Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - XXI. Der Kampf der Selbstbewahrung.

Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - XXI. Der Kampf der Selbstbewahrung.

1. Joh. 5,17-21.
Alle Untugend ist Sünde; und es ist etliche Sünde nicht zum Tode. Wir wissen, dass, wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern, wer von Gott geboren ist, der bewahret sich, und der Arge wird ihn nicht antasten. Wir wissen, dass wir von Gott sind, und die ganze Welt liegt im Argen. Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und hat uns einen Sinn gegeben, dass wir erkennen den Wahrhaftigen und sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohne Jesu Christo. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben. Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern. Amen.

Erwerben und Bewahren, das ist die zwiefache Tätigkeit, die wir ausüben müssen, um die irdischen Bedürfnisse unseres zeitlichen Lebens zu befriedigen, um die Stellung in der menschlichen Gesellschaft einzunehmen und hier die Wirksamkeit zu entfalten, die Gottes Ordnung uns angewiesen hat. Schwer ist es hier oft, zu erwerben, schwer auch oft, das Erworbene zu erhalten. Die traurige Erfahrung, dass ein Haus, mit zeitlichen Gütern reich ausgestattet, mit allen Ehren geschmückt, der Gegenstand allgemeiner Hochschätzung, vielleicht auch des Neides vieler, zusammenbricht, und Fülle dem Entbehren, Glück dem Elend weichen, dass ein jäher Wechsel aus lichter Höhe zu dunkler Tiefe führt, wie oft hat sie uns erschüttert und uns den Unbestand menschlicher Geschicke bezeugt. Aber, meine Freunde, schmerzlicher, beklagenswerter und verhängnisvoller als der Verlust der irdischen Güter ist der Verlust himmlischer Schätze. Jener kann uns treffen, ohne dass wir eigener Verschuldung uns anklagen mussten, dieser wurzelt in eigener Sünde. Jener beraubt uns eines Besitzes, von dem wir uns doch im Tode trennen müssen, dieser eines Segens, der uns in die Ewigkeit folgen sollte. Jener entreißt uns, was doch unseren Herzen nicht volles Genüge gewährte, dieser nimmt uns, woraus allein wir Frieden, Kraft, Seligkeit schöpften. Dort büßen wir ein, was uns doch immer ein Äußeres und Fremdes blieb, hier verlieren wir, was wir als einen Schatz, als einen Reichtum des inneren Lebens besaßen. Gilt daher für die Beziehung zu unseren irdischen Gütern schon die Mahnung: Behalte, was du erworben hast, schütze und behaupte es mit Weisheit und Treue, ernster und wichtiger bleibt die Fürsorge für die Bewahrung der himmlischen Güter.

Auf sie ist der Blick des neutestamentlichen Sehers gerichtet, wenn er uns zuruft: „Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme“ (Offenb. 3,11), und ihrer gedenkt der Apostel in der Aufforderung zur Selbstbewahrung, die wir heute vernommen haben. Eine Aufforderung zur Selbstbewahrung richtet er an uns; was wir schützen sollen, sind wir selbst. Denn der Verlust der himmlischen Güter schließt den Verlust unserer Seele in sich, ihre Erhaltung die Erhaltung unserer Seele.

Wie eng knüpft sich dies Wort des Apostels an jenes unmittelbar vorhergehende, das unserer legten Betrachtung zu Grunde lag! Zum Kampf der fürbittenden Liebe rief es uns auf. Nun wird unser Blick wieder auf das eigne Selbst gelenkt. In der Fürsorge für das Heil der Brüder sollen wir die Fürsorge für das eigne Heil nicht vergessen, in dem Kampf für sie nicht den Kampf für uns selbst. So sei

Der Kampf der Selbstbewahrung

der Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung. Wir gedenken der Gefahren, die uns bedrohen, und vergegenwärtigen uns die Hoffnung, ihnen siegreich zu begegnen.

1.

Auf die drohenden Gefahren weist uns der Apostel hin, wenn er uns bezeugt: „Die ganze Welt liegt im Argen,“ und wenn er die Warnung ausspricht: „Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern.“ Zwei Worte, in gleichem Maße bedeutungsvoll für die Gemeinden, an welche dies apostolische Schreiben gerichtet ist, in gleichem Maße die Versuchungen beleuchtend, denen sie ausgesetzt waren. Aber sind sie auch Wegweisungen, denen wir folgen sollen, Führer, denen sich die christliche Gemeinde der Gegenwart anvertrauen darf? Tragen wir kein Bedenken, in der Warnung: „Hütet euch vor den Abgöttern“ einen Ruf zu erkennen, der allen Zeiten gilt, denn mit göttlichen Ehren ausgezeichnete Wahngebilde, bald in dieser, bald in jener Gestalt, pflegen den Zeitgeist zu beherrschen -, so können wir uns doch nicht entschließen, dem Urteil des Apostels zuzustimmen, die ganze Welt liege im Argen, stehe unter satanischer Gewalt. So war es, sagen wir, damals, als der Apostel diese Worte aussprach. Die christlichen Gemeinden bildeten in dieser Zeit gleichsam eine Insel im Meer, sie erschienen wie eine Dase in der Wüste. Umgeben von heidnischen Scharen, in denen Irrtum und Lüge, Sünde und Laster ihre Herrschaft offenbaren, die Schranken des göttlichen Gesetzes durchbrechen, um zügellos den Begierden des Fleisches zu folgen, zeigen uns die christlichen Gemeinden das Bild heiliger, frommer Vereinigungen, die im Glauben an die Wahrheit, in unschuldigem Wandel, in der Nachfolge Jesu, in opferwilliger Bruderliebe, in trostreicher Hoffnung unauflöslich und innig miteinander verbunden, den unauslöschlichen Eindruck in uns hervorbringen: Hier ist die Wohnung Gottes unter den Menschen, hier ist sein Tempel erbaut, sein Reich errichtet. Wer von hier aus, von dieser reinen Stätte aus, in die Welt hinausschaute, konnte kein andres Zeugnis ablegen, als es der Apostel Johannes getan hat: „Die ganze Welt liegt im Argen.“ Nur in der Gemeinde Jesu Christi strahlte helles Licht, die Welt außer ihr lag in tiefer Finsternis.

Aber, meine Teuren, haben wir ein Recht, dies Urteil auch über die Welt der Gegenwart zu fällen, dürfen wir im Hinblick auf die Zustände der Gesetzgebung und Verwaltung in den christlichen Staaten, auf die Sitten und Ordnungen, denen die christlichen Völker folgen, ja auch im Hinblick auf alle großen Bewegungen und Strömungen, von denen sie sich leiten lassen, das Wort des Apostels wiederholen: „Die ganze Welt liegt im Argen?“ Meine Lieben! Wenn wir es täten, uneingeschränkt, ohne uns bewusst zu werden, welche gewaltige, heiligende Unwandlung das Evangelium von Jesu Christo und seinem Reich hervorgebracht hat in der Menschheit, wir bewiesen dann, dass wir gar gering dächten von der rettenden Macht, die dem Herrn Jesu zu eigen ist, und gäben der Wahrheit nicht die Ehre. Nun fast neunzehn Jahrhunderte hindurch ist das Evangelium verkündigt worden, Millionen haben es angenommen als den Wegweiser für ihr Denken, Dichten und Trachten, in alle öffentlichen Verhältnisse der christlichen Völker ist es eingedrungen, heidnische Sitten und Gesetze haben weichen müssen, um neuen, von christlichem Geiste erfüllten Ordnungen Raum zu geben, und dennoch sollten wir auch jetzt noch sprechen müssen: „Die ganze Welt liegt im Argen!“ Nimmermehr! Im Argen liegt die Welt, die von Christus nichts weiß, die Welt, die von ihm nichts wissen will, unheilige Mächte herrschen in der Finsternis des Heidentums; aber, Gott sei gepriesen, es ist nicht mehr die ganze Welt, die im Argen liegt, es ist nicht mehr so, dass nur einem verschwindend kleinen Teile der Menschheit das Wort des Apostels Paulus gilt: „Ihr wart weiland Finsternis, nun aber seid ihr ein Licht in dem Herrn“ (Eph. 5,8).

Und doch, meine Lieben, das Wort: „Die ganze Welt liegt im Argen“ enthält eine Wahrheit für alle Zeiten! Der Weltsinn, die Vergötterung der irdischen, vergänglichen Güter, das Trachten nach dem vergänglichen Genuss der Sinne als des Lebens wertvollstem Ziel, die Jagd nach zeitlichem Glück und zeitlicher Ehre, die das Herz so vieler ausfüllt, rastlos treibt und doch kein Genüge gewährt, dieser Weltsinn, diese Weltlust, wie mannigfaltig die Gestalten sein mögen, in denen sie sich offenbart und verbirgt, sie liegt im Argen, ganz, völlig, sie steht im Dienst des Argen, im Dienst Gott feindlicher, unheiliger Mächte. Sie bedrohen uns, sie versuchen uns, gegen sie müssen wir uns waffnen, vor ihnen müssen wir uns selbst bewahren. Zum Kampf gegen sie ruft uns der Apostel auf, wenn er die ernste Mahnung an uns richtet: „Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern.“ Wie sehr bedürfen wir dieser Mahnung! Wie sehr ist unser natürlicher Mensch geneigt, das Geschaffene mehr zu lieben als den Schöpfer, wie sehr bereit, statt alles Geschaffene gleichsam als eine Himmelsleiter zu betrachten, auf der wir von der Welt, der Offenbarung Gottes, zu ihm selbst emporsteigen sollen, bei dem Geschaffenen stehen zu bleiben und in ihm volle Befriedigung zu suchen. Edlerer Sinn kettet sich an die unserem Herzen teuren Menschen, an die Seelen, mit denen uns innigste Liebe verbindet, und, wenn sie nach Gottes uns verborgenem Rat uns entrissen werden, dann erfüllt Bitterkeit und Verzweiflung das Gemüt. Sie haben alles verloren, und, weil sie Gott nicht haben, erscheint ihnen das Leben öde und leer. Ein geliebter Mensch war ihr Gott, ihr Abgott. Sie hatten einen Himmel auf Erden, aber keinen Himmel über der Erde. Hütet euch vor den Abgöttern! Aber niederer Sinn sucht im Erdenstaub die köstliche Perle, er eilt von Genuss zu Genuss und verschmachtet im Genuss vor Begierde. Er säet auf das Fleisch und erntet vom Fleisch das Verderben (Gal. 6,8). Die unsterbliche Seele hungert und dürstet, und die Sättigung und Erquickung wird ihr versagt. Das Herz bleibt leer, die Seele verödet. Hütet euch vor den Abgöttern! Andere jagen der Ehre nach, rastlos getrieben verfolgen sie einen Schatten, der ihnen als wesenhaftes Gut erscheint. Viele erreichen nicht, wohin sie verzehrende Sehnsucht trieb, und blicken voll Missgunst und Neid auf die Glücklichen, die auf der Höhe stehen. Und diese Glücklichen sprechen: Alles ist eitel. Hütet euch vor den Abgöttern! Aber hüten wir uns auch, dass wir nicht den lebendigen Gott verlassen, wie er sich uns in Jesu Christo, seinem eingebornen Sohn, offenbart hat, und sein wahres Bild gegen ein Trugbild eintauschen, das sich der irrende Menschengeist gebildet hat, dass wir uns nicht von dem heiligen, lebendigen Gott entfernen, der sich uns als die unendliche Vaterliebe offenbart hat. Viele Kinder der Gegenwart, auch in der Christenheit, glauben an einen unbekannten Gott, der das ewige Schweigen ist, aber nicht das ewige Wort, das gnadenreich zu den Menschenkindern redet; viele glauben an eine unendliche Kraft, die im All waltet, aber nicht an den himmlischen Vater, der ein Auge hat, das auf uns schaut, ein Ohr, das unser Flehen hört, eine Hand, die uns hilft, und ein Herz, das für uns schlägt; viele glauben an einen Gott, der müßig dem Weltgetriebe zuschaut, an einen Gott, dem die Hände durch das eherne Gesetz der Ursachen und Wirkungen, das die Weltkräfte regiert, gebunden sind, an einen Gott, dessen Liebe der heilige Ernst und die rettende Macht fehlt. Hütet euch vor den Abgöttern!

2.

Groß, in dem Herrn Geliebte, sind die Gefahren, die uns bedrohen, aber, wie schwer auch der Kampf ist, den sie von uns fordern, wir verzagen nicht, denn größer ist die Hoffnung, ihnen siegreich zu begegnen, die uns erfüllt. Wir wissen es wohl, jede Untugend oder, wie eine genauere Übersetzung lautet, jede Ungerechtigkeit ist Sünde, und wir, die wir uns täglich gegen das Recht, gegen die ewige Ordnung Gottes vergehen, sündigen auch täglich, aber wir wissen auch, es ist etliche Sünde nicht zum Tode.

Die Schwachheitssünden des Tages vergibt uns Gott, wenn wir sie in Reue und Glauben vor ihm bekennen, und um seine Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, ihn bitten. „Denn, wer da bittet, der empfängt; und, wer da sucht, der findet; und, wer da anklopft, dem wird aufgetan“ (Ev. Matth. 7,8). Wir wissen es, wir gehören durch unsere natürliche Geburt dieser Welt an, und ihre Begierden, die wider die Seele streiten, sind für uns eine versuchende Kraft; aber wir wissen es auch, dass wir von Gott geboren sind, und dass im tiefsten Grunde unseres Herzens die Liebe zu ihm lebt und der Gehorsam gegen seinen heiligen Willen, dass wir die Sünde hassen, dass wir uns ihrer Regungen in unserem Herzen schämen, dass wir in ihr eine unwürdige Kette fühlen, die wir, ach, so gern, zerreißen möchten, dass wir uns nach der Freiheit der Kinder Gottes sehnen und zu der Gefangenschaft im Hause der Sünde nimmer zurückkehren wollen. Wir wissen es, dass der Fürst dieser Welt, dass die Geister, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, ein weites Gebiet besitzen, das sich ihrer Macht unterworfen hat, dass sie versuchen, auch uns für ihren Dienst zu gewinnen; aber wir wissen auch, dass der Sohn Gottes gekommen ist, und dass wir in der Gemeinschaft mit ihm, in Glaube, Liebe und Nachfolge, geborgen sind. Er, der alle Versuchungen Satans besiegt, dessen sündlose Unschuld kein Flecken getrübt hat, der sich im Gehorsam gegen den Vater als den heiligen Sohn Gottes erwiesen, er teilt uns seine Kraft im heiligen Geiste mit, dass wir in ihm und durch ihn alle Versuchungen überwinden. In ihm bewahren wir uns, und der Arge wird uns nicht antasten. Der Herr hat uns einen Sinn gegeben, dass wir erkennen den Wahrhaftigen und sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohne Jesu Christo.

Es ist vor allem dieser Sinn, diese Einsicht, kraft deren wir uns selbst bewahren. Es ist von entscheidender Bedeutung für uns, dass wir diese Einsicht gewinnen. Ohne sie sind wir ein schwankendes Rohr, das der Wind hin und her wehet. Wie oft klagen Vater und Mutter, treue Erzieher, dass die ihnen anvertrauten Kinder nicht zur Einsicht, nicht zur Erkenntnis kommen wollen, was zu ihrem Frieden dient, dass sie sich nur von den Eindrücken des flüchtigen Augenblicks leiten lassen, nur auf die Genüsse achten, die er darbietet, dass sie vielleicht auch die Arbeit verrichten, die von ihnen gefordert wird, aber darin nur unwillig einem Zwange gehorchen, dass ihr Leben eines sichern Haltes und eines inneren Zusammenhanges entbehrt. Ihr Leben ist auf keinen wertvollen Zweck gerichtet, ihm fehlt ein herrliches Ziel, nach dem sie streben sollten, ihm fehlt ein Plan, der ihr Tun und Laffen ordnet. Ihnen gebricht die innere Kraft, jeder Versuchung fallen sie zum Opfer. Weiser Erziehung gelingt es oft, unter der segnenden Einwirkung der göttlichen Gnade, ihre Pfleglinge zur Einsicht zu führen, oft freilich scheitert auch weise und treue Erziehung am Widerspruch, am Nichtwollen jener.

Aber die Entwicklung der Einsicht steigt von niederer zu höherer Stufe. Einsicht ist schon da wirksam, wo ein irdisches, zeitliches Ziel mit Ernst in das Auge gefasst wird, wo treuer, hingebender Eifer, Fleiß in der Arbeit, es zu erreichen sucht. Und doch, wie viele Sünden, wie viele Irrtümer beherrschen die Seele, wenn nur vergängliche Ziele sie bewegen! Bei aller Einsicht doch wie wenig Einsicht! Bei aller Klugheit doch wie wenig Weisheit! Da allein ist die vollkommene Einsicht gewonnen, wo wir des Lebens wahren Wert, des Lebens letztes Ziel, erkannt haben, wo wir unvergängliche, ewige Güter suchen, wo wir mit dem Psalmisten sprechen: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“ (Ps. 73,25), und der Losung des Herrn folgen: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes“ (Ev. Matth. 6,33). Da ist Weisheit, da ist Einsicht. Und diese Weisheit, diese Einsicht ist das Erbe der Kinder Gottes. Sie suchen nicht nach dem, was scheint, sondern nach dem, was wahrhaftig ist. Sie suchen Gott, der da war, der da ist, und der da sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit, und wir finden ihn in seinem eingeborenen Sohne, Jesu Christo. In ihm ist das ewige Leben. Hier werden uns die wahrhaftigen Güter dargereicht, die Güter, die einen bleibenden Wert besitzen, die Güter, welche den Hunger und Durst unserer Seele stillen, die allein uns geben, was wir von der Welt vergeblich erwarten, den Frieden, der höher ist denn alle Vernunft, und eine Freude, die auch unter dem Drucke des Kreuzes nicht erlischt. In der Welt gewinnen wir Zeitliches, in Gott das Ewige. Durch diese Erkenntnis bewahren wir uns in Gott und verlieren uns nicht in der Welt.

Nicht als ob wir uns von den Menschen und dem Genuss der irdischen Güter zurückziehen oder das uns von Gott selbst eingepflanzte Verlangen nach ihnen unterdrücken sollten, das sei ferne! Was Gott geschaffen hat, ist rein; die natürlichen Freuden, die er uns bereitet hat, sind seine Gaben, Erquickungen aus seiner Hand. Aber deshalb sollen wir in ihnen den Geber selbst erkennen und mit Danksagung empfangen, was er uns gewährt; deshalb sollen wir sie gebrauchen nach seinem heiligen Willen, deshalb sollen wir sie unter die ewigen, bleibenden Güter unterordnen; deshalb sollen wir nicht an ihnen hangen, als liege in ihnen unser Heil; deshalb sollen wir sie haben, als hätten wir sie nicht; deshalb sollen wir uns auch stille in Gottes Willen ergeben, wenn er sie uns versagt oder entzieht, und mit Hiob sprechen: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt“ (Hiob 1,21).

Dann, meine Teuren, sind wir in der Welt, aber nicht von der Welt, dann besitzen wir im Irdischen zugleich Himmlisches, die Zeichen der Liebe unsers Gottes, dann trachten wir im Vergänglichen nach dem Unvergänglichen, dann dienen wir nicht dem Fürsten dieser Welt, sondern unserem Gott; dann wirken wir nicht die Werke der Finsternis, sondern bauen am Reiche Gottes, dann verlieren wir nicht unsere Seele, sondern bewahren sie. Unsre irdische Arbeit wird dann zu einer Arbeit im Reiche Gottes, unser irdischer Genuss zu einem Genuss der Güter des Reiches Gottes, unser Nehmen zu einem Nehmen aus Gottes Hand, unser Geben ein Geben der Güter, die Gott uns geschenkt hat, unsere Liebe zu den Menschen eine Bruderliebe, in der sich ein Abglanz der Vaterliebe Gottes zu uns, seinen Kindern, spiegelt. Dann leben wir in der Zeit und doch zugleich in der Ewigkeit, dann leben wir in der Welt und doch zugleich in Gott. Wir sind bei ihm, wer will uns aus seiner Hand reißen? In ihm ruhend, in ihm wirkend, in ihm genießend, bewahren wir unsere Seele.

Es ist das Bild eines seligen Lebens, das sich unserer Betrachtung zeigt. Schauen wir in den Spiegel unserer Seele, ob es sich uns darin offenbart! Zeigen sich keine Spuren der Züge dieses Bildes, dann mögen wir viele Vorzüge besitzen, aber Christen, Jünger Jesu, Kinder Gottes, sind wir dann nicht. Wenn wir es aber bekennen dürfen, dieses Bild spiegelt sich auch in unserem Geiste, so müssen wir doch zugleich mit beschämtem Herzen bezeugen, wie undeutlich, wie schwach und matt sind seine Züge gezeichnet, wie weit sind wir noch davon entfernt, dass dieses Bildes Herrlichkeit uns ganz erfüllte, unser Dichten und Trachten verklärte! „Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei“ (Phil. 3,12), sprechen wir mit dem Apostel Paulus. Dies sei das Bekenntnis unserer Schwachheit, Sünde und Schuld, mit dem wir vor das Angesicht Gottes treten. Aber dann lasst uns auch fortfahren mit dem Apostel: „Ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte.“ So laute unser heiliges Gelübde, das wir auf Gottes Altar opfern. Und derselbe Apostel zeigt uns auch die Quelle unserer Kraft, wenn er sein Bekenntnis schließt: „nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin“. Hier ist der Grund, in dem unsere Hoffnung wurzelt. So wollen wir uns im Bewusstsein unserer sündigen Schwachheit beugen, im Bewusstsein der Gnade Gottes in Jesu Christo erstarken, im Bewusstsein der Kraft, die wir von Gott empfangen haben, nach dem Ziel der Vollkommenheit der Kinder Gottes trachten. Allen Gefahren und Versuchungen der Welt gegenüber sind wir dann geborgen, im Kampf des Lebens bewahren wir unsere Seele. Amen.

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