Beecher, Henry Ward - Über die Fehler Anderer.

Beecher, Henry Ward - Über die Fehler Anderer.

Text: Gal. 6,2.
Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Der scheinbare Widerspruch dieser Worte mit denen des fünften Verses, wo es heißt: „Denn ein Jeglicher wird seine Last tragen“ hat Viele überrascht, ja verwirrt. Als ob beides nicht zusammen möglich wäre! Als ob ein Mann, der eine schwere Last zu tragen hat, für die er verantwortlich ist, dieselbe nicht gern erleichtert sähe durch einen Freund, der ihm zur Seite wandelt und ihm Hilfe anbietet! Oder als ob ein Kind, das einen vollgepackten Korb sorgsam nach dem ihm bestimmten Ziel tragen soll, nicht glücklich wäre, wenn ein kleiner Genosse freundlich den Henkel anfasste und mitginge! Kann man da nicht zu dem Einen sagen: „dies ist deine Last, die du tragen musst“ - und zu dem Anderen: „Hilf ihm seine Last tragen!“? Und doch gibt es Menschen, die dabei beharren, dass die Worte der beiden betreffenden Verse einen Widerspruch enthalten. „Einer trage des Anderen Last“ „denn ein Jeglicher wird seine Last tragen.“ Nein, hierin liegt kein Widerspruch, hierin ist völlige Übereinstimmung.

Auf jedem einzelnen Menschen ruht die Verantwortung, für sich selbst im Leben einzustehen, seine Leiden und Versuchungen zu überwinden. Sollte darin nun nicht Jeder, so viel in seiner Macht steht, dem Anderen helfen?

„Einer trage des Anderen Last“ heißt nicht, die Last von seinen Schultern hinwegnehmen, sondern ihm dieselbe durch unsere Unterstützung erleichtern. Wir sollen die Kraft, den Mut des Nächsten vermehren, ihm so viel Hilfe, als uns irgend möglich ist, gewähren, sei es durch Mitgefühl oder tätigen Beistand. Nicht die Lasten dem Nächsten einfach abnehmen, sondern sie ihm tragen helfen, das ist unzweifelhaft in dieser Stelle gemeint. Der weitere Zusammenhang zeigt es.

„Liebe Brüder, so ein Mensch etwa von einem Fehler übereilt würde,“ oder, wie es im Urtext heißt, „wenn ein Mensch strauchelt und fällt, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, die Ihr geistlich seid. Und siehe auf dich selbst, dass Du nicht auch versucht werdest.“

Von den Fehlern des Nächsten, von seinem Straucheln und Fallen ist also hier die Rede, von seinen Sünden und Vergebungen, gleichviel ob wir dabei an ein größeres oder geringeres Maß des Unrechts denken wollen. In Bezug darauf sollen wir barmherzig sein: Dem Apostel genügt es aber nicht, dass wir schlechthin christliche Barmherzigkeit ausüben; diese Barmherzigkeit soll den Stempel sittlicher Schönheit tragen. Es ist ihm nicht genug, zu sagen, dass wir einem Menschen wieder aufhelfen sollen; er verlangt, dass wir es so zart und liebevoll tun, mit so sanftmütigem Geist, dass unsere Hilfe auch wirklich wie eine Wohltat empfunden wird. Wir sollen nicht erst den Menschen, der gefallen ist, auslachen, ihn verspotten und lächerlich machen, und dann mit der Miene stolzer Überlegenheit zu ihm sagen: „Ich will Dir helfen.“ Nein, wenn ein Mensch fällt, so sollen wir ihn wieder aufrichten, als ob wir selbst gefallen wären; mit solchem Bewusstsein unserer eigenen Sündhaftigkeit, mit solcher Freundlichkeit und Zartheit, dass unsere Liebe Balsam und Heilung für ihn sei.

„Helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist; und siehe auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.“

In Verbindung mit diesen Worten ist das Gebot gegeben: „Einer trage des Anderen Last.“ Wenn dies auch die Lasten mehr physischer Natur, die alltäglichen kleinen Mühen und Leiden nicht ausschließt, so wird doch dadurch die volle Bedeutung des Sinns noch nicht erreicht. Was es auch sei, das einen Menschen niederbeuge, ihn ablenke von seinem gewohnten Gedankengang, von der Richtung seiner Empfindungen und der Beherrschung seiner Neigungen; welche Unvollkommenheiten und Schwächen er habe, welche Fehler, welche Vergehen er sich zu Schulden kommen lasse - das Gebot heißt: „Hilf ihm!“ Verletze ihn nicht durch scharfe Beurteilung! Vernachlässige ihn nicht, beschränke auch deine Teilnahme nicht bloß auf Tadel. Bedenke, mir sollen einander helfen, und es gibt keine Stelle, an der der Mensch mehr der Hilfe bedarf, als in seinem Inneren und in Bezug auf den bösen Hang, dem wir Alle so bereitwillig folgen. Feurigen Rossen gleich sind unsere Leidenschaften, und jeder Mensch bedarf bei der Lenkung dieser Rosse des Beistandes. Es ist unsere Bestimmung, uns einander bei dem größten Werk, das man nur zu denken vermag, zu helfen, nämlich in dem Streben im Guten fortzuschreiten, sich durchzuringen durch das Leben, und die dunklen Leidenschaften, die jeder in sich trägt, tapfer zu bekämpfen.

Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Dies Alles soll getan werden, weil es geboten ist, geboten durch das Gesetz Christi, welches ein Gesetz der Liebe ist. Aber ich glaube, kein Mensch kann es ohne Hilfe erfüllen. Es gibt ethische Schwierigkeiten, über welche unser Urteil unsicher hin und her schwankt. Wie sollen wir die Strenge mit der Güte, den Schmerz mit der Heilung vereinen; wann sollen wir tadeln, zurückweisen, Vorwürfe erteilen, wie uns ebenfalls zu tun geboten ist, um eine heilsame Wirkung zu erzielen? Und das Alles im Geiste der Liebe, Freundlichkeit und Zartheit! Das kann Niemand auf Befehl tun! Man kann keine Regel aufstellen, wie es getan werden soll. Die Liebe allein vermag es dem Menschen einzugeben! Wessen Herz einer Mutter gleich voll Liebe ist, wird handeln wie eine Mutter, welche es versteht, sich in immer neuer und mannichfaltiger Weise den Bedürfnissen und Zuständen der Kinder anzupassen.

Es ist die unendliche Flut der Liebe, die sie erfüllt und die sie befähigt sie zu leiten, trotzdem sie dieselben straft, tadelt, ihnen Vorwürfe macht, Verweise erteilt, sie hier zurückweist, dort heranlockt. Kein Mensch kann ihr sagen, wie sie das schwierige, mannigfaltige und schöne Werk vollbringen soll. Und doch gleicht nichts auf Erden der mütterlichen Leitung, die die Söhne zu Männern, die Töchter zu edlen Frauen erzieht. Kein Gemälde, das je von Künstlerhand gemalt, keine Bildsäule, die der Meißel hervorgebracht, kein noch so herrliches Denkmal der Baukunst deutet uns eine so tiefe und vielseitige, aus unendlicher Begabung entspringende Kunstfertigkeit an, als der Aufbau einer Menschenseele. Solch ein Bau ist erhaben, welchen Maßstab man auch an ihn lege! Eine Mutter vermag es, ihn aufzuführen; nicht durch Grundsätze, nicht durch Regeln allein, nein durch die einfache Ausübung der Liebe, die mehr ist, als alle Grundsätze und Regeln.

Der Apostel sagt: „So ein Mensch strauchelt, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist.“ Und wer hätte keine Fehler, wer strauchelte nicht, wer glitte nicht fortwährend aus? Da gibt es glatte Wege immerdar, auf denen der Mensch ausgleitet; Steine des Anstoßes überall, die ihn zum Stürzen bringen und Fallstricke, die seine Füße umschlingen es tut jeder Mensch unablässig Unrecht.

Gottes Wort sagt: „Wenn du Einen siehst, der sich weise dünkt, da ist an einem Narren mehr Hoffnung, denn an ihm.“ So gehen wir denn alle auf unrechten Wegen, allesamt und immerwährend! Darum sagt der Geist der Liebe und Weisheit: „Wenn Jemand Unrecht tut, hilf ihm zurecht; strauchelt er, richte ihn in die Höhe, fällt er, hebe ihn auf. Tue es mit sanftmütigem Geist; bedenke, dass du gleich ihm der Sünde verfallen ist; dass du gleich ihm der Hilfe bedarfst. Tragt Einer des Anderen Last; helft einander in Euren Schwächen, bewahrt einander vor unrechten Gedanken und tut das alles in dem großen Gesetz der Liebe, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Die christliche Frömmigkeit erweist sich nicht allein durch die Lauterkeit, durch den Abscheu vor dem Bösen in uns, sondern auch durch die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegen die Sünder. Doch nicht nur gegen die groben Sünder, die Verworfenen, die Verbrecher und die Lasterhaften - nein, auch in dem täglichen Umgang mit einander sollen wir zeigen, ob wir wahre Christen nach dem Vorbild Jesu sind. Da entwickelt und vermehrt der heilige Geist in uns den Geist der Liebe und des Friedens, der uns befähigt lindernd und heilend auf einander zu wirken.

Dabei ist es nun oft notwendig, ja die Pflicht erfordert es, zunächst die Schuld der Sünde an das Licht zu stellen. Wir dürfen nicht voraussetzen, dass die christliche Liebe, weil sie barmherzig ist, niemals tadelt, kritisiert und weh tut. Es ist ganz unmöglich, einem Kind in derselben Weise die Idee von Recht und Unrecht beizubringen, wie einem Erwachsenen. Die Strafe ist im ersten Falle oft das beste Mittel. Es mag dieser Weg hart erscheinen, doch ist er oft unerlässlich im menschlichen Leben. Schmerz und Strafe sind die natürlichen Folgen des Unrechts; wie Freude und Belohnung die Folgen des Wohlverhaltens. Wie viel Neigung zum Bösen, zur Unkeuschheit, Selbstsucht, Laune, zur Unehrlichkeit und Falschheit haben Eltern in den Herzen ihrer Kinder auszurotten! Die Erziehung eines Kindes ist vollständig verfehlt, wenn das Kind nicht gelernt hat, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Wenn es in diesem Punkt vernachlässigt wurde, so mag es sonst jede geistige und ästhetische Bildung sich angeeignet haben, dennoch ist das Wichtigste versäumt, und zwar meist deshalb, weil die Eltern den Hauptfaktor der Erziehung, die Strafe, nicht anwenden wollten.

Es ist unerlässlich, dass Erzieher und Lehrer bei der Erziehung ihrer Zöglinge und Schüler diesen den Unterschied zwischen gut und böse klar machen und ihre Empfindung dafür durch eigene Erfahrung und durch Strafe so schärfen, dass die Kinder nach und nach fähig werden, selbst diesen Unterschied zu finden.

Aber nicht bloß Eltern und Erzieher, auch die Obrigkeit bedarf der Strafmittel, um das Recht zu vertreten und es gegen das Unrecht zu schützen, und zwar sind diese Strafmittel, die ihr zu Gebote stehen, leider um so gröber und unvollkommener, je ausgedehnter das Gebiet ist, in welchem sie zu wirken hat.

Die Möglichkeit, allein die Liebe walten zu lassen, ist im Grunde nur denkbar in einem kleinen Kreis - in der Familie; und auch hier nur unvollkommen. Diese Möglichkeit zeigt sich schon weit geringer, wenn unsere Tätigkeit sich auf einen größeren Kreis ausdehnt. Wie stümperhaft aber unsere Mittel sind, tritt am stärksten hervor, wenn wir Gesetze und Einrichtungen schaffen wollen, die für das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft gelten sollen.

Die besten Gesetze sind fehlerhaft, die besten Einrichtungen offenbar unvollkommen, und nichts zeigt mehr die Unzulänglichkeit und elende Kraftlosigkeit der menschlichen Weisheit und des sittlichen Gefühls als der Versuch, das Gesetz der Liebe ausnahmslos bei einem ganzen Volk in Anwendung zu bringen.

Wir haben daher das Bewusstsein, dass die menschliche Gesetzgebung nur das Herumtasten nach Gerechtigkeit ist, dass die Gerichtshöfe nur sehr unvollkommene Urteilssprüche fällen, und dass die durch die menschliche Gesellschaft auferlegten Strafen meist empirisch und teilweise ungerecht sind. Unter zehn Menschen, welche eines gleichen Verbrechens wegen zum Zuchthaus verurteilt sind, finden sich kaum zwei, die mit gleichem Maß der Gerechtigkeit gemessen wurden. Bei diesem Menschen berücksichtigte man nicht die Naturanlage, bei jenem weder die Erziehungsverhältnisse noch die Versuchungen, denen er erlag; oder es wurde dem Umfang des Schadens, den er angerichtet, keine Rechnung getragen.

Jemand wird wegen Diebstahls auf ein Jahr, ein anderer auf fünf und ein dritter auf zehn Jahre verurteilt; und doch sind vielleicht die beiden letzten nach göttlichem Maß der Gerechtigkeit weit weniger strafbar, als der erste. - So fehlerhaft misst die menschliche Gesellschaft! Da gibt es keine Gleichheit, keine Übereinstimmung im Urteil, kein richtiges Maß zwischen Recht und Unrecht. Und dennoch handeln wir nach unserm besten Wissen und Vermögen. Ich würde es sicherlich nicht dulden, dass ein Mann meine Blumenbeete mit einer Egge bearbeite; nur die Hand ist im Stande, die zarten Blumen vom Unkraut zu befreien. Habe ich aber ein Kornfeld von zwanzig Morgen Land, so muss ich zu Hacke und Pflug greifen, die Hand tuts da nicht. Der Umfang der Arbeit zwingt mich, gröbere Instrumente zu benutzen.

Der Mensch pflegt den Maßstab der weltlichen Gerechtigkeit an die göttliche zu legen; von dem Begriff des irdischen Richters, aus den Fehlern und Unvollkommenheiten der menschlichen Gesellschaft schließt er auf den Charakter Gottes, sollte es aber anders machen! Nur aus den besten Eigenschaften des Menschen, wie er sich unter den günstigsten Umständen zeigt, können wir uns ein Bild der Natur Gottes, ein Bild seines moralischen Regierens machen. Die Familie, nicht die menschliche Gesetzgebung zeigt uns Gott in Christo. Es sind eben die Vatereigenschaften Gottes, die Christus uns offenbart hat, und diese sind leuchtend, unaussprechlich strahlend.

Ich sagte vorhin, dass wir unsere Teilnahme den Fehltritten der Menschen nicht versagen sollen; wir sollen ihnen trotz dieser Fehltritte hilfsbereit nahen. Es schließt dies, wie gesagt, nicht aus, dass wir zeitweise weh tun und Verweise erteilen müssen bei der Entwicklung der geistigen Kultur. Sie sind notwendig, die Liebe bedarf ihrer oft. Aber unsere Pflicht ist es, wenn wir weh tun, wenn wir tadeln müssen, es voll teilnehmender Güte, es nicht im Zorn, sondern mit barmherzigem, mildem Geiste zu tun.

Wir sollen den Menschen helfen, indem wir ihnen Schmerz verursachen - und um diesen Zweck der Hilfe zu erreichen, kommt es darauf an, dass diejenigen, denen wir wehe tun müssen, zugleich das Wohlwollen fühlen, welches wir für sie hegen.

Zur Ausübung einer einsichtsvollen Wohltätigkeit ist ein tiefes Gefühl für die Schwachheit und Sündhaftigkeit der Menschen unerlässlich. Je älter ich werde, um so mehr überzeuge ich mich von der menschlichen Sündhaftigkeit und erkenne, dass diese allgemeine Sündhaftigkeit zur Barmherzigkeit hinleitet. Wenn ich der Meinung wäre, dass alle Menschen der höchsten Vollendung fähig wären, so würde ich sie mit diesem idealen Maßstab messen; wenn ich wüsste, dass es der Mehrzahl von ihnen möglich wäre, sich über eine gewisse Mittelmäßigkeit zu erheben, so würde ich sie dieser Überzeugung gemäß beurteilen: aber da ich weiß, dass die Menschen allzumal schwach sind, dass sie aus Schwachheit in Sünde fallen, so messe ich sie mit dem Maß, welches dies Bewusstsein mir in die Hand legt. Ich lege meinem Urteil keine strenge Norm zu Grunde. Ich erwarte nicht, dass der Mensch Fest stehe, ich weiß es, dass er fallen wird, Ich weiß es, dass sein Verstand, sein sittliches Gefühl, mehr noch seine Leidenschaften und Begierden ihn in Sünde geraten lassen. Ich bin überzeugt, dass er oft unter Umständen sündigt, die dem Festhalten an der Tugend günstig waren; dass er aber dann sündigt, wenn eine Versuchung auf ihn einstürmt, weiß ich gewiss.

Es lebt kein Mensch, der nicht sündigt; es lebt kein Mensch, der nicht zum Sünder gemacht werden kann. Nicht jeder auf gleichem Wege und in gleicher Weise. Mancher wird am Essen und Trinken zum Sünder, ein anderer nicht. Und ist es nicht am Essen und Trinken, so sind vielleicht die Versuchungen des Reichtums die Ursache seines geistigen Verderbens. Es gibt überaus viele Menschen, die im Ganzen rechtschaffen genug sind - aber es ist eine Habsucht in ihnen, welche wie Feuer brennt, und diese wird in ihnen zur Ursache von Sünden - vielleicht nicht auf einmal, aber allmählig. Mancher schmilzt wie Blei bei niedriger Temperatur, andere sind aus festerem Stoff und bedürfen der feurigen Gluthitze um nachzugeben. Aber nachgeben tun sie alle. Die Einen durch ihre Neigungen und Sympathien, die Anderen durch ihren Stolz. Und war es nicht der Stolz, so verleitete sie die Eitelkeit. Und war es nicht die Eitelkeit, so machte sie ihre Gutmütigkeit, Liebenswürdigkeit und ihr Wohlwollen dem Unrecht willfährig. Der Eine sündigt auf diesem, der Andere auf jenem Weg! Hier oder da findet sich eine Fuge in jeder Rüstung, durch welche der Pfeil hindurchdringen kann. Es folgt hieraus, dass jeder Mensch der Versuchung ausgesetzt ist, und keiner fähig, sie aus sich selbst zu überwinden.

Wird nicht Gottes Gnade einen Menschen retten? Ja, die Gnade Gottes vermag es, aber ein Mensch aus eigener Kraft nicht. Er mag durch menschliche Unterweisung, er mag durch direkte Einwirkung des heiligen Geistes gerettet werden, die Wege zu seiner Rettung sind verschieden. Es fragt sich nur, wie groß ist die widerstrebende Macht, die dem Menschen innewohnt; mag sein Charakter noch so günstig angelegt, mag er noch so tugendhaft sein und noch so edle Lebensanschauungen besitzen, Keiner ist darum frei von Sünde. Es gibt keinen Menschen, der nicht bloß Fehlern und Schwächen, nein auch Lastern und Verbrechen ausgesetzt ist; nur dass sich nicht Alle der gleichen Art des Unrechts zuneigen.

Manche Menschen haben Hasennaturen, man kann nicht die Taten eines Löwen von ihnen erwarten, sie werden stets ihrer Natur gemäß handeln; andere sündigen den Füchsen gleich, durch List; noch andere durch Falschheit, den Schlangen gleich. Manche Menschen sind grob und ausfallend, andere fein und einschmeichelnd. Ein Jeder sündigt seiner besonderen Naturanlage und Neigung gemäß. Irgendwo findet die Sünde Eingang in jeden Menschen. Keiner kann auf seinen Nebenmenschen herabsehen und sagen: „Bah, dieser Auswurf der Menschheit, die elenden Kreaturen haben keine Spur von Charakter und Erziehung, sie brauchten nicht so zu sein, wie sie sind. Es ist weichliche Sentimentalität zu behaupten, der Mensch sei von Natur aus der Sünde unterworfen. Er braucht nicht zu sündigen.“ Wer so spricht ist selbst ein abtrünniger Sünder. Indem er die Menschen ohne Mitleid und Sympathie verdammt, ist er selbst ein Übertreter des Gesetzes Gottes, und steht voll in der Schusslinie jener furchtbaren Geschosse, die Christus entsendet, indem er sagt: „Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäern!“ Die Selbstsucht der moralischen Empfindung in den Seelen der Pharisäer war es, die jene fürchterliche Drohung auf sie herabzog.

In der Natur der heilenden Liebe liegt es indessen keineswegs, es mit den Übertretungen leicht zu nehmen - wenigstens sollte die Liebe das nicht tun. Das Mitgefühl, welches Christen mit ihren Mitmenschen haben, und welches sich auf die Überzeugung von der allgemeinen Sündhaftigkeit, Schwachheit und Verführbarkeit gründet, soll sie nicht verleiten, mit den Übrigen zu sündigen, sondern soll sie antreiben, heilend auf die Sünden Anderer einzuwirken. Geschieht das erstere dennoch, so ist es eben eine Verirrung der Liebe.

In unserem großen, nun glücklich beendeten Kampf war jeder Soldat, der in Reih und Glied stand, und sich dem Tod oder schweren Verwundungen aussetzte, ein Zeuge der Vaterlandstreue. Manch ein Gegner wurde vernichtet, manch Einer wurde verstümmelt und gefangen genommen, und in die Hospitäler auf unserer Seite gebracht. Da kam die sanfte Hand liebender Pflege. Es wurde in jener Zeit nicht für unweiblich gehalten, wenn die Frauen ihren Haushalt verließen, um sich dem Vaterland nützlich zu machen. Die Frauen wurden da nicht des Organisierens unfähig gehalten, als sie die ganze Nation nach umfassenden Systemen organisierten und sie so regierten, wie Männer es nie vermocht.

Wenn der Rebell im Hospital sich gepflegt findet, bei zunehmender Kraft und Gesundheit freundlich und liebreich behandelt sieht, so kehrt nach und nach sein Herz wieder zurück; so dass, wenn er durch die Tür des Zeltes oder Hospitals die alte Fahne wieder erblickt, Erinnerungen ihn überkommen, und Tränen auf sein Kissen niederfallen und er leise einstimmt in den Hurraruf, der zu der alten Fahne laut emporsteigt. So kehrt er wieder zur gerechten Sache zurück und liebt aufs neue seine alte Fahne. Sagt mir, war es nicht ebenso sehr, ja noch mehr die barmherzige Liebe, als das Schwert, die ihn von seiner Untreue heilte? Und war diese Barmherzigkeit nicht eben so ein Zeuge seines Unrechts als die rächende Phalanx? Der Knabe, der Unrecht tat, ist durch die Furcht vor der Strafe während des ganzen Heimweges schon gestraft. Da kommt der Vater; der Knabe empfängt seine Züchtigung, und damit ist es gut. Er hat seine Züchtigung, aber sie ist nicht halb so wirksam, als wenn er, heimkehrend von dem Ort der Übertretung, dem Auge seiner Mutter begegnet. Sie schlingt liebreich ihren Arm um ihn, blickt ihn voll treuer Sorge, voll des mildesten Vorwurfs an, und er, unfähig seinen kleinen beschämten Kopf zu erheben, birgt sich weinend in ihren Arm und sagt, wie traurig er ist. Sie aber küsst ihn und glaubt es ihrem lieben Kind. Ist diese Art der Züchtigung nicht besser, als die des Vaters?

Es ist damit nicht gesagt, dass nicht auch die Rute manchmal heilsam sei; aber im allgemeinen liegt weit mehr Wirkung in weise angewendeter Liebe. Es ist gewöhnlich nicht nötig, den Menschen das Bewusstsein ihrer Sündhaftigkeit noch mehr einzuprägen. Sie wissen meist, was ihnen not tut, und tragen ein beschwertes Gewissen mit sich herum. Sie haben ein Gefühl in sich, welches sie sich freilich hüten, ans Tageslicht kommen zu lassen. Kommt man solchen Menschen mit Tadel, so verteidigen sie sich aufs schärfste. Straft man sie, so bäumen sie sich gegen die Strafe auf.

Es pflegte Ehrensache bei uns Knaben in der Schule zu sein, standhaft die Strafe zu ertragen. Wenn ich mit Papierkugeln geworfen und den Lehrer (zu meinem Bedauern) verfehlt hatte, dann hervorgerufen wurde und zwanzig bis dreißig Schläge mit dem Rohrstock in die Hand erhielt, so ertrug ich sie ohne Zucken, wie ein Indianer; wusste ich nicht, dass alle Knaben hinter mir mich beobachteten und sagten: „Bravo, welch ein Held!“ und ging ich nicht zu meinem Platz triumphierend in meiner Bosheit zurück? - Ich begehe dasselbe Unrecht, mein Lehrer hält mich zurück und sagt mir in wenigen Worten, wie schwer es für ihn bei seiner schwachen nervösen Konstitution sei, der Schule vorzustehen, wie dieselbe ihm eine Bürde sei, und dass, wenn seine Schüler ihm helfen, es ihm leichter werden würde, und wenn er mit mir niederkniet und betet (ich könnte ihn auf den Knien anflehen, schlage mich, aber bete nicht) und sein ganzes Wesen ist voll Milde, so gelobe ich mir: „Nie wieder sollst Du sehen, dass ich auf Dich werfe, oder Dich irgendwie betrübe.“ Es war seine Güte, die diese Sinnesänderung in mir hervorrief. Die Menschen haben Ansichten, die auf beiden Seiten unrichtig sind. Sie glauben, dass Strenge unvereinbar mit Wohlwollen ist. Oft erfordert gerade das Wohlwollen die Ausübung der Strenge. Sie haben andererseits eben so unrecht, wenn sie meinen, dass ein Beweis von Güte, bei welchem nicht zugleich das Böse ausdrücklich verdammt und gestraft wird, den Spender zum Teilnehmer an der Übertretung macht. Ich gestehe, um einen Menschen zu warnen, muss man ihn auf sein Gewissen hinweisen, ihn vom Unrecht überzeugen und die Kraft in ihm erwecken, durch welche das Unrecht ausgestoßen und das Recht wieder eingesetzt wird. Doch die Güte ist es, die das Herz in einen besseren Zustand zur Reue und zum Besserwerden versetzt, als irgend etwas anderes. Dies alles hat man im häuslichen Leben schon längst in Anwendung gebracht, in gewisser Weise auch in der Theologie, wenngleich dieselbe nur in unvollkommener Weise davon reden kann. Empfindungen kann man nicht in der Form von Gedanken ausdrücken. Ich könnte ebenso gut Musik in Worte übersetzen wollen. Kann wohl ein Mensch, der nicht singt, einen Ton in Worten beschreiben und zeigen, wie lange er nachklingt? Kannst Du ein Dir fremdes Musikstück aus der Beschreibung kennen lernen? Vermagst Du, so dass sie in jedem Punkt und Pünktlein verstanden werde, den Strom einer mächtigen Liebe zu beschreiben, der so die Adern des Menschen durchwallt, dass er jedes Organ verklärt, sein Auge erleuchtet und zum kristallenen Spiegel macht, den Himmel herniederbringt und alle Dinge in idealem Licht zeigt, die vordem alltäglich waren? Kann dies irgend eine Sprache definieren, darüber philosophieren, in gewisse Systeme bringen, und kommt sie der wahren Empfindung nur annähernd nahe? Um solche undefinierbare Dinge wie die Regungen und Gefühle der Seele sind, in der Sprache der Gedanken auszudrücken und mitzuteilen, kann man nichts anderes tun, als eine Art Mnemotechnik anwenden. Man braucht Worte, welche den, der diese Empfindungen gehabt hat, an dieselben wieder erinnert, und sie von neuem in ihm hervorruft.

Die Gewalt und Macht der Barmherzigkeit kann kein Wort, keine Philosophie dem erklären, der sie nicht selbst aus Erfahrung kennt. Wir erfahren sie besser in den kleinen Begebenheiten des täglichen Lebens, als gewöhnlich in der Kirche, oder je in der großen Gesellschaft.

Der Nutzanwendungen dieser Wahrheit, die ich genugsam beleuchtet habe, gibt es viele. Einige von ihnen erlaubt uns die Zeit, noch zu betrachten.

Kein Mensch darf in seiner eigenen Frömmigkeit aufgehen. Keiner darf sich darauf beschränken, an dem Aufbau seines eigenen Charakters zu arbeiten. Keiner ist berechtigt zu glauben, dass er seine volle Pflicht erfüllt hat, wenn er sich selbst unbefleckt von der Welt erhielt. Viele Menschen versuchen es, und können es in gewisser Weise durchsetzen. Ein Mensch kann die Versuchungen zur Unrechtlichkeit vermeiden, wenn er sich von den Geschäften des Lebens zurückzieht und ein Einsiedlerleben führt. Ein Mensch kann aufhören neidisch, eifersüchtig und ehrgeizig zu sein, wenn er einsam lebt. Aber. das heißt die Tugend auf dem Weg der Selbstsucht erringen wollen. - Niemand aber hat das Recht, selbstsüchtig zu werden, um einen idealen Charakter in sich aufzubauen. Wir sind geboren, um zusammen zu leben und Niemand ist berechtigt die Pflichten des geselligen Lebens zu vermeiden. Im geselligen Leben hat Keiner das Recht, sich seinem Nebenmenschen zu entfremden, um seinen eigenen Vorteil durch die Trennung von der allgemeinen Gesellschaft zu erlangen. Der Mensch, dessen einzige Sorge es ist, dass seine Gedanken gerecht, sein Gewissen treu, seine moralischen Empfindungen zart werden, und der seine Neigungen rein und in innerer Übereinstimmung erhält, um harmonisch in sich und in Gemeinschaft mit Gott zu leben, der missbraucht die Frömmigkeit und wird durch dieselbe lediglich selbstsüchtig. Der Mensch ist verpflichtet, ebenso gut Andere zu erziehen, wie sich selbst.

Wir sind wie Auswanderer, die in buntem Gewimmel ihre Straße ziehen. Gott hat seine Geschöpfe in dieser Welt durch einander gemischt. Wir geben uns Mühe sie zu scheiden, und Gleiches mit Gleichem zusammenzubringen, aber Gott hält die Mischung aufrecht.

Alle Klassen der Bevölkerung sind zusammengemengt. Du kannst nicht die Armen von der Gemeinde absondern. Die Reichen mögen Land kaufen, Straßen anlegen, Häuser bauen, mögen sich fern von niederem Volk halten, und keinem Armen erlauben, ihnen zu nahen - bis zu einem gewissen Maß können sie es tun; bald aber wird auf diesem oder jenem Weg eine Ausgleichung geschehen. Die Armen sind unerlässlich notwendig für die Reichen. Die Wurzeln des Überflusses der Reichen erwachsen aus dem gewöhnlichen Volk. Das Leben eines Baumes ist abhängig von seinen Wurzeln. Wenn die Grundlage leidet, so leidet die Spitze mit. Und so hängen die Menschen von einander ab. Du kannst Dich nicht lossagen von Deinen Beziehungen zur menschlichen Gesellschaft. Wir sind vermengt, Gute und Böse, Ehrliche und Unehrliche, Gerechte und Ungerechte, Gewöhnliche und Vornehme. Man sagt oft davon, dass man der Menschen überdrüssig sei, mit denen man zu verkehren hat. Nun wohl wenn ich der Menschen überdrüssig bin, was soll ich tun? Genau dasselbe, was ich in anderen Fällen tue, wenn ich müde geworden bin. Ich gehe schlafen, ruhe aus, erfrische mich, stehe wieder auf, und gehe von Neuem an die verlassene Beschäftigung.

Man sehnt sich wohl nach einem Zusammenleben, wo alles Liebe, Wahrheit, Ehre, Edelsinn atmet. Ja wir wollen uns wirklich von Herzen danach sehnen, aber vorläufig werden wir nicht dahin kommen. Wir leben in einer Welt, wo es nach Gottes Wort Pflicht ist, dass der Starke den Schwachen trage. Es ist Pflicht des Lichtes, die Dunkelheit zu erhellen. Es ist die Pflicht der Gesunden, die Kranken zu pflegen; Pflicht der Redlichkeit, die Unredlichkeit zu bewachen. Die Festigkeit hat die Pflicht, nach dem Haltlosen und Schwankenden zu sehen, die Reinheit auf die Unkeuschheit zu achten. Es ist die Aufgabe jedes höheren Triebes, den Christus in die Seele des Menschen legt, denen gegenüber als Arzt und Heiland zu handeln, die mangelhafter begabt sind. Das ist das Gesetz der Entwicklung, welches mit der Herrschaft Jesu Christi übereinstimmt. Niemand hat daher das Recht, sich mit seinen Tugenden unter eine Glasglocke zu setzen, damit dieselben ihm ungestört etwas vorsingen können. Ihr müsst hineintauchen in den Kampf, und euer Los mit den Menschen teilen, ihnen helfen, wo sie gerade der Hilfe bedürfen, sei es auch oft in Dingen, die gerade Eurem Gefühl am wenigsten zusagen.

So wenig wir uns aber von der Ungerechtigkeit und Sünde zurückziehen dürfen, ebenso wenig dürfen wir uns nach den Worten unseres Textes der Ungerechtigkeit und Sünde freuen. Ich sah niemals, dass Einer im Sommer seinen Fuß entblößte, und aus Vergnügen mit Stecknadeln hineingestochen hätte. Ich habe wohl Menschen gesehen, die ihr Haar bürsteten, weil es ihnen Vergnügen machte. Im allgemeinen, wenn ich die Menschen sich mit irgend einer Liebhaberei beschäftigen sehe, sage ich: „Sie tun es, weil es ihnen Vergnügen macht.“ Deshalb, wenn ich einen Menschen jeden Mord, jede Kriminalgeschichte in der Zeitung lesen sehe, wenn ich einen Menschen jeden Tag schlechte Speisen genießen sehe, und Morgens, Mittags, Abends nach dergleichen haschen, so sage ich zu mir: „Er liebt es.“ Mein Gemüt empört sich aber, dass er sich der Ungerechtigkeit freut. Ich bin überzeugt, dass ein Mangel in seinem Gefühl sich diesem Auswurf zuneigt. Ich für mein Teil würde lieber meine Wohnung in der großen Abzugsröhre New-Yorks aufschlagen, als in den stinkenden Sümpfen der Kriminal-Kolonnen unserer Tagesblätter herumwühlen, welche täglich Kot, Schmutz, riechenden, faulen, verpesteten Kot aus der Hölle ausgießen. Wir breiten diese Blätter auf unsern Frühstückstischen aus, holen hier und dort etwas von der schädlichen Speise hervor, durchgehen alle Details der Verbrechen, der Laster und Vergehen, welche hier an die Oberfläche gezogen werden. Ich sage euch, eine reine Natur freut sich nicht der Ungerechtigkeit. In der Ungerechtigkeit ist etwas so Abstoßendes, dass eine gerade, aufrichtige Natur es nicht ertragen kann. Ist es nötig damit umzugehen, so mögen wir es wie der Wundarzt, der an Geschwüre herangeht, tun; nicht, weil er Geschwüre liebt, sondern weil er sie heilen soll; doch wenn wir das nicht vermögen, wenn wir nicht zur Heilung berufen sind, dann sollen wir Gott danken, dass wir uns nicht damit abzugeben brauchen. Ich bezeichne es als eines von den Dingen, worüber man staunen muss, dass so viel Menschen in der Gesellschaft, die sonst gut und rein sind, dass so viele weibliche Naturen, so viele, deren Tugenden im besonderen weit über die meinigen erhaben sind, doch eine so entschiedene Neigung haben, sich mit den schlechten Leidenschaften der schlechtesten Art von Menschen zu beschäftigen. Ich verstehe es nicht, ich kann es nicht verstehen, warum es gemein sein soll, den Staub und Schmutz im Hause zu berühren, und warum es nicht gemein ist, mit dem Schmutz und Abschaum der menschlichen Gesellschaft in Berührung zu kommen. Da ist noch immer ein Zug des Tieres in uns. Das wilde Tier ist heutzutage noch allzu mächtig im Menschen.

Dies Tragen der Lasten Anderer, in dem Sinn, in welchem ich es ausgelegt habe - in dem Sinn nämlich, dass man kein Vergnügen an den Fehlern und Schwächen Anderer haben, sie nicht kritisieren, sondern ihnen milde und liebreich aufhelfen soll, dies ist vorzüglich eine Pflicht, deren Sphäre das häusliche Leben ist.

Kinder necken gern einander, und finden leicht den Punkt heraus, wo sie geneckt werden können. Eins ist sehr für Lob empfänglich, die andern wissen bald wie sie es quälen können, sie benutzen seine Eitelkeit. Ein anderes ist stolz und seine Gefährten benutzen gerade diesen Stolz, um es zu beugen. Noch ein Kind ist selbstsüchtig, und die, mit denen es zusammen ist, suchen fortwährend seiner Sachen habhaft zu werden, nehmen sie ihm fort und ärgern es auf diese Weise. Oder ein Kind ist furchtsam, und seine Furcht ist das Instrument, wodurch es gequält und geneckt wird. Wie Furcht das schrecklichste Gefühl ist, das man haben kann, so ist das Spielen mit der Furchtsamkeit eines Kindes die grausamste Brutalität. Bei wie vielen Kindern, deren Gemütsart vorherrschend zur Furchtsamkeit neigt, wird dieselbe nicht erleichtert und durch Hilfe von ihnen genommen, sondern als Rute angewendet, um sie zu quälen und zu ärgern! Das ganze System des Neckens im häuslichen Leben ist dem Geist des Grundsatzes der oben ausgesprochen, entgegen.

Es gibt zwei Arten des Neckens, die eine süß und wohlmeinend, die andere bitter und verletzend. Da sind Menschen die Dich necken und im ganzen wünschest Du fast, dass sie es tun. Sie sind gewandt dabei. Sie tun es mit feinem Geiste, mit kluger Heiterkeit, und es ist ein Element des Wohlwollens darin. Es ist mit gütigem Interesse an Dir getan. Wenn der Mensch im Augenblick davor zurückgeschreckt, so hat die Erinnerung daran doch etwas Angenehmes Wohltuendes. Es ist nicht selten der Fall, dass ein Mensch dem andern durch Neckerei in einer Art Unterweisung gibt, selbst Kritik erteilt, die durchaus annehmbar ist. Andererseits die bittere Art der Neckerei ist mit verletzender Absicht verbunden und sie verletzt auch; und die geneckte Person empfindet sie unangenehm. Diese Art Neckerei ist abscheulich in der Familie. Die Eltern sind verpflichtet, nicht schlechtweg das Kind zu tadeln, sondern ihm seine Last tragen zu helfen; ihm ihre Stärke und Kraft zu leihen, wo es am schwächsten und leichtesten zum Fall geneigt ist. Ich glaube, dass unter gewöhnlich organisierten Kindern neunzehn von zwanzig das Lügen durch die Unbesonnenheit ihrer Eltern gelernt haben. Das Kind tut Unrecht. Es ist sehr empfindlich für Tadel und Strafe; es ist überzeugt, dass es unrecht tat. Was tat es denn? Es ging in die Speisekammer, und sah, roch, befühlte und kostete die frisch gebackenen kleinen Kuchen. Das war verboten! Es ist so etwas in jeder richtig angelegten Familie verboten! Das Kind ist in Verdacht geraten durch verschiedene Symptome. Es würde nun besser sein, wenn man sich daran erinnert, dass es ein kleines Kind sei, das die Tat vollbracht, und dass dies Kind für Scham und Schmerz empfänglich sei. Wenn die Eltern sich dessen erinnern und sehen, dass das Kind nicht zur Lüge eingeschüchtert ist, so kann es gerettet werden. Statt dessen heißt es: „George, warst Du in der Speisekammer?“ „Nein Mama,“ sagt George.

Was ist diese Lüge? Sie ist der unwillkürliche Schild, den das Kind emporhält, um sich vor der elterlichen Strafe zu schützen. Die Eltern lehrten es zur Selbstverteidigung lügen. Sie sollten sich zwischen das Kind und die Versuchung stellen, und auf der Hut sein, es nicht selbst durch unrichtige Disziplin, Laune und Leidenschaft in Versuchung zu führen. Es ist oft die Unvorsichtigkeit der Eltern, die die Wahrheitsliebe, welche im Herzen des kleinen Kindes Wurzeln fasst, unterdrückt. Wir sollen Einer des Anderen Last tragen, und kleine Kinder haben Lasten, die durch die hervorgesucht und getragen werden sollen, welche der Kindheit entwachsen sind - obgleich ich jene beklage, die auch ihrer Sympathie für die Kindheit entwuchsen. Sie selbst dem besten Teil ihrer selbst entwachsen.

Dasselbe Gesetz besteht zwischen Schulknaben und ihren Gefährten. Sie haben kein Recht sich gegenseitig lächerlich zu machen, und unnötigerweise zu beschämen und weh zu tun, und ihre schwächsten Seiten hervorzusuchen.

Es ist besonders boshaft, die starke Seite in uns gegen die schwache unseres Gefährten zu setzen. Hier ist ein Mensch der von der Natur besonders glücklich angelegt ist. Er zeigt die glücklichen Eigenschaften in sich vereinigt, die ihm von seinem Großvater, seinem Vater, von seinen Vorfahren väterlicher und mütterlicherseits, Generationen zurück, überliefert wurden. Er ist ein Sack in einer Mühle, welcher unten hängt, und Alles das in sich aufnimmt, was oben in den Mühlentrichter geschüttet wird. Die Tendenzen und die Erziehung ungekannter Generationen gehen auf ihn über. Er findet sich selbst intelligent und tatkräftig. Es ist leicht für ihn etwas zu vollbringen. Und er ist bis zum Tod durch seinen haltlosen Bruder gelangweilt, dem er nicht einmal, sondern zwanzigmal aufhelfen soll, und der doch immer wieder von Neuem zusammensinkt, und immer aufs Neue der Hilfe bedarf. Nun, wahr ist es, Du erbtest die Fähigkeiten, die ihm nie zu Teil wurden, und die Dich ihm so überlegen machen; sie überkamen ihn weder durch Erbschaft noch durch Erziehung. Er könnte ebenso wohl ohne Hilfe das leisten, was Du jetzt leistest, wie eine Mähmaschine Gras schneiden kann, wenn sie nicht in Betrieb gesetzt wird. Du aber, der Du aus unumgänglicher Notwendigkeit recht handelst, trittst ungerecht gegen den auf, der niemals recht handelt, und kritisierst, tadelst, ärgerst ihn, um endlich ihn aufzugeben und los zu sein, indem Du sagst: „Ich kann es nicht länger ertragen!“ Jeder starke Mann sollte sich eines oder zweier solcher haltlosen Menschen annehmen, und mit seiner fest gegründeten Kraft für ihre Schwachheit einstehen.

Die Menschen sagen: „O könnten wir eine Gemeinschaft haben, aus der alle diese Hindernisse, denen wir überall begegnen, ausgerottet wären!“ O ja, Ihr möchtet ein Zusammenleben haben, das Euch gleich einem bequemen Fuhrwerk durch das Leben brächte, ohne einen Zoll von Eurer Liebe und Eurer Glückseligkeit zu fordern. Aber diese Welt ist zu arm hierzu. Es ist eine Welt, in der wir einander Hilfe schuldig sind. Wir sind untereinander gemengt, die Starken und die Schwachen, die Weisen und die Narren, die Guten und die Bösen; wir müssen einander Wohlwollen erweisen, einander die Hände reichen, um gemeinsam auf dem rechten Weg zu wandeln. - Eine Person ist von Natur aus besonders ordentlich. Jede Schublade ist einem bestimmten Gebrauch angewiesen. Diese ist für Kragen, diese für Wäsche, diese für Schmuck und jene für Schuhe bestimmt. Jedem Platz ist so seine bestimmte Verrichtung angewiesen, wie dem Baume, Blätter hervorzubringen. Solch ordentlichem Wesen wird manchmal ein Kind geboren, das nicht ein Atom von Ordnung hat. Und die Mutter ist voller Entsetzen. (Die stehende Frage in jeder Familie ist: „Woher hat das Kind diesen Zug?“ Und die stehende Antwort des Vaters ist: „Von mir nicht“ - und der Mutter ebenfalls: „von mir nicht!“) - In geheimnisvoller Weise, ohne Zweifel von weit her, kam ein Tropfen Blutes hinein, der das Element der Unordnung in sich trug; nun bricht er in diesem Familienglied hervor.

Die Entwicklung von Charakterzügen in Anderen, die den unsrigen geradezu entgegengesetzt sind, dienen uns als Entschuldigung für unberechtigtes Tadeln und Strafen, da doch geboten ist, die Bürden Anderer zu tragen - in dem Sinn, dass man diese Lasten erleichtern und so das Gesetz Christi erfülle.

Ein von Natur trockener Mensch nimmt unendlichen Anstoß an Menschen, die eine natürliche Frische haben. Ein Mensch, dessen Zunge sich selten regt, und dann nur in einsilbigen Worten, kritisiert ernstlich den, dessen Zunge in fortwährender Bewegung ist, und der nicht auf Anregung eines Gedankens, sondern lediglich aus dem allgemeinen Impuls, etwas zu sagen, redet. Manchen Menschen ist die Neigung, zu reden, um zu reden, ebenso angeboren, wie Anderen die Neigung, zu schweigen, auch wo sie reden sollten. Ein energischer Mensch kann keine energielosen ertragen. Ein Mensch, der mutig und hoffnungsvoll ist und nur Erfolg vor sich sieht, wie verhöhnt der den furchtsamen und verzagenden Menschen! „Jener Bursche,“ sagst Du, „hatte Gelegenheit mit mir zu rivalisieren; aber er stand still, zauderte und tat nichts; nun ist er ein elender Wicht, während ich vorwärts kam und erfolgreich war.“ Du kamst einfach vermittels Deiner besonderen Organisation vorwärts. Du bist Deiner Konstitution zufolge mutig; Deine Sache war es, ihm von Deinem Mut etwas mitzuteilen, Du hättest seine Last tragen sollen. Du bist von Natur sanft und liebenswürdig, jener Mensch ist plump und rau; Du vermeidest ihn deswegen wie Du eine Klippe umgehen würdest. Das ist nicht recht. Du solltest Dich ihm mit Deinem Wohlwollen nähern, ihn damit bedecken, wie der Weinstock sich über den Felsen rankt, und denselben durch seine Blätter verschönt.

Dasselbe gilt von den Tugenden und Fehlern, die das Resultat der Lebensverhältnisse sind, in denen wir oder Andere sich bewegten.

Es gibt viele Personen, die heutzutage in offener Leichtfertigkeit durch die Straßen gehen, die der Herr Jesus Christus nicht so wie Dich verdammt, der Du in Deiner Reinheit unbefleckt geblieben. Der Grund davon liegt in dem Unterschied zwischen Deinen und ihren Verhältnissen, in dem Unterschied zwischen den Einflüssen ihrer und Deiner Kindheit.

Es gibt arme elende Weiber in New York, die Du Dir aus Sorge für Deinen guten Ruf keinen Schritt zu nahe kommen lässt. Es sind Personen, von denen Du zurück schreckst; und doch, wäre unser teurer Meister auf Erden, so würde er wahrscheinlich zu Dir sagen, was er einst den Pharisäern ins Angesicht sagte: „Die Zöllner und Huren mögen eher in das Himmelreich kommen als Ihr.“

Sie ererbten die hervorragenden bösen Eigenschaften. Sie wurden durch Eltern erzogen, die ihnen die Übertretung als kindliche Pflicht darstellten. Sie wurden unbeschützt jedem Windzug der Versuchung ausgesetzt.

Sie lebten unter Menschen wie Tiere unter Tieren, ohne Jemand, der sie belehrte, der ihnen half oder der ihnen Beistand gewährte. Ihrer Mutter Arme waren die Wiege der Ungerechtigkeit. Und auf ihren sündigen Lauf, der unter diesen Umständen so natürlich ist, wie das Abwärtsfließen eines Wasserstroms, sehen wir mit Abscheu. Hätten wir in ihren Verhältnissen gelebt, so würden wir vielleicht noch schlechter als sie sein. Wir sind besser als sie, nicht auf Rechnung irgend einer unserer Tugenden, sondern auf Rechnung unserer Organisation - weil es Gott gefiel, uns in eine Festung, sie aber auf offene Ebene zu stellen. Sie wurden gefangen genommen, während uns Steinmauern verteidigten. Unsere Lebensverhältnisse retteten uns.

Ich sage nicht, dass solcher Schutz nicht von Segen sei, er ist es. Aber wir sollten unser Urteil mäßigen. Wir sollten bedenken, wie viel wir unsern Mitteln verdanken, wie viel der öffentlichen Meinung um uns her; den Familien, mit denen wir umgingen; wie viel der Erziehung und dem, was Vater und Mutter an uns taten. Alle diese Dinge machten uns zu dem, was wir sind. Wir haben selbst nichts dazu getan. Durch Gottes Gnade wurden wir so. Wir dürfen das Gute in uns, das eine Gabe der Vorsehung ist, nicht dazu benutzen, um uns zu arroganten Kritikern, Verurteilern und Strafvollziehern Jener zu machen, die unter uns stehen, und die aus minder günstigen Umständen hervorgegangen.

Nun, da ich Euch genug Erklärungen gegeben habe, um Euch fähig zu machen, dies Prinzip auf alle Phasen Eures Lebens anzuwenden, lasst mich Euch sagen, dass ich in meiner eigenen Erfahrung eine Sache herausgefunden habe, die bei mir bessere Resultate erzielt und mir mehr geholfen hat, als irgend etwas anderes.

Ich bin von Natur heftig, streitsüchtig und verteidige mich gern. Wenn Jemand denkt, ich kann nicht zuschlagen, so beurteilt er mich gänzlich falsch. Natürlich, mein erster Impuls ist zuzuschlagen, aber je älter ich werde, desto weniger tue ich es. Geringer wird das Gefühl, Böses mit Bösem zu vergelten. Mehr und mehr fühle ich mich gedrungen, Böses mit Gutem zu vergelten, nach dem Beispiel Jesu Christi. Ich tue es in unvollkommener Weise, unter heftigen Versuchungen, dann und wann, vielleicht auch sehr oft unterliegend; aber das eine tue ich: „Ich vergesse was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu (Philip. 3.13.14.), um dies durch ein Leben der Duldsamkeit und Liebe Anderen zu offenbaren. Und das, was mir jederzeit hilft, ist die Frage: „Was tat Christus für mich? Was tue ich für ihn? Kann jemals ein Mensch zu mir kommen, der so verschieden von mir ist, wie ich es von Jesu bin? Welche Güte, Geduld, welch barmherzige Liebe, welch wunderbare schonende Gnade offenbart Christus mir gegenüber alle Tage, der ich in Beziehung auf ihn doch elend, ein Krüppel, des Hasses wert in Gedanken und Empfindungen bin, mit zahllosen bösen Taten behaftet! Und wer bin ich, dass ich es verweigern dürfte, einiges Wohlwollen, etwas Liebe und Güte auf die zu übertragen, die mich beleidigt haben?

Was heißt ein Christ sein? Es heißt den Geist Christi in sich tragen. Es heißt die Unliebenswürdigen lieben, den Feinden vergeben, denen helfen, die unvollkommen und hassenswert sind. Es heißt die Lasten Anderer tragen, die Schwachen ertragen und nicht selbstgefällig sein. Christi Kreuz in Liebe tragen, macht Euch zu Christi Jüngern, und nicht die Tatsache, dass Du dies oder ein anderes Glaubensbekenntnis hast. Brüder, wenn Ihr in Eurer Todesstunde auf Euren Lebensweg zurückblickt, denke ich nicht, dass Ihr Euch die Ansammlung Eures Eigentums mit Freude ins Gedächtnis zurückrufen werdet. Ihr mögt Euch nicht gerade mit Missvergnügen ihrer erinnern, doch wird sie Euch nicht in der letzten Stunde Trost bringen. Ich glaube nicht, dass die Lobsprüche, die Ehren oder die Bequemlichkeiten, die Euch zu Teil wurden, das Glück, dass Ihr erfahren, die Dinge sein werden, derer Ihr dann gedenken werdet. Aber wenn Euch in dem Augenblick, da der Vorhang des Jenseits sich vor Euch hebt, die Gedanken an die Menschen überkommen, denen Ihr halfet, der Armen, denen Ihr Euch als Freunde erwiesen, der Unwissenden, die Ihr gelehrt, der Kinder, die ohne Euren Beistand schmählich untergegangen wären, nun aber zu Ehre und Tüchtigkeit gelangt sind, wenn Ihr in dem Augenblicke, da der Glanz des langersehnten Landes zu Euch herniederstrahlt, das Zeugnis habt, dass Ihr das Leben, welches Ihr im Fleische lebtet, im Glauben und im Geiste Jesu Christi gelebt, und dass Ihr von der Erde eingeht zu Eures Herrn Freude - dann werden die Erfahrungen Eurer letzten Stunde so süß wie Engelstimmen für Euch sein. Wenn das Fleisch unterliegen will, so werden sich Scharen seliger Engel um Euch versammeln und Euch geleiten, Euch aufrecht erhalten und Euch heimbringen zu Ihm, von dessen Liebe ein Funke Euch zu wohltätiger Selbstverleugnung in Eurem Erdenleben geführt hat.

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