißt, an, der uns zur Aufschiebung der Buße verführt und uns belügt, als ob wir ruhig den Kelch der Lust, den Kelch, nicht des Leidens, sondern der Lust, bis auf den Grund austrinken können und dann am Schluss unserer Erdenbahn noch an die Brust schlagen und beten sollen: Herr, erbarme dich unser! und dann selig werden.

Worauf stützt sich denn diese Zuversicht, diese Hoffnung einer späten Buße? - Teure Zuhörer, wundert euch nicht, dass ich heute, am Karfreitag, von dem rede, wovon wir auch an jedem andern Tage sprechen könnten, denn ich bin fest überzeugt, dass diese Betrachtung des heutigen Tages würdig ist. Es handelt sich ja an diesem Tage und in dieser Betrachtung um Seligkeit und um Unseligkeit unserer Seelen, und gewiss hat die Vorsehung Gottes ihre bestimmten Zwecke gehabt, Christum zwischen diesen zwei Übeltätern kreuzigen zu lassen und uns die Worte beider zu überliefern, damit wir an diesem Tage gemahnt werden durch beide; und das Kreuz Jesu selbst stimmt ja schon so ernst und redet so düster zum Gemüte. Lasst nur wirken diesen Ernst, aus ihm wird die Freude geboren! Worauf denn stützt sich jene Zuversicht, dass wir ruhig bleiben können bis in die letzte Stunde und dann uns noch zu bekehren Zeit finden? Ach, aber ehe ich darauf antworten kann, durchzieht mich noch eine neue Wehmut und Angst, denn dieses Nachdenken setzt immer solche voraus, die doch wenigstens glauben, Buße, Bekehrung, Glauben sei einmal nötig, jetzt oder auf dem Totenbette: aber siehe, der gottlose Schächer findet sie auch da nicht einmal nötig, und auch unter uns, ob auch unter euch, ihr Kranken? sind solche, die in völliger Verblendung wähnen, als ob der Mensch dahin gehen könne, wie ein Geschöpf, das keine Seele habe, die vor dem Throne des Ewigen erscheinen müsse und gerichtet wird. Das ist der tiefste Grad der Verstockung, und euch, ihr Unglücklichen, kann gewiss nur das Erbarmen Gottes und die Liebe des Gekreuzigten vom ewigen Tod erwecken. In seine Hände legen wir euch. O, du Erbarmer, erbarme dich! erwecke diese vom Satan Gebundenen!

Gekreuzigte Liebe, erwecke diese vom Satan gebundenen.

Jene Zuversicht einer gewissen, wenn auch späten, Bekehrung stützt sich auf die Erfahrung, dass oft gerade bisher gottlos Lebende und Denkende in der letzten Stunde oder in den letzten Tagen ihres Lebens plötzlich aus ihrer Stumpfheit erwachen. Ein Blitz Gottes dringt in ihre Finsternis hinein, zerbricht die verschlossene Türe, und das Licht kann noch eindringen und die Stätte läutern und bereiten, dass der Herr in sie einzieht. Aber ist das die allgemeine Erfahrung? Nein, sondern eine seltene: ach nur selten hört man am Sterbebette der Gottlosen die Engel frohlocken über ihre Buße; nur selten vernimmt man die aufrichtige Klage des Sterbenden über seine Sünde, nur selten das tief erschütternde: „Gott sei mir gnädig in Christo!“; nur selten haucht der Geist Gottes über diese Wüste hin; nur selten schmilzt das harte Herz noch. Gewöhnlich, ja, hört ihr, die ihr bis heute noch nichts von Bekehrung wisst und in euerm sündigen, selbstgerechten, weltliebenden Wesen fortzugehen gedenkt hört das Wort der Erfahrung: Gewöhnlich bleibt auch die spätere Bekehrung aus, und der Sterbende geht an seinen Ort, über dem ein undurchdringliches Dunkel schwebt. Woher weißt du denn nun, dass du erfahren wirst, was Wenige erfahren, und nicht, was die meisten Unbekehrten, dass du gerade ein Beispiel von Gottes wunderbarem Erbarmen bist? Lege ab alle Lügen, alle Selbsttäuschungen hier am Kreuze - und zögere nicht, dich anbetend, Gnade flehend vor Christus niederzuwerfen!

Jene Zuversicht und Hoffnung stützt sich aber auch auf eine falsche Vorstellung von der rechten Bußfertigkeit und Bekehrung. Wie ein: Herr, Herr! rufen noch nicht der seligmachende Glaube ist, so ist auch ein bloßes: Herr Jesus! und Erbarme dich meiner! noch nicht das rechte Opfer, das Gott wohlgefällt. Eine Angst kann diesen Ruf hervorpressen, ohne dass die Seele dabei wahrhaft sich selbst richtend Gnade sucht, sondern nur Befreiung von dieser Angst. Erhört der Herr den Seufzer, nimmt er den Druck weg, so bleibt die Seele wie früher gottlos. Und auch auf dem Totenbette kann man heucheln und heuchlerisch und abergläubisch: Herr Jesu! rufen. Dies alles aber öffnet die Pforten des Himmels noch nicht, sondern nur die rechte Buße. Von ihr reden wir bei dem geretteten Schächer. Hier frage sich nur ein jeder der Versammelten: Gründet ihr jene Zuversicht auf solche selbstgemachte Vorstellungen von der Bekehrung? und wenn das ist so zittert, denn die Ahabs- und Judasbuße endet mit einem entsetzlichen: Ach, ich hin verloren! ewig verloren!

Jene Zuversicht auf eine späte, aber bestimmt eintretende Bekehrung gründet sich auch auf eine falsche Vorstellung von Gott, als ob Gott alsobald, wenn nur der Mensch sich stellt, als ob er sich zu ihm bekehre, sich-aufmache und ihn in Gnaden annehme; als ob Er stets bereit sei, auf den ersten Seufzer alles, was böse ist in uns, zu vergessen, ja, als ob er von vorne herein Alles übersehe und nicht ins strenge Gericht gehe. Aber Gott ist kein Eli, kein schwacher Vater: sondern ein barmherziger, aber auch ein heiliger. Er sucht dich, warnt dich, lockt dich, schenkt dir seinen Sohn: aber wenn du Alles unbeachtet lässt, so entzieht er dir seine Gnade; und spielst du in frechem Mutwillen, spottest du seiner, so wird dich das Schreckenswort treffen: deine Frist zur Gnade ist vorbei! - Ich will auch lachen in euerm Unfalle und euer spotten, spricht der Herr, wenn da kommt, was ihr fürchtet. Wenn über euch kommt, wie ein Sturm, das ihr fürchtet, und euer Unfall als ein Wetter; wenn über euch Angst und Not kommt: dann werden sie mich rufen, aber ich werde nicht antworten; sie werden mich frühe suchen, und nicht finden! Zittert davor, Gott euch anders zu denken, als er uns in der Bibel geoffenbart ist gerecht, ein Feind der Sünde, heilig und nur dem Demütigen barmherzig.

Jene Zuversicht auf eine späte, aber doch gewisse, Bekehrung stützt sich nun auch auf allerlei Vermutungen, dass ihr in eurer letzten Stunde noch im Geiste ganz besonnen seid, dass euch dann keine Versuchung von außen mehr berühre, dass euch Freunde oder ein Seelsorger noch ermahne und für euch bete. Aber, vielleicht drückt euch ja der leibliche Schmerz so, dass ihr nur an diesen denken müsst, von diesem gelähmt, nicht zu Gott aufschauen könnt; vielleicht seid ihr einsam, so dass euch Keiner mehr ermahnen, mit euch beten kann, so dass die menschliche Stimme euch nicht erreicht; vielleicht drängt sich gerade in der letzten Stunde noch alle Last und Lust dieser Erde, die Sorge und Lockung der Welt zusammen, so dass alle Leidenschaften erwachen, und ihr mitten in der Aufregung derselben sterbt; vielleicht könnt ihr bis zur letzten Minute die Hoffnung festhalten, dass ihr noch nicht sterbt, und darum nun auch das Bußetun immer weiter hinausschieben. Ach, lasst ab unter dem Kreuze auf Golgatha von aller Lüge und Täuschung über euer Sterben. Auch wenn ihr in der günstigsten Umgebung sterbt, doch ist die Macht der Gewohnheit eures Lebens und Denkens mächtiger, als alles Übrige, auch in der letzten Stunde. - Siehe jetzt auf den gottlosen Schächer. Er ist ans Kreuz geschlagen und kann nicht mehr auf dieses Leben hoffen; er weiß, dass er sterben muss; er ist nun in dieser letzten Stunde noch seines Geistes ganz mächtig, nicht ohnmächtig, nicht verwirrt ist er; er kann seine Augen aufschlagen und Jesum erblicken; er hört ihn beten für seine Feinde: Vater, vergib ihnen! Er hört ihn schweigen auf alle Lästerungen; er vernimmt sein sorgendes, liebendes Wort zu seiner Mutter und seinem Jünger; er sieht auf einmal seinen Sündengefährten sich zu Jesus bekennen; er schaut die Finsternis über das ganze Land, die verdunkelte Sonne; er hört das: mein Gott, mein Gott! und das: mich dürstet! und: es ist vollbracht! und: in deine Hände befehl ich meinen Geist! und er vernimmt das Zeugnis des Hauptmanns: wahrlich, dieser ist der Sohn Gottes! und sieht das Verstummen und an die Brust schlagen des Volkes und fühlt das Erbeben der Erde, hört das Zerreißen der Felsengräber und bleibt verstockt, bereut seine Lästerung nicht. So gewaltig ist seiner Seele Gewohnheit, ohne Gott zu denken! Er fährt dahin, ohne dass ihm der mit ihm Gekreuzigte zum Erlöser wurde, Darum predigt uns sein Beispiel ernst und laut: Schiebe deine Buße nicht auf, vertröste dich auf deine letzte Stunde nicht auch sie kann ungenutzt vorüber gehen, und dein Los ist ewig entschieden zu deinem Jammer. Teure, heute, am Tage der Kreuzigung, entschließt euch, den weiten, aber sicheren, Weg ins Paradies zu gehen, durch jetzt anfangende Trauer über die Sünde, durch ernstes Wandeln in Gottes Geboten, durch völliges Vertrauen auf Jesum, gänzliche Hingabe an Ihn, der sich für uns dahingegeben, durch Begrabenwerden in seinen Tod, durch Abtun des alten Menschen, durch Beten und Wachen!

II.

Aber es stirbt noch ein Schächer auf Golgatha, und anders. Hier sollen alle Schrecken, aber auch alle Tröstungen der göttlichen Offenbarung uns kund werden, hier, wo die Liebe Gottes sich als eine das Liebste für unser Hell hingebende Liebe offenbart. Hier, ihr Zerschlagenen und Geängstigten, sei es, dass ihr in der sechsten oder noch in einer früheren, oder schon in der elften und zwölften Stunde eures Lebens seid, hier richtet euch auf im Glauben: denn die Letzten werden die Ersten sein. Hier ist grade für euch Gnade, hier ist für euch, wie für alle Heil und Seligkeit verlangenden Sünder: die Pforte des Himmels! Wenn ihr nur wirklich zerschlagenen Herzens, nach Gott dürstend seid: so wird euch das Beispiel des zweiten Schächers das unnennbar freundliche Wort: „Es ist noch nicht zu spät! heute noch kannst du ins Himmelreich eingehen!“ zurufen. Aber wir wollen uns in den sterbenden, reuevollen Schächer hineindenken, um recht Buße tun zu lernen. Der Feuerbrand des Spottes und Lästerns war unter die rohe Menge hineingeworfen, er entzündete ringsum; auch den gottlosen Schächer erfasste er: „Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns,“ lästerte der Selbstsüchtling. Das weckte nun den unter der Asche des leiblichen Schmerzes und der gewohnten Ruchlosigkeit glimmenden Funken des bessern Geistes in dem Gefährten desselben. Er strafte ihn und sprach: und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist! - Ihr seht, das Kreuz, die Leiden, die er mit den andern trägt, haben ihn geläutert, nämlich das bewirkt, was sie bewirken sollen, ihn auf sein Herz aufmerksam gemacht, ihm seinen Seelenzustand gezeigt, ihm den Blick nach innen, zur Selbstprüfung geöffnet. Und siehe, die Selbstprüfung wirkte in ihm, was sie wirken soll, wenn ihr Ausgang Seligkeit sein wird, er richtet sich selbst, er erkennt seine Schuld, bekennt sie vor Gott und Menschen und ist niedergedrückt vom Gefühle derselben. O, ermattet nicht, in das hineinzublicken, was uns hier offenbart ist. Dieser Mann hat ja auch die brennenden Schmerzen der Kreuzigung, und diese sind doch noch geringer, noch milder als der brennende Schmerz seiner Sünde. Die Strafe, so entsetzlich sie ist, scheint ihm nicht ungerecht, sie regt ihn nicht zur Klage, zum Murren; er unterwirft sich der Hand des Richters, weil er wohl fühlt, wie sein Sold ewiges Gericht sei. Er bekennt: „Wir zwar sind billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind.“ Und diese Tiefe der Selbsterkenntnis öffnet nun sein Geistesauge, so dass er die Unschuld Jesu erkennt: „dieser aber hat nichts Böses gehandelt“. Er glaubt an den, welchen Volk und Oberste kreuzigen und lästern, welchen Gott nicht erlöst vom Kreuze, und in der Stunde, wo selbst die eigenen Jünger an ihrem Meister irre werden. Er hat nun seine Schuld erkannt und bekannt, das Schwert der Buße hat ihm Geist und Fleisch geschieden - der Blick von sich ab auf den sterbenden Erlöser stärkt ihn, und er wagt, o seht, er wagt, um Gnade zu flehen: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Er vernimmt den Ruf der Begnadigung: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ Er ist ein Geretteter, ein ewig Erlöster! Ja allerdings wie ein Feuerbrand noch zur letzten Stunde gerettet. Wenn nun auch dieser Mann vielleicht früher viel von Christus gehört hat, so habt ihr doch noch mehr von ihm vernommen; wenn er nun auch durch lange Gefangenschaft schon erweicht wurde, so hat der Herr doch auch an eurer Seele schon durch Leiden gearbeitet; wir wollen also nicht allerlei Vermutungen Raum lassen, durch welche etwa bewiesen werden könnte, dass schon vor den Stunden am Kreuze die vorbereitende Gnade Gottes diesen Schächer gesucht habe; nein, wir wollen uns so recht innigst erquicken daran, dass in diesen wenigen Stunden diese Seele zum Eingehen ins Himmelreich bereitet wurde. O, darum strengt die lässigen Hände und die müden Knie wieder an! - Sprecht nur nicht: Es ist immer noch Zeit, ich will noch aufschieben! denn der lädt das Gericht der Verstockung auf sich; aber denkt auch nicht, ihr Gedrückten und Trauernden: es ist nicht mehr Zeit! Jesus liebt nicht nur seine Freunde, er betet nicht nur für seine Feinde, sondern liebt auch die, welche zwischen beiden sind, die reuigen Sünder, welche ihre Schuld erkennen, deren Größe empfinden, und, niedergedrückt durch dieselbe, nicht beachten, dass die Strafe ihrer Sünde auf ihnen liegt, und, so schwer sie ist, nicht zu schwer sie finden, jenes: Ja Herr! wie du willst! der gedemütigten Seele sprechen; - er liebt diejenigen, welche sich selbst zu unwürdig, zu unrein wissen, um vor ihrem Herrn und Gott bestehen zu können; diesen hilft er mit einem Blicke, diese stärkt er mit einem Worte; diesen, den Demütigsten gibt er Kraft, um Gnade zu flehen, und Mut, zu tun, was der Stolze nicht wagen darf, mit ihm, mit Gott zu reden und noch zu hoffen! - diesen verheißt er, dass sie noch heute in sein Reich eingehen werden; ob nun noch in diesem Leben, oder erst im jenseitigen: wo immer eine Seele ist, die die Last der Sünde mehr als die des Leidens fühlt, die mit aufrichtiger Zerknirschung in sich nichts mehr findet, worauf sie vertrauen könnte, sondern bekennt: „was wir empfangen, dessen sind unsere Taten wert“, die stärke sich, aufzuschauen auf Jesum und den, und nur noch den Gnade flehenden Seufzer zu tun: Herr, gedenke an mich! - Keiner ist zu unrein, dass er nicht noch bei Jesu Vergebung erhielte, auch in der letzten Stunde, wenn er dann sie aufrichtig noch suchen kann und sucht. Lernt hier, euch demütigen, wo der Schächer euch beschämt, der den als den König erkennt, der mit ihm gekreuzigt ist, den wir als den Auferstandenen und den Seligmacher vieler Tausende in seiner Kirche kennen, lernt von den Geretteten bitten: Herr, gedenke mein! -

III.

Aber noch stirbt ein Dritter auf Golgatha. Es ist die sechste Stunde vom Morgen an. Die Sonne verdunkelt sich, das ganze Land bedeckt dichte Finsternis Alles in der Natur schweigt, selbst die Lästerzungen schweigen; eine düstere Stille herrscht drei Stunden lang, der Atem wird gehört, das Klopfen des Herzens, und nur viermal wird das Stillschweigen unterbrochen das erstemal, da Jesus rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! das zweitemal bei dem Ruf: Mich dürstet! das drittemal, als der Siegesgesang des Dulders anfing: es ist vollbracht! und zuletzt, als er endlich laut aufschrie und sprach: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! und dann das Haupt neigte und dann verschied. - O, dass der Geist Gottes uns anhauchte und uns stille machte, dass wir dieses Abscheiden ungestört von innen und außen mit ansehen könnten! Wenn ein Mensch in den letzten Zügen liegt, so schweigt Alles in dem Sterbehaus, und es ruht alles Treiben und Jagen. Hier stirbt aber ja der Menschensohn, der Erlöser. O, darum sollte auch in dem großen Hause seiner Welt, seiner Kirche jedes Herz schweigen vom Unheiligen, was uns bewegt, damit wir den Verscheidenden ruhig, mit Tränen, aber friedlich, betrachten könnten. Er stirbt ja um unsertwillen, aber freut euch, nicht mit Jubel, der an Ostern Raum findet, sondern mit Stille und Gebet und Wehmut und Liebe; er ist für uns gestorben. Sein Werk ist vollbracht; wir sind erlöst! - Wenn ein Reicher an Schmerz und Leid unter den Menschen die Augen zum letzten Mal zudrückt, so sprechen die Seinigen: Gottlob, er hat ausgelitten! Aber hier, beim größten Dulder, beim Kreuzesreichsten entwindet sich unsern gepressten Herzen ein anderes, ein seligeres: Gottlob! er hat überwunden! denn siehe, auch die Verlassenheit von Gott, die letzte, heißeste Versuchung hat ihn nicht überwältigt - er ist ohne Sünde! Gerechte! Er ist unser Bürge, unsere Gerechtigkeit! Er wurde nun verherrlicht und vollendet und übergab seinen Geist dem Vater! Der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Stücke, von oben an bis unten. Er war ein Schatten des Zukünftigen. Einst war der Zugang zu Gott im Allerheiligsten nur einmal jährlich und nur dem Hohenpriester offen, aber jetzt ist der Vorhang zerrissen, die Pforte des Himmels ist offen, der Eingang in das Heilige ist keinem, der an das Blut Jesu glaubt, verschlossen. Durch den wahren Hohenpriester haben wir freien Zutritt zum Vater - die Scheidewand zwischen Himmel und Erde, Gott und Sündern ist niedergerissen. Unser Herz ist nun der Tempel, wo durch Christi Tod Gott kann angebetet werden. Hüten wir uns nur, von neuem durch Sünde und Unglauben eine neue Scheidewand aufzurichten, so dürfen wir zu dem, der eingegangen ist zu seinem Vater, um uns die Wohnstätten zu bereiten, zuversichtlich bitten: Herr Jesu, in deine Hände befehl ich meinen Geist!

Amen.

1)
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