Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Einundzwanzigste Betrachtung.

Blick herab aus deinen Höhen,
Du, nach dem wir liebend sehen! -
Unser Führer zu den Sternen,
Du, von dem wir lieben lernen;
Unsre heiligen Gefühle,
Rette sie im Weltgewühle,
Dass sich unser Herz verkläre
Im Gehorsam deiner Lehre.

Segen hat dein Mund gesprochen,
Liebend ist dein Herz gebrochen.
Liebe wird in Ewigkeiten
Und hinauf zu dir begleiten.
Liebe müsse unserm Leben
Deines Segens Weihe geben!
Wir sind deiner Liebe Erben;
Lass uns segnend, liebend sterben!

Text: Joh. 19, 25-27.
Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, Cleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabei stehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, sieh, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Sieh, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Wir versammeln uns wieder im Geist unter dem Kreuz des Herrn. Unsere Blicke sind auf den heiligen Dulder gerichtet. Immer näher rückt der Augenblick seines Todes; immer ernster und feierlicher wird die Abschiedsstunde. Kein Schmerz überwindet die starke Seele des Frommen. Heilige Gedanken erfüllen ihn, heilige Gesinnungen spricht er jetzt noch aus. Was uns der Evangelist Lukas im 23sten Kapitel im 34sten Vers von der Bitte Jesu für seine Feinde berichtet, zusammengehalten mit dem, was unserer Betrachtung als Grundlage voransteht, löse uns die Frage:

Mit welchen Gesinnungen stirbt Jesus?

Es sind aber keine andern, als die Gesinnungen der Liebe.

  1. ausgesöhnt mit seinen Feinden;
  2. zärtlich besorgt für die Seinigen;
  3. freudig sich aufopfernd für das Heil aller;

so stirbt der Herr.

I.

Es wird mit Recht für einen besonderen Beweis der Liebe des Allbarmherzigen gehalten, sanft und ruhig zu sterben. Es ist das ein Glück, welches wir eben so heiß uns selbst, als den Unsrigen wünschen. Es erhöht sich dieses Verlangen, je schwerer der Kampf ist, mit welchem eines der Unsrigen der Todesstunde sich naht. Erscheint diese dem Geliebten ruhig und sanft, so gewinnen wir leichter auch über den herbsten Schmerz den Sieg, und es ist, als ob ein Friede von dem Vollendeten auf uns überginge. Dass aber die Seele in der Sterbestunde Freudigkeit erfülle, dazu wird vor allem eine liebevolle Gesinnung erfordert. Blicken Edlere schon im gewöhnlichen Leben mit Besorgnis auf eines der Ihrigen, dessen Herz von Leidenschaft bewegt ist; wie weit mehr noch, wenn die Ruhe der Seele auch in der Todesstunde noch durch lieblose Gesinnungen gestört wird.

So sehr sich auch alles vereinigte, den entsetzlichen Tod unsers Herrn noch schmerzlicher und bitterer zu machen; so ist sein Ende doch das Ende des Frommen. Mit Freudigkeit und Ruhe scheidet er, und einen sanften, erhabenen Ernst verbreiten über diese letzten Augenblicke die liebevollen Gesinnungen, welche er auch jetzt noch offenbart. Wo sich uns aber die höchste Liebe verkündet, da schließen wir auch mit Recht auf die höchste Ruhe des Gemütes; denn das ist der Segen liebevoller Gesinnung, dass ein beseligender Friede sich mit ihr verbindet. - So ist es hier.

In der großen Feierstunde, welche dem Herrn erschien, darf keine feindselige Regung die Ruhe seines Innern beeinträchtigen. Zwar hatte das ganze Leben ihm fast nichts, als Hass und Feindschaft gebracht, zwar er duldete er eben, als Opfer dieses Hasses, den peinigendsten Schmerz, doch er erhebt sich über dies alles. Die letzten Worte, welche er zu den unmenschlichen Kriegern, zu seinen höhnenden und über den Triumph ihrer Bosheit frohlockenden Feinden spricht, sind das Gebet der Liebe, sind ein vielbedeutender, erhabener Segenswunsch. „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun, “ so spricht sein heiliger Mund! Weißt du, o Christ, ein erhabeneres Schauspiel zu nennen? - Kannst du, Wankender in deinem Glauben, noch einen Augenblick säumen, in den Ausruf jenes Hauptmanns mit einzustimmen: Wahrlich, das ist Gottes Sohn gewesen! Fühlst du, der du je eine feindselige Gesinnung in dir nährtest, dich nicht tief beschämt unter dem Kreuz deines Erlösers? - Wäre es möglich, dass wir nicht alle von dem heißesten Verlangen erfüllt würden, einen solchen Sieg über uns selbst zu gewinnen, ähnlich zu werden dem Herrn, zu sterben wie er?

Was ist es denn, das die meisten trüben Stunden im Leben uns bereitet? was anders, als die feindseligen Gewalten des Neides über die Gunst des Glücks, die andere zu erfahren haben; des Stolzes, der durch Geringschätzung unseres vermeintlichen Wert sich regt; der Streitsucht, die keinen Widerspruch verträgt; des Hasses, um verletzten Rechtes, willen; des Unmuts, wenn das Gebot der Pflicht Selbstverleugnung verlangt: in allem also Mangel an Liebe.

O, wer sollte nicht unter dem Kreuz des Herrn aufs Neue den Vorsatz fassen, allen diesen feindseligen Mächten auf immer zu entsagen und der Liebe sich zu weihen? - Ach, fache du selbst die Flamme der Liebe in uns allen an, Gekreuzigter! Mit Liebe gegen deinen Feind im Herzen starbst du, - ach hilf uns leben und sterben wie du!

II.

Wenn den Frommen das Irdische schon im Leben nicht zu fesseln vermag, so ist dies weit weniger noch in den Stunden des Todes der Fall. Losgebunden von allen Banden des Vergänglichen weilt sein Geist schon in lichteren Regionen; schon hört er den Preisgesang der Seligen, schon hat er Vorgefühle von dem Entzücken und der Wonne einer besseren Welt. Gibt es dann noch eine Sorge, die ihn zu beschäftigen vermag; so ist es die Sorge für seine Lieben. Von ihr sehen wir den Heiligen in den letzten Augenblicken seines Lebens erfüllt. Er ist zärtlich besorgt um die Seinigen. Die Betrachtung des Lebens unsers Herrn zeigt uns öfter, dass so sehr sein Herz von der Liebe zu allen erfüllt war, so groß und viel umfassend die Absichten waren, welche er zum Heil aller erreichen wollte, er dennoch es nicht verschmähte, die Seinigen einer ganz besonderen Liebe und Sorgfalt zu würdigen. Mit unaussprechlicher Innigkeit betet er am Abend vor seinem Tod, nachdem er die vollkommenste Gewissheit von demselben erlangt hatte, für seine Jünger, dass sie in dem Namen des Vaters erhalten, vor dem Übel bewahrt, in der Wahrheit geheiligt werden möchten. Auch in den Augenblicken des schmerzlichsten Todeskampfes erfüllt ihn noch diese zärtliche Sorgfalt für die Seinen. Es jammert ihn der Mutter, für welche die Stunde gekommen war, wo das Schwert durch ihre Seele dringen sollte. Er sieht im Geist die Verlassene, Trostlose; er weiß, sie bedarf einer Hilfe, einer Stütze, wenn er, an dem ihre ganze Seele hing, von hinnen gegangen sein würde. Da spricht er freundlich zu ihr, nach seinem geliebten Johannes hinweisend: Siehe, das ist dein Sohn; er tritt an meine Stelle, er soll in deinem Schmerz dich trösten; in deiner Schwachheit dich unterstützen und dann blickt er den Freund an, der im stummen Schmerz über den Verlust des Geliebtesten am Kreuze steht und mit den Worten nach seiner Mutter gewendet: Sieh, das ist deine Mutter, macht er das köstliche Vermächtnis; ehrt den Freund, indem er ihn an seine eigene Stelle setzt und lindert dessen Schmerz, indem er ihm einen neuen Gegenstand seiner Liebe zeigt und zugleich Gelegenheit gibt, durch treue Erfüllung heiliger Pflichten gegen die Hinterlassene, seine Zärtlichkeit zu dem Geschiedenen, dessen teures Vermächtnis sie selbst ist, auch nach dem Tode desselben noch zu bewähren.

Welche zärtliche Sorgfalt für die Hinterbliebenen, wo Tausende nur an ihren Schmerz und selbst die Edleren an ihren baldigen Triumph über alles Elend der Zeit gedacht hätten. - Lasst uns hinschauen mit heiligem Ernst auf dieses Vorbild. Es erscheinen uns allen diese letzten Augenblicke. So wenig auch das Leben uns zum Streite rufen mag; einen Kampf, den Todes-Kampf müssen wir alle bestehen. Sie kommt auch uns, die ernste Stande, wo die Unsrigen weinend um unser Sterbelager stehen. Wir würden vielleicht dann freudig dem höheren Ruf folgen; läge sie nicht tausendfach auf uns, die Sorge für unsere Lieben, für ihr Heil, für ihre Beschützung, ihre ganze Zukunft. Wenn das Verlangen, den Geliebten, von denen wir uns trennen sollen, noch viel zu sagen, noch viel zu geben, unaussprechlich heiß einst in uns sein wird; dann lasst uns aufschauen zu ihm, dem Gekreuzigten, und tun, wie er tat. Lasst uns beten für sie und in des allliebenden Vaters Hände sie befehlen, wie er am Abend seines Scheidens tat. In bessere Obhut können sie nicht kommen, einen mächtigeren Beschützer für sie gibt es nicht. Lasst uns Gottes Segen für sie erflehen; können wir ihnen auch keine Schätze hinterlassen; wenn Gottes Segen sie begleitet, sind sie reich; wenn Gottes Geist sie regiert, sind sie beglückt und selig. Lasst uns dem Herrn vertrauen und vertrauen dem Edelmut treuer Freunde, die unsere Gesinnung und unser Leben mit uns verband. Wandelten wir nur vor dem Herrn; so werden wir wohl auch unter unseren Mitbrüdern den Freund nicht vergebens suchen, der der Bitte des Sterbenden Gehör gibt, seine Liebe zu uns, auf sie, die wir hinterlassen, überzutragen.

Am Kreuz des Erlösers lasst uns lernen, von den Geliebtesten scheiden und mit Geduld und Ergebung auch die Stunde des schmerzlichsten Abschiedes tragen, und dürfen wir dann noch den Glauben fassen, dass auch wir und die Unsrigen zu denen gehören, von denen der Herr sagte: Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die seien, die du mir gegeben hast, dass sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; was könnte dann unserer Ruhe selbst im Tod fehlen?

Froh geh ich, wenn es ihm gefällt,
Den Weg zu jener bessern Welt.
Euch sag ich, die ihr um mich weint:
Getrost, bald werden wir vereint!
Den Trost, o Jesu, dank ich dir,
Du brachtest ihn vom Himmel mir;
Du hast verheißen: Ihr seid mein;
Wo ich bin, sollt ihr ewig sein!

Am herrlichsten geht endlich die Liebe des Herrn aus dem Zwecke seines Todes selbst hervor; denn er ist ja

III.

ein freudiges Hingeben für das Heil aller. Selbstsucht, Eigenliebe sind die Hauptbeweggründe aller Handlungen bei so viel Tausenden unserer Mitbrüder, und uns selbst wird es so schwer, dieses Grundübel zu verbannen. Fast gewinnt es den Anschein, als ob es in unserer Zeit eine ganz besondere Herrschaft über die Geister gewinnen wollte und täglich die Scharen sich mehrten, die dem selben dienstbar werden. Tausendfache Veranstaltungen aus alter Zeit, Gemeinwohl zu begründen, stehen gleichsam als traurige Denkmäler eines Geistes der Liebe und der Aufopferung da, den unser Geschlecht nur dem Namen nach noch kennt. Das Streben von Tausenden geht ausschließend dahin, sich Bequemlichkeit, Genuss und Frieden zu sichern, und dagegen jede Art von Unannehmlichkeit von sich abzuhalten; - fremdes Glück, fremde Not, fremdes Elend wird selten ein Gegenstand zärtlicher Sorge. Niemand will sich etwas versagen; niemand entbehren, niemand Opfer bringen. Und, wenn wir auch von einer das Herz verödenden, allem edleren Gefühle erstickenden Selbstsucht noch nicht umgarnt wären: wenn wir innige Teilnahme empfänden an fremdem Glück, an fremder Not; wenn wir auch freundlich keinen Bedrängten von uns wiesen; mit Freudigkeit nach Kräften Elend milderten; Tränen trockneten; in Gefahren auf unsern Beistand nicht warten ließen; wo sind diejenigen zu suchen, welche von reiner Begeisterung für Menschenwohl selbst das Leben zu opfern bereit wären, wie es die höchste Liebe erheischt? - Am Kreuz des Erlösers finden wir diese höchste Liebe, welche sich freudig für das Heil aller aufopfert. Niemand hat größere Liebe, denn, dass er sein Leben gibt.

O dass der Blick auf den sterbenden Erlöser uns zu tieferer Erkenntnis unserer selbst führte und wir beschämt einsähen, wie wir so oft nur uns gemeint, nur an uns gedacht, nur für uns gesorgt, wo die Liebe ein Hingeben und Aufopfern für unsere Brüder erheischt hätte! O dass die Herzen aller unserer Brüder, welche die schnöde Selbstsucht verhärtet hat, erweicht würden und alle, die nach seinem Namen sich nennen, auf immer ihr entsagten.

Lasst uns heute nicht das Haus des Herrn verlassen, ohne den heiligen Entschluss unabänderlich gefasst zu haben, zuzunehmen an Liebe! Und angekommen in der Stille unserer Wohnungen, lasst uns auf unsere Knie niederfallen und flehen, dringend flehen, um Stärkung in dem Geist der Liebe. Leidenschaftsloser werde es in unserm Gemüt und was der Milde, was der Hingebung entfremdet ist, sei aus ihm verbannt. Stiller werde es in unsern Häusern und der Liebe Gefährte, der Geist des Friedens, ziehe ein; freundlicher und sanfter sei unsere Rede, mit den Erwählten unseres Herzens; bereitwilliger wollen wir uns finden lassen, aus Liebe zu dienen, aus Liebe Vorteile und Bequemlichkeiten aufzuopfern; ja ein Sinn der Liebe, der auch den Tod nicht scheut, wo es gilt, das Gebot derselben zu erfüllen, er werde uns eigen!

Auf, den Blick zu dir, Gekreuzigter; faltet euch ihr Hände; schwingt euch empor ihr Herzen zu ihm! - Ewig Dank sei dir, hochgelobter Sohn Gottes, der du aus Liebe für uns starbst; ewig Preis sei dir, der du liebend uns versöhnt, liebend für uns vollendet, liebend uns ewiges Heil gebracht hast! Unter deinem Kreuz geloben wir aufs Neue dir Liebe, und Liebe allem Guten, Liebe der ganzen Welt! - Du hörst unser Gelübde, du, unser Herr und Heiland! Bei dir ist Leben, Kraft und Stärke! - Ach, ströme auch uns Leben zu, Leben in reiner, heiliger Liebe! Stärke uns im Guten, rüste und aus mit Kraft in Schwachheit, erfülle Alle, groß und klein, arm und reich, vornehm und gering, mit dem heiligen Vorsatz, dir nachzufolgen, dir zu leben, dich zu lieben, im Leben dein, im Tod dein zu sein! - Amen.

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