Moser, Friedrich Carl - An einen Freund.

Moser, Friedrich Carl - An einen Freund.

Eine Gemeine kann in Verfall kommen, wenn sie etwas bei sich überhand nehmen läßt, was ihrem Beruf, ihrem Haupt, ihrem glücklichen Zusammenhang, ihrer Richtschnur und ihrem Zweck zuwider ist. Sollte nun wohl ein Verfall der ganzen Gemeine Christi möglich sein? Ist es nicht eine ausgemachte Wahrheit, daß die ganze Kirche niemals irren kann? Es sei ferne von mir, diesen schriftmäßigen Grundsatz zu läugnen. Jesus will bei seiner Kirche sein, alle Tage bis an der Welt Ende, Matth. 28, 20. Wo er ist, da ist sein Geist, und dieser soll die Seinigen in alle Wahrheit leiten (Joh. 16, 13). Die Pforten der Hölle hingegen sollen sie nicht überwältigen (Matth. 16, 18). Das ist alles wahr. Hingegen ist dieß aber auch eine Möglichkeit, daß die wahre Kirche so klein werden kann, daß sie nicht mehr in die Augen fällt, und man fast nicht mehr weiß, wo man sie suchen soll. Ich will meine dießfallsigen Gedanken, so wie ich sie aus der h. Schrift, Kirchenhistorie und betrübten Erfahrung zusammengelesen, in folgende Sätze bringen:

Eine Ortsgemeinde kann zum Theil irren. Der irrende Theil kann der größte oder kleinste sein. Wenn auch nur der größte Theil irrt, und der Irrthum im Namen der Gemeinde bekannt, oder darnach in der Gemeinde gehandelt wird, so kann man sagen, daß die ganze Ortsgemeine irre. Eine Ortsgemeine kann auch in allen ihren Gliedern irren. Mehrere, ja die meisten, ja alle Ortsgemeinen können irren. Alle Ortsgemeinen machen die ganze sichtbare Kirche aus. Mithin kann die ganze sichtbare Kirche irren. Nichtsdestoweniger muß aber wahr bleiben, daß die ganze Kirche Christi nicht irren könne. Wenn also die Gemeinen in Irrthum und Verfall gerathen, so bleibet die wahre Kirche bei den Gliedern, welche an den Irrthümern, woraus der Verfall entstanden, keinen Theil nehmen, Offb. 3, 4. Diese zeugen entweder öffentlich wider diese Irrthümer, - so sind sie Zeugen der Wahrheit, oder sie behalten die erkannte Wahrheit im Herzen und bekommen dieselbe mit stillem Wandel, weil sie zu ihrem Bekenntniß durch öffentliche Zeugnisse keinen Beruf oder keine Gabe und Gelegenheit haben; so sind sie Glieder der unsichtbaren Kirche und ein verborgener guter Samen auf einem Acker voller Unkraut. Wo sich aber zwei oder drei derselben in Jesu Namen versammeln, da ist Jesus mitten unter ihnen, da ist eine kleine sichtbare Kirche. Der Verfall der Gemeinen geschieht gemeiniglich nicht auf einmal, sondern nach und nach, je mehr sie grundstürzende Irrthümer annimmt, oder je mehr ein wenig Sauerteig der Unlauterkeit und Bosheit (1. Cor. 5, 8) den ganzen Tag durchsäuert (Gal. 5, 9). Der Haupturheber eines solchen Verfalls ist der Teufel als der Erzwidersacher der Gemeinen (1 Pet. 5, 8). Dieser verführt entweder die Gemeinen mittelbar durch falsche Apostel, welche sich zu Christi Aposteln verstellen (2. Cor. 11, 13), oder durch unsichtbare Kräfte, darin er unmittelbar unter ihnen zu wirken anfängt (Eph. 6, 12), wenn sie sicher und nicht auf ihrer Hut sind (Matth. 13, 25. 1. Ptr. 5, 8.)

Daß die Gemeinen nicht in ihrer ersten Lauterkeit bleiben würden, haben die Apostel nicht nur als eine mögliche, sondern als eine gewiß zu befürchtende Sache angesehen. Ich weiß, sagte deßwegen unter andern Paulus zu den Aeltesten der blühenden Gemeine zu Ephesus, daß nach meinem Abschiede werden unter euch kommen gräuliche Wölfe, die der Heerde nicht verschonen werden, und diese werden nicht etwa nur von außen hereinbrechen, sondern aus dem Schoos der Gemeine, auch aus euch selbst werden auferstehen Männer, die verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen (Apgsch. 20, 29. 30). Alle ihre Briefe sind voll von Warnungen für den besorglichen Verfall. Sie merkten, daß sich das Geheimniß der Bosheit, doch immer in einer Gemeine mehr, als in der andern, schon regte, 2. Thess. 2, 7. theils in falschen Lehren, theils in fleischlichen Absichten, theils in falschen Geistlichkeiten. Sie konnten dabei an verschiedene Worte des lieben Heilands, sonderlich an das Gleichniß vom Säemann, Matth. 13, 21. rc. gedenken. Sie sahen bereits hochherfahrende Diotrephes (3. Joh. V. 9) und verführerische Hymenäos und Philetos, 2. Tim. 2, 17., deren Wort um sich fraß wie der Krebs; und was sie vermutheten und befürchteten, geschah auch nach und nach wirklich. Zwar so lange die Christen noch mit Feuer und Schwert verfolgt wurden, konnte das sich anspinnende Verderben nicht zum völligen Ausbruch kommen, und hielten sich die Gemeinden noch immer zusammen, so gut es möglich war. Denn das ist die Art des Reichs Christi, daß es unter dem Kreuz nicht abnimmt, sondern unfehlbaren Segen hat, blühet, wächst, und geläutert wird. Nachdem aber endlich die höchste Obrigkeit sich zu dem Christenthum bekannte, und die Christen liebte, ehrte und förderte, die Heiden hingegen verachtete und unterdrückte, nachdem es eine Ehre wurde, ein Christ zu sein, und man sich schämen mußte, nicht von der Religion des Kaisers und Hofs zu sein, da kam alles, was sich bisher von unlautern, dem Kreuzessinn Jesu Christi zuwiderlaufenden Absichten, von Vermengung der heidnischen Philosophie mit den christlichen Wahrheiten und andern Abweichungen von der ersten Einfältigkeit auf Christum unter der Hand geregt hatte, zum vollen Ausbruch. Das Unkraut, welches der Feind unter den reinen Waizen gesäet hatte, und schon einige Zeit zuvor hervorgekeimet, wuchs heran und trug immer mehr Samen. Die Christen verfielen in Nachlässigkeit Und Trägheit, die erste Liebe erkaltete, die Liebe der Welt und dessen, was in der Welt ist, bekam die Oberhand, die Lehrer und Arbeiter strebten nach äußerlichen Würden und Vorzügen, legten sich auf die Weltweisheit und Redekunst und zerschlugen sich in verschiedene Partheien. Die Menge der Bekenner des Namens Christi nahm zu, die Anzahl der wahren Nachfolger Christi hingegen wurde immer kleiner und unsichtbarer. Die gemeinschaftlichen Uebungen des Worts, Gebets und der heiligen Einsetzungen Christi wurden in einen prächtigen und cerimoniösen Gottesdienst verwandelt, und die Zeugen der Wahrheit klagten, daß man keine apostolische Gemeine mehr zu finden wüßte. Die Hauptperiode dieses Verfalls ist wohl ins 4. Jahrhundert, in die Zeiten des Kaisers Constantin des Großen zu setzen: von dieser Zeit an äußerte er sich am merklichsten, und gewann er den stärksten Fortgang.

Ob es nun immer so bleiben, oder ob wieder eine Zeit der Gemeinen aufkommen werde, und ob gewisse Erscheinungen unsrer Zeiten als Vorbereitungen dazu anzusehen, darüber finde ich Bedenken mich zu äußern. Wir wünschen inzwischen doch, wie der alte Bischof Comenius, als er die Thür seiner Brüderkirche, zuschloß: „bringe uns, Herr, wieder zu dir, daß wir heimkommen, verneue unsre Tage, wie vor Alters, Klgl. 5, 21.“

Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren

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