Palmer, Christian David Friedrich - Predigt am Neujahrsfeste

Palmer, Christian David Friedrich - Predigt am Neujahrsfeste

von Diaconus Palmer in Marbach.

Ein neuangetretenes Jahr ist wie ein neugeborenes Kind. Vater und Mutter mögen dem jungen, mit Wonne bewillkommten Erdengaste noch so aufmerksam in das frische, zarte Angesicht schauen, das können sie doch aus demselben nicht herauslesen, was aus dem Kindlein werden will, ob sein Lebenspfad ein langer oder kurzer, ein freuden- oder schmerzenvoller seyn werde. Derjenige Sohn, welcher als Jüngling und Mann seines Vaters Stolz und Ehre ist, hat als Säugling kein anderes Aussehen gehabt, noch sich anders geberdet, als der, auf dessen innerem oder äußerem Leben, solang es dauert, ein Druck lastet. So tritt auch in die große Kette der Zeiten ein Jahr ein, wie das andere; wenn die Glocke vom Thurm herab die Mitternachtsstunde verkündet, so wirst du vergebens lauschen, aus ihrem ernsten Klange zu erhorchen, was wohl das alte Jahr dem neuen aus den Weg mitgebe, Segen oder Fluch; kein Zeichen wird dir gegeben, woraus du die Zukunft dir deuten könntest; der neue, schweigsame Ankömmling, ob ihn die Welt auch mit lautem Jubel begrüßt, und ob er auch zum Worte kommen könnte vor ihrem Lärm, läßt sich dennoch keines der Geheimnisse ablocken, die er in seinem Schooße trägt. - Aber was thun christliche Eltern, damit sie eine Gewähr und Bürgschaft dafür erlangen, daß das Kind stets in der Gnadenhand dessen bleibe, der, ob er ihm auch Noth und Drangsal nicht ersparen will, es dennoch als ein guter Hirte auf ebener Bahn leiten kann? Sie bringen es zur Taufe. Gleichermaßen bringen auch wir das neue Jahr an seinem ersten Morgen zu seiner Taufe, denn wir heiligen es im Hause Gottes durch Gebet und Wort Gottes; seinen ersten Tag machen wir zu einem Festtag, auf daß es, wiewohl auf Erden geboren, doch eine bleibende Weihe vom Himmel her empfange. - Wie aber ferner die Taufe eines Kindes das Bad seiner Wiedergeburt ist, wodurch der natürlich geborene Mensch ein neuer, geistlicher Mensch wird: so würden wir fürwahr keine Ursache haben, den ersten Tag eines neuen Jahres in versammelter Gemeinde so festlich zu begehen, hätten wir dabei nichts Wichtigeres zu bedenken, als daß von heute an eine neue Jahreszahl zu schreiben und ein neuer Kalender an die Wand zu hängen sey: sondern das ist die Meinung, daß es eine wahrhaft Neue Zeit werden solle, darin es heiße: „das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu geworden“ (2 Kor. 5, 17.). Mit diesem Neuwerden ist es aber nicht so gemeint, als ob heute durch all unser Denken, Reden und Thun gleichsam ein Schnitt gemacht werden müßte, und von allem Bisherigen fernerhin keine Spur mehr bei uns zu finden seyn dürfte. Denn nicht alles, was wir bisher erfahren, in Besitz gehabt, geredet und gethan haben, ist alt, und nicht alles, was von nun an etwa geschehen könnte, ohne daß es jemals früher geschehen wäre, ist neu. Sondern alt ist Alles, was dem natürlichen, durch Sünde verderbten Leben angehört; neu aber, und immer neu ist Christus und Sein Heil; soll also eine wahrhaft neue Zeit beginnen, so muß gerade Er derselbe bleiben, und nur daran liegt's, daß er uns neu werde und bleibe. So schließen wir denn Alles, was dieser Tag uns an das Herz legt, in das Eine ein: daß Euch jetzt und immerdar Christus neu werde.

Dies mögt Ihr denn als meinen Wunsch in Liebe hinnehmen. Es kann aber von der Kanzel herab der Gemeinde kein Wunsch dargebracht werden, der nicht entweder eine Ermahnung, oder eine Verheißung, oder, noch besser. Beides zugleich wäre. Nun aber, wenn ich Euch demgemäß ermahne, daß Ihr Euch Christum immer neu werden lasset, so sage ich damit nichts Anderes, als: ich ermahne Euch, daß Ihr niemals aufhöret, Euch Christi bedürftig zu fühlen.

Ihr wisset es ja selbst, daß Einem nur dasjenige täglich neu ist, dessen man täglich bedarf; diese Bedürftigkeit aber werdet Ihr erkennen, wenn. Ihr die Namen betrachtet, die unsere Abendlection dem Erlöser beilegt: Wunderbar, Rath, Kraft, Held, Ewigvater, Friedefürst. Heißet er also, so ist er der Rechte, den wir brauchen. Allein wenn wir seiner auch bedürfen, sind wir mich dessen gewiß, daß er unsern Bedürfnisse willig entgegenkomme? Ja; denn auf der thatsächlichen Wahrheit, daß Er, ein Kind, uns geboren; daß Er, der Sohn, uns gegeben ist, und daß seine Herrschaft ist auf seiner Schulter, ruhet die Verheißung, die als ein Zweites Euch gegeben wird:

daß Christus niemals aufhören werde, Euch das zu seyn, was Ihr bedürfet.

Herr! gib an Deinem kostbaren Heil
Uns alle Tage vollkommenen Theil,
Und laß unsre Seele sich immer schicken
Aus Noth und Liebe nach Dir zu blicken Ohn' Unterlaß.

Und wenn wir weinen, so tröst' uns bald
Mit Deiner Friedens- und Siegesgestalt; Laß Dein Bild uns immer vor Augen schweben, Und Dein wahrhaftiges In-uns-leben
Zu sehen seyn.

So werden wir bis in Himmel hinein
In Dir vergnügt, wie die Kinder seyn.
Muß man gleich die Wangen noch manchmal netzen,
Wenn sich das Herz nur an Dir ergötzen
Und stillen kann!

Du reichst uns Deine durchgrabne Hand,
Die so viel Treue an uns gewandt,
Daß wir beim Gedächtniß beschämt dastehen,
Und unser Auge muß übergehen
Von Lob und Dank.

Amen.

I.

Merkwürdig ist es, liebe Freunde, daß unser Text unter den Namen des Sohnes Gottes, in welchen wir das erkennen sollen, was wir bedürfen, gerade einen solchen voranstellt, der am wenigsten etwas uns Unentbehrliches auszudrücken scheint. Wunderbar, so heißt dieser Name. Wunderbar, wozu das? Wunderbar zu seyn, Wunderbares zu leisten, dessen hat, wie man etwa denken mag, Jesus selbst, für Seine Person und Seine Zwecke vielleicht bedurft, um nämlich Sich vor den Menschen, wenigstens vor dem rohen, wundersüchtigen Judenvolke zu beglaubigen. Allein die Menschheit hat ja längst die Kinderschuhe vertreten; an jedem Jahresende gibt es wieder Riesenschritte anzustaunen, die der menschliche Verstand binnen Jahresfrist gethan hat; und so hätte der Erlöser in unsern Tagen keiner Wunderkraft mehr bedurft, um Seine Pläne zur Ausführung zu bringen; das Wunderbare wäre, so meint man, zu unsrer Zeit gar nicht mehr am rechten Platze. Noch viel weniger aber, als Er selbst, seyen wir des Wunderbaren bedürftig. Es ist ja, sagt man, Alles um uns her gar hübsch eingerichtet; die Welt geht ganz ordentlich ihres Weges; und wenn auch ein Volk oder ein einzelnes Menschenkind dann und wann etwas ungeschickt oder boshaft in den Lauf der Dinge eingreift, so bedarf man darum noch keineswegs des Wunderbaren; man hat uns ja längst belehrt, wie wir uns auf einen höheren Standpunkt stellen können, von wo aus zu erkennen ist, daß sich alle Unebenheiten des Einzelnen im Allgemeinen ausgleichen. Nein, wir sind der Wunder nicht mehr benöthigt; es geht ohne dieselben ganz leidlich in der Welt zu.

Wie doch die Menschen sich so genügsam, so zufrieden stellen können! Ist das nicht selbst ein Wunder? Sonst lernen wir sie wahrlich nicht eben, vorzugsweise von dieser tugendhaften Seite kennen; über was klagt man denn mehr in Rede und Schrift, als darüber, daß Alles so ist, wie es ist? Alles hätten unsre Wortführer gerne anders; die Fürsten sollten anders regieren, die Völker viel selbständiger sich entwickeln; Wissenschaft und Kunst, Volks- und Jugendbildung, Handel und Landwirthschaft einen viel kräftigeren Aufschwung nehmen. Wir wollen mm den Fall setzen, es würde eines schönen Morgens allen diesen Beschwerden ihre Erledigung, allen möglichen Wünschen ihre Erfüllung angekündigt: wären wohl die Wünschenden für immer zufrieden gestellt? O glaubet das nicht! Auch der möglichst vollkommene Weltzustand würde die Unzufriedenheit, das Klagen und Wünschen nicht aufheben; wir brauchen eben keine Prophetengabe zu besitzen, um weissagen zu können, daß das fortgehen wird, so lange die Welt steht. Diese Unzufriedenheit aber, wenn wir, erleuchtet durch das göttliche Wort, ihr tiefer auf den Grund blicken, ist sie nicht ein klarer Beweis, daß, wenn die Menschheit zum Frieden, zur vollen Genüge gelangen soll, hiezu Etwas nöthig ist, das über der Welt steht? daß also die Menschheit eines Wunderbaren bedürftig ist? Nur darum findet sie, es mögen die Weltzustände eine noch so hohe Entwicklungsstufe erreichen, doch in denselben keine Ruhe, keinen Frieden, weil es eben Weltzustände sind, durch und durch von der Weltsünde angesteckt und verderbt; mag man daran ausbessern und künsteln, so viel man will, der Grundfehler, die Sünde, wird dadurch nicht gehoben; die Welt bleibt mit all' ihrer Bildung eben Welt. Nur was über ihr steht, was heilig und ewig ist, vermag dem Sehnen des Geistes Genüge zu leisten; das aber, was über der Welt steht, ist ein Wunderbares.

Wir aber, lieben Freunde! die wir von vorn herein die Welt als Welt kennen, haben nicht einmal nöthig, erst auf diesem weiten Umwege zu jener Erkenntniß zu kommen. Wir blicken hinein in die Tiefe des eigenen Innern, und hören auf die schmerzliche Stimme, die da ruft: „O ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Wir schauen auch hin auf die vergeblichen Versuche der Menschen, sich selbst zu erlösen, sich zu versöhnen mit Gott durch Opfer und Fasten, durch Büßung und eigene Gerechtigkeit; und durch dieß Alles wird es uns klar: so nicht ein Wunder geschieht, so ist uns nicht zu helfen. Doch es ist uns geholfen, das Wunder ist geschehen; denn Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber. Ja, wir wissen es aus eigener, seliger Erfahrung, daß an uns selbst das Wunderbare geschehen ist; denn uns, die wir todt waren in Sünden, hat Gott sammt Christo auferwecket und lebendig gemacht, und hat uns sammt Christo ins himmlische Wesen versetzet (Eph. 2, 5. 6). Einmal ist das Wunder der Wiedergeburt des Menschengeschlechtes durch die Menschwerdung, den Tod und die Auferstehung Christi geschehen; aber nicht so, daß wir nun fernerhin dessen, durch welchen und in welchem es geschah, nicht mehr bedurften. Wie das leibliche Leben sein Element haben muß, worin es bestehen kann, so bedarf das geistliche Leben fortwährend der Gemeinschaft dessen, sammt dem wir ins himmlische Wesen versetzt worden sind; denn nicht einzelne Thatsachen nur, sondern Er selbst ist das Wunderbare, in welchem wir allein finden, was uns gebricht; Er selbst ist die wunderbare Speise, die uns fortwährend gereicht werden muß, wenn wir nicht verderben sollen; Er selbst ist jenes wunderbare Licht, zu dem wir berufen sind (l. Petr. 2, 9.) und das, wie das Sonnenlicht, täglich neu über uns aufgehen muß, wenn wir nicht immer wieder in die alte Finsterniß zurücksinken sollen. - Und endlich, was sollen wir sagen von dem Ziele, auf das eines Christen Hoffnung gerichtet ist? Der, welcher uns durchhelfen soll durch die Schauernacht des Todes, welcher die matte, geängstigte Seele erretten soll in ihrer tiefsten Noth, der die müden Glieder zu neuem, verklärtem Leben erwecken soll, muß Er nicht ein Wunderbarer seyn? Der, welcher wiederkommen soll in den Wolken des Himmels, um das Alte zu vernichten und einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen, ein Canaan aufzuthun für die, welche nach der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes sich sehnen, muß Er nicht ein Wunderbarer seyn? Muß der, welcher alle Noth und alle Aergernisse, ja selbst den letzten Feind, den Tod, aufheben soll, nicht derselbe seyn, der da auferstanden ist, ein Erstling derer, die da schlafen, und der schon in den Tagen Seines Fleisches durch Thaten göttlicher Wundermacht an denen, die unter den Leiden der alten Welt seufzten, Seinen künftigen Beruf, eine neue, selige Welt zu schaffen, an den Tag gelegt hat? So sehet denn, wie sehr Ihr im Leben und Sterben dessen benöthigt seyd, der da heißet: Wunderbar!

Neben diesem hohen und volltönenden Namen steht gar bescheiden und anspruchslos ein zweiter: Er heißet Rath. - Rath ertheilen, das kann auch der Mensch dem Menschen; war's dazu erst nöthig, daß ein Gottessohn den Himmel zerriß und herabfuhr (Jes. 64, 1.) auf Erden? „Ach daß Hülfe, Hülfe käme aus Zion, und der Herr Sein gefangen Volk erlösete!“ so lautet der Ruf der Sehnsucht; Hülfe will die Menschheit; gerathen haben ihr Viele, aber helfen konnten sie ihr nicht! Wohl, lieben Freunde, Rath ohne Hülfe hätte uns nicht erretten können; aber die wunderbarste Hülfe ohne Rath wäre wiederum nur ein halbes Werk. Sehen wir näher zu. Ihr wisset, daß die Schrift von einem neuen Gebote redet, das der Herr gegeben habe. Nicht so, daß wir abermals durch Werke des Gesetzes uns die Seligkeit erst erwerben müßten; wornach der Unterschied zwischen dem alten und neuen Bunde nur darin bestünde, daß wir im neuen den heiligen Berg (Ps. 15, 1.), nur an einer etwas weniger steilen Seite zu erklimmen hätten, als im alten, der Berg selbst aber derselbe bliebe und seine Höhe dieselbe. Sondern dieses ist das neutestamentliche Gebot: daß wir sollen den Herrn Jesum Christ annehmen, welches geschieht durch den Glauben, und daß wir Ihn sollen behalten, Seine Gemeinschaft bewahren, welches geschieht durch die Liebe. Dieses Gebot aber hat das Eigenthümliche, daß es nicht mit Zwang und Strafdrohung dem Menschen aufgelegt wird, sondern daß es mild und freundlich ihm den Weg weiset, der zum Leben führt, ihm selbst die Einsicht zutrauend (vgl. Joh. 15, 15.), daß er so allein das rechte Ziel erlange, und dem eigenen, durch Gottes Kraft neugeborenen und in Gott freien Willen die Befolgung überlassend. Ein solches Gebot aber und von dieser Seite angesehen, ist es nicht vielmehr ein Rath, als ein Gebot? Weiter aber ist dieser Rath nicht, wie das alttestamentliche Gebot, in tausenderlei auseinanderfallende, obwohl durch Eine große Kreislinie umspannte Einzelheiten zertheilt, welche allesammt auch nur im Gedächtnisse zu behalten, den Menschen Mühe und Anstrengung kostet; sondern er ist nur Einer, daß wir, wie gesagt, Christi theilhaftig werden und bleiben durch Glauben und Liebe. Gleichwohl ist das wirkliche, tägliche Leben auf Erden, in welchem und an welchem jenes Gebot zum Vollzuge kommen soll, tausendfach gespalten in allerlei Verhältnisse und Vorkommenheiten; und wie nun in jedem einzelnen Fall, in jedem einzelnen Verhältniß jener Eine Rath zu befolgen sey, wie sich jenes Eine und Allgemeine immer und jedesmal zum Einzelnen verhalte und auf dasselbe anzuwenden sey, - dessen gewiß zu werden, bedürfen wir jener christlichen Weisheit, ohne deren Besitz wir jeden Augenblick in Gefahr geriethen, zu verlieren, was wir durch Gottes Gnade erhalten haben, weil wir nicht im Stande wären, zu prüfen und zu erkennen, welches da sey der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille (Röm. 12, 2.). Von der rechten Weisheit schreibt Jacobus (3, 17.), daß sie „ihr sagen lasse;“ um sich aber sagen lassen zu können, muß einer da seyn, der ihr sagt, was sich gebühre zu thun: das aber vermag nur der zu thun, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit (l. Kor. 1, 30.); der allein, der die Bahn gebrochen hat, kann uns auch auf jede mögliche Abweichung, auf jede Krümmung so aufmerksam machen, daß wir an Seiner Hand lernen, gewisse Tritte zu thun mit unsern Füßen (Hebr. 12, 13.). So bedürfen wir dessen, der da Wunderbar heißet, fortwährend auch als dessen, der unser Rath seyn muß. - O daß nicht, noch immerfort auf den Lebenswegen derer, die sich doch Christen nennen, und Den kennen sollten, ohne den wir nichts thun können, die harte Rede des Apostels eine so vielfältige Bestätigung fände: „da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden!“ (Röm. 1, 22.)

Kraft heißet Er ferner. „Denen, die berufen sind,“ sagt Paulus (1. Kor. 1, 24.), „predigen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit.“ Das ist ein Trost für das arme Menschenkind, das da weiß, daß es nicht tüchtig ist von ihm selber, etwas zu denken, als von ihm selber (2. Kor. 3, 5.), sondern, wenn es etwas leisten will, nur von oben dazu tüchtig gemacht werden kann; ein Trost ist es, zu wissen, daß ein solcher für uns da ist, der da Kraft heißet. Das eben bringt die eigenthümliche Mischung von Demuth und Hoheit in dem Wesen des Christen hervor, daß er ebensosehr die eigene, grenzenlose Schwachheit kennt und fortwährend, ja oft recht schmerzlich dieselbe erfahren muß, als er hinwiederum Kräfte der zukünftigen Welt (Hebr. 6, 5.) in sich fühlt; das ist jenes Beisammenseyn von Schwachheit und Kraft, wovon der Apostel redet, wenn er (2. Kor. 4, 7-10.) sagt: „Wir haben aber solchen Schatz in irdischen Gefässen, auf daß die überschwängliche Kraft sey Gottes und nicht von uns. Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um; und tragen um allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unsrem Leibe, auf daß auch das Leben des Herrn Jesu an unsrem Leibe offenbar werde.“ Es ist gar gut und heilsam, daß uns niemals vergönnt wird, uns der göttlichen Kraft in dem Maaße bewußt zu werden, daß das Gefühl unsrer Schwachheit davon ganz verschlungen würde; denn dieses allein erhält uns stets bei dem klaren Bewußtseyn, wie sehr wir Christi bedürfen, und macht uns Seine Kraft immer wieder neu und theuer. Ein Paulus ward wohl auch durch die göttliche Kraft, die in ihm war, emporgehoben und entzückt bis in den dritten Himmel (2. Kor. 12.); aber, auf daß er sich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ward ihm der Pfahl ins Fleisch gegeben, und er mußte sich an Gottes Gnade genügen lassen, weil in den Schwachen Gottes Kraft mächtig seyn will (vgl. auch 13, 3. 4.). Freilich liegen gerade in dieser Hinsicht dem Menschen zwei schlimme Abwege gar nahe. Der eine ist der, wo der Mensch dieser Schwachheit vergißt, bethört durch den Schimmer seiner Thaten und Reden, dazu auch durch die Vergötterung, die die Menschen - Untergebene, Anverwandte, Freunde, Zuhörer - mit ihm treiben. Aber die Kraftmenschen, wie man sie nennt, wie sind sie oft so unglaublich schwach, wenn etwa ihre Eitelkeit oder irgend eine andere Lieblingsneigung ins Spiel kommt! Andere hingegen haben dessen gar keinen Hehl, daß sie schwach seyen, denn sie meinen, das sey nun einmal nicht anders zu machen; unter das eine Wort Schwachheit wollen sie alle Sünden und Laster entschuldigend bergen, ohne zu bedenken, daß sie stark seyn sollten, das Böse zu überwinden (vgl. Eph. 6,10.) Der Christ aber weiß ebensogut dieses, als er weiß, wie schwach er ist; darum muß er Einen haben, der ihn stark macht; er hat es mit dem Fürsten der Finsterniß, mit der argen Welt und mit dem eigenen Fleische zu thun, darum bedarf er Einen, der ihm das Schwert in die Hand gibt und den Arm kräftigt, um im Kampfe, in der Versuchung nicht zu unterliegen; er hat zu dulden unter dem mannigfachen Elende der Erde, unter Leibes- und Seelennoth, darum bedarf er dessen, der selbst schwach worden ist, gezittert und gezaget hat, auf daß Er uns eine Quelle der Kraft würde, und wir sagen könnten mit Paulus: „Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht, durch Christum“ (Phil. 4, 13.),

Er heißet Held. So nennen Ihn ferner unsre Textworte. Ein Held ist ein Solcher, der nicht allein Kraft in sich fühlt, jedem Feinde die Spitze zu bieten, sondern der sich nun auch in dieser Seiner Kraft aus der Masse des Volkes erhebt, um sein Führer zu Kampf und Sieg zu seyn, dessen Muth und Tapferkeit der Mittelpunkt, der Sammelplatz für den Muth und die Tapferkeit aller Uebrigen ist, um den sie sich schaaren, wohl wissend, daß, so lange der Held unter ihnen sey, auch der Sieg an ihre Schwerter sich hefte. So hat es in Israel eine Zeit gegeben, da, sobald ein Feind sich erhob, der Herr einen Helden erweckte, der vor dem Volk herzog; jene Zeit, da ein Gideon den Gruß des Engels empfieng: „der Herr mit dir, du streitbarer Held“ (Richt, 6, 12.)! Ist wohl für das neutestamentliche Volk Gottes die Zeit vorüber, die einen Helden erheischte? Sind die Midianiter und Amalekiter, die einst Israel so viel zu schaffen machten, alle ausgestorben auf Erden? Ist kein Philister mehr da, der Hohn spricht dem Zeuge Israels (1. Sam. 17, 10.)? Blicket nur einen Augenblick auf das letztverflossene Jahr zurück. Mehr, als es seit langer Zeit geschehen war, erhob sich auch in unsrer Nähe wieder Kriegsgeschrei, wir meinten schon die Waffen klirren und die Geschütze donnern zu hören; und, als vor Kurzem das leichtfertige Volk jenseits des Rheines Anstalt machte, seinen todten Abgott in die Hauptstadt hereinzuschaffen, da trugen viele, viele Gemüther Sorge, auch aus den erstarrten Händen des Gefürchteten möchte ein Feuerbrand fahren auf die des Friedens gewohnte Welt. Und ist nicht die Saat der Zwietracht längst ausgesäet unter den Völkern, so daß man keinen Augenblick sicher ist, sie dicht und schrecklich aufgehen zu sehen? Darum thut ein Held uns Noth, der sich nicht zu fürchten hat, wenn auch abermals die Heiden toben und die Herren mit einander rathschlagen; der Held thut uns Noth, von dem es heißt: „der im Himmel wohnet, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer“ (Ps. 2, l - 4.). Man liest und spricht so viel von der Einheit einer Nation als dem Einzigen, was sie schützen und retten könne; ja, ihr Fürsten und Völker! seyd vor Allem darin Eins, daß Ihr vor dem König aller Könige, dem Herrn aller Herren, Euch beuget in Demuth und Gehorsam, in Glauben und Liebe, damit Er vor Euch herziehe, und abermals sich beweise als der Löwe aus Juda, der da überwindet; dann allein wird der rechte Muth, die rechte Kampfes- und Siegesfreudigkeit Euch erfüllen; „mit Gott werdet Ihr Thaten thun“ (Ps. 60, 14.)! - Doch nicht da allein, wo Schwert und Lanze den Ausschlag geben, bedürfen wir des Helden, sondern noch weit mehr auf dem Schlachtfelde, wo scheinbar nur Worte gewechselt werden, und wo es dennoch einen Kampf gilt auf Leben und Tod. Es will ja der Erbfeind der Menschheit nicht ruhen, er habe denn das Evangelium, diese göttliche Thorheit (1. Kor. 1, 25.) zu nichte gemacht. Kann er durch Gewalt es nicht unterdrücken, so versucht er um so geschäftiger das Fundament zu untergraben, darauf die Kirche ruht; sucht in den Herzen der Menschen die Wurzeln zu zerfressen, die der Glaube an einen lebendigen Gott, der Glaube an einen lebendigen Erlöser allda geschlagen hat. Wohl erhebt sich da und dort ein Kämpfer für das alte Evangelium, mit der Gabe und Kraft, die ihm verliehen ist; wir drücken ihnen die Hand und heißen sie willkommen; aber - mit unsrer Macht ist Nichts gethan, wir sind gar bald verloren; es streit' für uns der rechte Mann, den Gott selbst hat erkoren (Ps. 124, 1-5.)!

Ewig-Vater, so lautet der fünfte Name. Ein Sohn ist Er, uns doch ewig Vater? Selten allerdings, lieben Freunde, legt Ihm die Schrift den Vaternamen bei. Er selbst nannte in den Tagen Seines Fleisches Seine Junger fast nur in den Augenblicken Kinder, da der bevorstehende Abschied Seine Seele mit Wehmuth erfüllte, Ihn mehr denn sonst weich machte; und die Jünger nennen ihn niemals Vater, sondern Meister und Herr. Dennoch liegt in jenem Namen tiefe Wahrheit. Sagt uns nicht das Evangelium: in Ihm, dem Worte, das im Anfang war, sey das Leben, und das Leben sey das Licht der Menschen? Wenn in Ihm das Leben, das ewige Leben ist, wie kann dann aus einem Kinde des Todes ein Kind des Lebens werden, ohne Ihn zum Vater zu haben, ohne aus dieser Quelle des Lebens zu schöpfen? Nur wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn nicht hat, der hat auch das Leben nicht (1. Joh. 5,12.). Ewig-Vater heißt er. Menschliche Väter sind das nicht; entweder müssen sie ihren Kindern, oder müssen die Kinder ihnen ins Grab nachsehen. Auch das festeste Band der Liebe, das zwischen Vater und Kind, - über kurz oder lang reißt es ab. sey es oben, sey es unten. Ewig-Vater aber ist der, der zwar todt war, aber lebendig ist von Ewigkeit zu Ewigkeit und die Schlüssel der Hölle und des Todes hat (Offb. l, 18.); der die Seinen in Ewigkeit nie Waisen werden läßt (Joh. 14, 18.), und der selbst hinwiederum niemals ohne Kinder ist, dem vielmehr, wie die Schrift sagt, Kinder geboren werden, wie der Thau aus der Morgenröthe (Ps. 110, 3.). Ein solcher aber ist uns Noth. Die alte Klage über die jämmerliche Vergänglichkeit alles Irdischen hat im Munde eines Christen nur dann einen Sinn und Zweck, wenn in ihr das Bedürfniß sich kund thut, Einen zu wissen und zu haben, der da bleibet, der gestern und heute und derselbe ist in Ewigkeit, und, zu dem das Menschenherz sprechen kann: „Herr, wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“ (Ps. 73,25.)! Wie der Tod immer neue Wunden schlägt, und es weder in Bezug auf das Scheiden derer, die wir lieben, noch auf unser eigenes Sterben ein erleichterndes Gewöhntwerden geben kann, so bedürfen wir eines Herrn, der auch immer neu und frisch, eine Quelle des Lebens für uns ist; eines Solchen, der sagen kann: ich bin die Auferstehung und das Leben; bei dem also Auferstehung und Leben weder blos Vergangenheit noch blos Zukunft sind, sondern ewige Gegenwart. Und wiederum, wenn der Herr, so lange es auf Erden noch an Seiner Kirche zu bauen gibt, aufhören, wollte, Vater neugeborener Kinder (vgl. 1 Petr. 1, 23. 2, 2.), zu seyn, das heißt, die wiedergebärende Kraft Seines Geistes wirken zu lassen: welch' eine traurige Wildniß würde alsbald diese Erde werden! Wie würde mit dem geistlichen auch das leibliche Leben verderben; wie müßte auch die äussere Ordnung und das äussere Wohlseyn zu Grunde gehen! Wie eine weite, gesegnete Länderstrecke alsbald zur Einöde würde, wenn eines Tages der Strom, der sie bewässert, versiegen gienge: also auch ergienge es der Menschheit, wenn der sie erneuernde, sie heiligende Lebensstrom, der ans Christo quillet, versiegen gienge - d.h. wenn er nicht ewig Vater wäre.

Hat die Reihe der Namen unsers Herrn mit einem hochtönenden, Majestät verkündenden begonnen, so schließt sie nun mit einem gar lieblichen und herzgewinnenden. Friedefürst lautet der Name. - Wohl ist es eines der größten Güter, wenn ein Volk unter einem Fürsten steht, der nicht in eitler Ruhmbegierde oder in roher Eroberungssucht das Blut seiner Unterthanen verspritzt, dem es vielmehr darum zu thun ist, Frieden zu haben in Stadt und Land; und es ziemt sich, beim Schlusse eines jeden Jahres, das in Frieden dahinging, auch für dies Gut dem Allmächtigen inbrünstig zu danken. Aber auch der gütigste, wohlmeinendste Fürst, kann er immer ein Friedefürst seyn? Kann er sich der Gewalt eines Weltumschwunges, der Wucht einer allgemeinen Völkerbewegung entgegenstemmen? Ach nein! wer Frieden haben will, muß von den irdischen Thronen, auch von denen, deren Fuß nicht in vergossenem Blute, sondern im Frieden wurzelt, noch höher hinaufsteigen zum Throne dessen, der allein der Fürsten und Völker Herzen und Schicksale in Händen hat, und der, auch wenn er ein Feuer anzündet auf Erden (Luc. 12, 49.), dennoch mitten unter den Flammen, wie jene drei Männer im brennenden Ofen, den Seinigen Frieden und Freude verleiht. „Solches habe ich zu Euch geredet“, spricht er (Joh. 16, 33.), „auf daß Ihr in Mir Frieden habet. In der Welt habt Ihr Angst; aber seyd getrost, Ich habe die Welt überwunden.“ Und kann denn etwa ein irdischer König, selbst wenn er den äussern Frieden seinem Lande zu bewahren weiß, auch den Herzen der Unterthanen Frieden geben und bewahren? Kann er aller Anfechtung steuern, alle Thränen trocknen, alle Seelennoth in Freude verwandeln? Nein, nur Einer ist es, von dem die Schrift rühmet, daß wir unser Herz vor ihm stillen können (1. Joh. 3,19.); das ist Christus, der Herr. Vor Ihm, vor Seinem Throne kann allein das Herz stille werden; da allein finden wir Ruhe für unsre Seelen (Matth. 11,29.). Ruhe aber und Frieden, was bedürfen wir mehr denn dieses? „Ruhe ist das beste Gut, das man haben kann“; was ist alles Erdenglück, was ist das Sterben, was die Ewigkeit ohne dieses beste Gut, ohne diesen Frieden? Darum bedürfen wir Seiner, denn Er ist der Friedefürst!

Das Alles, lieben Freunde, ist gesprochen, daß Ihr erkennet, wie Ihr des Herrn Jesu ohne Unterlaß bedürftig seyet; es ist damit die Ermahnung, Ihr sollet nie aufhören, Euch Seiner bedürftig zu fühlen, auf ihren rechten Grund und in ihr rechtes Licht gestellt. So Ihr diese Ermahnung vergeblich an Euch ergehen lasset, dann freilich wird Euch Christus und Sein Heil auch im neuen Jahre nicht neu werden, weil Ihr selbst noch die Alten seyd, die denn auch, wenn es nicht besser kommt, in ihren Sünden werden sterben müssen. So Ihr der Ermahnung aber Raum gebet, so ist damit die Möglichkeit vorhanden, daß Euch Christus mit der unerschöpflichen Fülle Seiner Gnade und Kraft, Seiner Weisheit und Seines Friedens stets neu werde; daß Ihr immer wieder Neues für Eure Seelen und Euer Leben in Ihm findet. Nun aber

II.

nehmet auch die Verheißung an, daß Er nie aufhören werde, Euch das zu seyn, was Ihr bedürfet; daß Er also auch in Wirklichkeit Euch stets neu werden werde. - Das ließe sich zunächst nur als Wunsch aussprechen. Es gibt aber mehrerlei Arten von Wünschen. Erstlich solche, die Nichts besagen und Nichts bezwecken, die man deßhalb auch gedruckt haben kann. Von denen reden wir nicht. Zweitens solche, die zwar von Herzen gehen, als ein natürlicher, besonders durch den gegenwärtigen Zeitpunkt hervorgerufener Ausdruck der Liebe. Diese sind schon mehr werth; aber es sind eben Wünsche, deren Erfüllung der Wünschende so ziemlich dahingestellt seyn lassen muß. Es gibt aber noch eine dritte Art; das sind solche Wünsche, die die Gewißheit ihrer Erfüllung schon in sich tragen. Als einen solchen wollet jenen Wunsch ansehen; denn seine Erfüllung ruht auf der tatsächlichen Offenbarung Gottes in Christo Jesu. Höret unsern Text.

Uns ist ein Kind geboren. Von den höchsten Zinnen der alttestamentlichen Offenbarung aus blickt der Prophet hinüber auf die lichten Höhen der neutestamentlichen Offenbarung, und es verbirgt sich seinem entzückten Auge das breite Thal der Jahrhunderte, das dazwischen liegt. Uns ist ein Kind geboren. Als geschehen sieht er die Geburt des Kindes bereits vor sich. Mit Recht: denn auf dem Geschehenseyn der Menschwerdung Gottes, auf der Thatsache der Geburt des Heilandes ruhet all' unser Heil und all' unsre Hoffnung. Wie die erste Offenbarung des Vaters durch den Sohn (Joh. 1, 3. Col. 1, 16.) die Schöpfung der Welt, eine That des lebendigen Gottes ist, also auch die zweite Offenbarung, die Erlösung. Und wie der Fall des Menschen in Sünde und Verderben eine That, ein Geschehenseyn ist, also auch die Errettung des Menschen. Ja, alle die Fülle der göttlichen Gnade, Kraft und Weisheit, des göttlichen Friedens und Trostes, die wir bisher schon haben erfahren und genießen dürfen, sie hat ihre Quelle in der Geburt des Erlösers. Wohl ist der Reichthum Christi darum ein unausforschlicher, wie ihn der Apostel nennt (Eph. 3,8.), weil er in den Tiefen der Ewigkeit (Eph. 1,4.), im Wesen des unendlichen, seligen Gottes (1. Tim. 1, 11. 6, 15.) seinen Ursprung hat. Aber was hülfe es uns, wenn die Berge um uns her das köstlichste Wasser in unerschöpflicher Menge in ihrem Schooße trügen, es thäte sich aber nirgends ein Born auf, da es hervorquillen könnte? Die Ewigkeit aber hat ihre Pforten aufgethan, da Christus geboren ward; alle die Güter, die dem Menschen von Anfang an zugedacht waren, die er aber verscherzt hat durch die Sünde, die nur noch in dunkler Ahnung dem sehnenden Gemüthe vorschwebten, - sie sind durch die Menschwerdung Gottes der Erde wieder geschenkt; denn da der Herr der Herrlichkeit eintrat in die Gemeinschaft unsers Elendes, unsrer Noth, unsers Todes, hat Er ebendamit uns aufgenommen in die Gemeinschaft Seiner Herrlichkeit; - Ihr wisset die Gnade Jesu Christi, daß, ob Er wohl reich ist, ward Er doch arm um euretwillen, auf daß ihr durch Seine Armuth reich würdet (2 Kor. 8,9.). Ja, wie der Reichthum Christi nur darum unausforschlich ist, und somit Christus nur darum uns immer neu seyn kann, weil, was in Ihm ist, aus der Ewigkeit stammt - (wie ja auch unter den Werken menschlicher Weisheit, menschlicher Kunst diejenigen allein, für Jahrhunderte und Jahrtausende neu bleiben, in denen sich das Unendliche, so weit es irgend in Gedanken und Worte, in Farben und Töne sich hüllen läßt, am reinsten ausprägte): so ist uns Christus auch in der That immer neu, so nehmen wir auch aus Ihm ohne Aufhören, was wir bedürfen, ja überschwänglich mehr, als wir bitten und verstehen, weil Er der Unsrige geworden, weil das ewige Wort in's Fleisch gekommen ist. Und so wenig irgend eine Macht dieses Geschehene ungeschehen machen kann, so wenig auch kann uns jemals der Strom göttlichen Lebens und Reichthums aus Christo versiegen gehen.

Doch freilich, die Thatsache, daß dieses Kind uns geboren ist, erhält ihren ganzen Werth, wie wir ihn bereits angedeutet haben, erst dadurch, daß, der uns geboren ward, uns auch gegeben ist. „Ein Sohn ist uns gegeben.“ Gegeben, das heißt, zum bleibenden Besitz und Eigenthum überlassen; so daß Er also nicht Einmal nur eine Weile auf Erden zugebracht hat, die Menschen Etwas von göttlicher Herrlichkeit im Vorübergehen bemerken lassend und dann entweder auch den Weg alles Fleisches gehend, oder aber sich aus der Niedrigkeit emporschwingend, und Bahnen einschlagend, die Ihn auf ewig dem Auge der Menschheit entzögen. Nicht also; sondern Er ist uns gegeben; wir haben Ihn und dürfen Ihn behalten. Hat Er nicht selbst, da Er im Begriffe war, von der Erde zu scheiden, den Seinigen das Trostwort hinterlassen: „Siehe Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende?“ Und in wie mannigfacher Weise wiederholt Er immer wieder die Zusicherung, Er werde zu ihnen kommen, und Wohnung bei ihnen machen; sie werden in Ihm und Er in ihnen seyn! Ja, Ihr wisset, daß die Gemeinde der Gläubigen Sein Leib ist, Er aber das Haupt (Col. 1, 18.); und auf daß ein Jeder, der da geboren wird, Theil bekomme an Ihm, und ein Glied werde an Seinem Leibe, daß ferner ein Jeder, der zwar eingetreten ist in Seine Gemeinschaft, der aber unter der Schwachheit seines Fleisches, unter vielfacher Untreue und Verirrung sich mühselig und beladen fühlt, immer wieder Seiner Gnade und Erbarmung, des Friedens in Seiner Gemeinschaft theilhaftig werden könne, hat Er Taufe und Abendmahl gestiftet. Wie Viele nun auf Ihn getauft sind, die haben Christum angezogen (Gal. 3, 27.); und wer Sein Fleisch isset und trinket Sein Blut, der bleibet in Christo und Christus in ihm (Joh. 6, 56.). Sehet, so ist Er, der Gottessohn, uns gegeben; Er, der Einmal in der Fülle der Zeit geboren ward und durch Leben, Leiden und Sterben das Werk unsrer Erlösung vollbracht hat, ist nun als der ewig lebendige durch seinen Geist, den Geist des Lebens, mit all' dem Heile das in Ihm war, und das Er uns erworben hat, uns zu eigen gemacht; darum kann es uns niemals fehlen, immer wieder ans Seiner Fülle nehmen zu dürfen Gnade um Gnade.

O Freunde! Wäre der Höchste nicht so niedrig geworden, daß Er uns zu gut Fleisch und Blut annahm und gleich ward, wie ein andrer Mensch, und wollte Er sich nicht herablassen, in ewiger Gemeinschaft mit uns zu leben, so säßen wir noch im Elend und kein Retter würde uns erscheinen. Aber ebenso müssen wir auch sagen: Wäre dieser Niedrigste nicht zugleich der Höchste, dieser Aermste nicht zugleich der Reichste, dieser Menschensohn nicht der Gottessohn, der Herr vom Himmel, so wäre uns abermals wenig geholfen. Darum ist es auch ein wesentlich ergänzender Gegensatz, den unser Text noch mit den Worten andeutet: „Welches Herrschaft ist auf Seiner Schulter.“ Das erinnert uns vorerst, daß Er ein Herr ist, dem Niemand Seine Herrschaft streitig machen kann, der sie Keinem erst abringen muß, Er hat sie schon vollkommen im Besitz, und ist erhaben über alle feindlichen Angriffe (vgl. Ps. 2.); Er kommt daher auch nie in die Gefahr, diejenigen, die sich um Ihn gesammelt haben, sich selbst und ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Derselbe, den wir als den Unsrigen, als unsern Freund und Bruder kennen, derselbe, der unsre Schwachheit getragen, unsern Jammer miterduldet hat, derselbe, der als der Unsrige uns nahe seyn will, zu dem wir stets freien Zutritt haben oder der vielmehr stets vor unsrer Thüre steht und anklopfet, auf daß wir Ihm aufthun und Er Sein Abendmahl mit uns halten könne (Offenb. 3, 20.): Derselbe ist gesetzt über alle Fürstenthümer, Gewalt, Macht, Herrschaft und Alles, was genennet mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen (Eph. 1, 20. 21.). So hat der Herr selbst zur nämlichen Stunde, da Er den Seinen verhieß, bei ihnen zu seyn alle Tage bis an der Welt Ende, sich ihnen auch dargestellt als denjenigen, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben sey (Matth. 28,18.20.); und zu derselben Stunde, in welcher Er sprach: „Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater“, nennt Er sich den Sanftmüthigen und von Herzen Demüthigen, und ladet die Mühseligen und Beladenen zu sich ein, auf daß Er sie erquicke (Matth. 11,27-29). Welch' ein Trost für die, welche von Seiner Gnade leben! Welch' eine Bürgschaft dafür, daß sie, was sie auch bedürfen mögen, nie leer ausgehen werden, und daß, was sich auch wider sie erheben mag, derjenige, in dessen Händen der Scepter der Weltregierung liegt, sich als ihr Freund und Bruder bewähren wird! - Aber laßt uns noch auf Etwas achten. Welcher menschliche Herrscher mag sich dessen rühmen, daß die Herrschaft auf seinen Schultern liege? Muß er nicht, selbst beim besten Willen, doch den größern Theil der Herrschaft auf die Schultern Anderer legen, die ihm regieren helfen, die in seinem Namen befehlen und Befehle vollziehen müssen? Bedarf er nicht, je größer sein Reich ist. um so mehrerer Arme, ohne die er mit all' seiner Macht und Würde doch Nichts auszurichten im Stande wäre? Hier aber steht ein König vor uns, auf dessen Schulter die ganze Herrschaft liegt; Seine Unterthanen dürfen also nicht besorgen, das Gute, das ihr Herr ihnen zugedacht habe, möchte durch Andre, die mittegieren wollen, geschmälert oder gar ihnen vorenthalten werden; Seine Gaben nehmen ihren Weg nicht erst durch unreine Hände, sie kommen uns frisch aus der Quelle zu. Ja, weil auf Seiner Schulter allein die Herrschaft liegt, so gilt denen, die in Christi Gemeinschaft stehen, das Wort des Apostels: Es ist Alles Euer! (l Kor. 3, 22. 23.).

Nun so möge denn auch Euch jene Quelle ohne Aufhören frisch und helle strömen! Laßt es nur daran nie fehlen, mit begierigem, bedürftigem Herzen zu kommen und zu schöpfen; denn wer auf den Herrn wartet von einer Morgenwache zur andern (Ps. 130, 6.), der darf es auch erfahren, daß Seine Barmherzigkeit kein Ende hat, sondern alle Morgen neu ist. So gehen wir in immer neuen Erfahrungen unsers Weges dahin, von einem neuen Jahre zum andern; und wenn sich auch an jene Erfahrungen noch andere anreihen, die uns niederbeugen: sie machen uns nur um so verlangender nach dem ewigen Jubeljahr, da alles Alte vergehen und Alles neu werden wird! Lassen wir nur Christum uns immer neu werden, lassen wir Seine Gnade sich immer auf's Neue heiligend und verklärend an uns erweisen, so hat's keine Noth; ob auch der äußerliche Mensch verweset, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert. Amen.

Quelle: Dr. Christian Friedrich Schmid/ Wilhelm Hofacker - Zeugnisse evangelischer Wahrheit, Bd. 3

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