Huhn, August Ferdinand - Predigten über die heiligen zehn Gebote nach Luthers kleinem Katechismus - Zweite Predigt über das fünfte Gebot.
Wir stehen noch bei der Betrachtung des fünften Gebotes, meine Freunde. Ehe wir darin heute fortfahren, so hört das Gebot selbst, wie wir es aufgezeichnet finden:
2 Mos. 20, 13.
Du sollst nicht töten.
Luthers Erklärung:
Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden, noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibes-Nöten.
Der erste Teil des eben verlesenen Gebotes, oder was uns im fünften Gebote verboten wird, war letzthin der Gegenstand unserer Betrachtung. Lasst uns heute nun unter Gottes Beistande unser Augenmerk richten auf den zweiten Teil des fünften Gebotes, oder auf das, was uns darin geboten wird. Dieses lautet aber: wir sollen unseren Nächsten helfen und fördern in allen Leibesnöten. Oder mit anderen Worten: wir sollen unseren Nächsten lieben, als uns selbst.
Das Erste, worüber wir in dieser Beziehung zur Erkenntnis kommen müssen, ist dies:
wer nach dem Willen Gottes eigentlich unser Nächster sei?
Das Zweite:
wie nach dem Willen Gottes die Nächstenliebe beschaffen sein und geübt werden soll?
Das Dritte aber:
was einem zur Nächstenliebe dringen müsse?
I.
Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? So fragte einst ein Schriftgelehrter unseren Heiland. Jesus aber sprach zu ihm: wie steht im Gesetze geschrieben? was liest du? Der Schriftgelehrte antwortete so richtig, dass Jesus ihm nur sagen konnte: tue das, so wirst du leben. Doch eben dieses tue das! mochte ihm ein solcher Stachel im Gewissen sein, dass er nicht umhin konnte, zu fragen: wer ist denn mein Nächster, von dem das Gesetz sagt, dass ich ihn lieben soll, wie mich selbst? Darauf erzählte ihm der Heiland die Geschichte vom barmherzigen Samariter und setzte ihm in dieser Geschichte den Begriff des Nächsten so auseinander, dass es ihm wohl wie ein zweischneidiges Schwert durch die Seele dringen und ihm zeigen musste, wie es mit seinem bisherigen Tun und Halten des Gesetzes beschaffen gewesen.
Wir, meine Freunde, kennen auch Alle das königliche Gesetz von der Liebe; jeder hat es wohl auswendig gelernt und öfter hergesagt. Niemand hat dagegen etwas einzuwenden. Jeder ist davon überzeuget, dass es die Bedingung des ewigen Lebens sei. Aber dabei lässt man es denn auch gewöhnlich bewenden. Wenn es ans Tun gehen soll, wenn es gilt, nicht mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit zu lieben: dann hat man hundert Wenn und Aber; man kann den Nächsten nicht finden, wenn er einem auch, wie Lazarus dem reichen Manne, vor der Türe liegt, so dass man über ihn fallen möchte; oder man sieht den Nächsten sehr wohl, aber man geht mit dem Priester und Leviten an ihm vorüber.
Wenn das Tue das, so wirst du leben! aus dem Munde des Erlösers uns Allen doch auch ein Stachel in unserem Gewissen wäre, wenn es uns doch so recht klar und deutlich zeigen möchte, wie es mit unserem bisherigen Halten des fünften Gebotes eigentlich beschaffen gewesen! Wenn wir Alle, die wir das Gebot von der Nächstenliebe kennen, heute doch nur zuerst ganz redlich fragen möchten: wer ist denn nach Gottes Willen mein Nächster? wen soll meine Liebe umfassen? bis auf wen soll sie sich erstrecken? Habe ich mich in diesem Punkte nicht getäuscht? Habe ich mir nicht einen eigenliebigen Begriff davon gemacht?
Diese Fragen sind wichtig. Denn abgesehen davon, dass in der Welt durchgehend nur der Grundsatz herrscht, dass jeder sich selbst der Nächste ist, so ist doch auch bei denen, die in der Nächstenliebe stehen möchten, und bei denen, die sich derselben rühmen, der Begriff davon so engherzig, so fleischlich und selbstisch, dass der Sinn des göttlichen Gebotes darin nicht wieder zu erkennen. ist. Das Gewöhnlichste, worauf man alle Nächstenliebe zurückführt, was ist es? Ein Sorgen für die, die einem durch Fleisch und Blut angehören, ein Sammeln und Scharren für sie, ein Verzärteln und Verweichlichen derer, die das eigene Fleisch liebt. Das nennen Viele Elternliebe. (Zärtliche Seelen gegen das eigene Fleisch und Blut, aber lieblos und hartherzig gegen Alles, was nicht zu ihrem Hause gehört.) Die Ihrigen kleiden sie in Seide und köstliche Leinwand und lassen sie bedienen, können aber dabei ruhig zusehen, wie hundert Kinder hier und dort nackt und bloß herumlaufen. Für die Ihrigen wissen sie nicht, womit sie sie überraschen und ihnen Freude machen sollen, indes man bei der Nachricht von der Not und dem Elende Anderer höchstens nur ein mitleidiges Achselzucken hat. Man hat keine anderen. Nächsten, als die, die eben dem eigenen Fleische nahe sind. Sagt, wie passet das zusammen mit dem Worte Christi, wenn Er spricht: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Alle, die den Willen tun meines Vaters im Himmel. Oder wen betrachtet man sonst als den Nächsten? Nicht wahr, die, mit denen man am liebsten umgeht, mit denen man verkehrt, die man gut aufnimmt und von denen man wieder gut aufgenommen wird, von denen man etwas hat? Das sind einem die Nächsten. Den aber gerade als seinen Allernächsten zu betrachten, der einen mit nichts aufnehmen kann, von dem man nichts hat, das fällt einem wohl kaum ein. Wie passt das nun zusammen mit dem Worte Christi: So Ihr Euch nur zu Euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Machen es nicht also auch die Zöllner? Und wenn du ein Gastmahl gibst, so lade nicht solche, die dich wieder laden können, sondern rufe die Armen, die Nackten, die Hungrigen und Durstigen! Wenn nun ein solcher Nackter und Hungriger einem aufstößt, wenn ein Dürftiger Hilfe von einem begehrt, ist man da nicht, ehe man noch die Hand rührt, sehr geneigt, zu fragen: ja, wird er mir dafür auch dankbar sein, und wenn ich ihm leihe, wird er es mir auch wieder geben? Wie passt das zu dem Worte Christi: So ihr liebt, die Euch lieben, was habt ihr für Lohn davon? Tun solches nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr leiht, von denen ihr hofft zu nehmen, was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf dass sie Gleiches wieder nehmen. Leiht, dass ihr nichts dafür hofft. Oder man pflegt doch wenigstens zu fragen: Hat der und der es denn auch verdient, dass ich ihn unterstütze? hat er sein Unglück nicht selbst verschuldet? Wer weiß, warum Gott ihn so ins Unglück gestürzt hat, er mag es wohl verdient haben, er ist der Unterstützung unwürdig. Ja, er hat mich doch so oft beleidigt, er hat mich verleumdet, er hat mir so manches Ärgernis gemacht. Nun, wie reimt sich dies zu dem Worte: Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen. Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist. Und gib Jedem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will?
Seht, so kann es sehr wohl geschehen und geschieht auch täglich, dass einem der Nächste vor der Türe liegt, aber man sieht ihn nicht; man fällt über ihn, aber man erkennt ihn immer noch nicht. Man kommt über dem Fragen, wer ist mein Nächster? nicht zur Liebe desselben.
Wer ist denn nun im Sinne des göttlichen Wortes unser Nächster? Die Antwort darauf liegt in der Geschichte vom barmherzigen Samariter; das heißt, wir sollen nicht erst fragen, sondern jeder, der bei uns anklopfet, jeder, der uns begegnet, jeder, der unserer Hilfe bedarf, ist unser Nächster. Jedem sollen wir helfen und fördern in allen Leibesnöten, jeden so lieben, als uns selbst. Das ist der Sinn des göttlichen Gebotes. Davon heißt es: tue das, so wirst du leben. Danach prüfe nun ein Jeder, wie es mit seiner Nächstenliebe aussieht.
II.
Doch um zu prüfen, wie es um unsere Nächstenliebe steht, ist es nicht genug, dass wir nur zur Erkenntnis darüber kommen, wer nach Gottes Willen unser Nächster ist. Wir müssen auch zur Erkenntnis darüber kommen, wie die Nächstenliebe nach dem Willen Gottes beschaffen sein, wie sie geübt werden soll.
Auch darüber belehrt uns der Heiland in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Dieser Samariter reiste und kam dahin, wo der halbtote Jude lag. Als er ihn sah, machte er es nicht, wie der Priester und Levite. Er hätte wohl fragen können: ist denn dieser Jude auch mein Nächster, dieser, dessen Volk uns Samariter verachtet und hasst? Er hätte wohl denken können, was werden meine Landsleute sagen, wenn ich mit einem Juden Gemeinschaft mache? Er hätte wohl auch die Wichtigkeit seiner eigenen Geschäfte in Anschlag bringen können und dass Weib und Kind schon auf ihn warteten, wobei ihm das Sich-Einlassen mit dem hilfsbedürftigen Juden nur Aufenthalt und Zeitverlust war. Ja, er hätte auch so schließen können: die Juden rühmen sich ja, die auserwählten Kinder Gottes zu sein und verachten uns. Wäre dieser Jude, der da liegt, nun wirklich ein Kind Gottes, so hätte ihm solch ein schreckliches Unglück nicht begegnen können; Gott hätte ihn ja schützen müssen. Er ist also wohl ein Verworfener, er leidet wohl nur die Strafe seiner Sünden, er hat es nicht verdient, dass man ihm hilft. Durch solches und ähnliches (die Welt nennt das Vernunft und Klugheit) hätte der Samariter sein plötzlich erregtes Mitleid und sein Gefühl abkühlen und in Schranken halten können Aber nein, als er den Unglücklichen sah, da war kein Gedanke an sich selbst in ihm, er hatte nur ein Auge für die Not des Anderen, nur Gedanken und Gefühle für den Unglücklichen; es jammerte ihn seiner.
O prüft Euch, meine Freunde, ob es Euch auch jedes Mal so ist, wenn Ihr die leibliche und geistige Not Eurer Brüder seht oder davon hört, oder ob Ihr nicht durch Hunderte von Vorurteilen und selbstischen Gedanken jedes warme Gefühl erkaltet und erstickt, ob nicht der Gedanke an uns selbst immer nur der erste ist und dann allenfalls ein bisschen Mitleid hinten nachhinkt, und das auch vielleicht nur des Anstandes, der sogenannten Tugendhaftigkeit halber und um denn auch einige sogenannte gute Werke aufweisen zu können. Solches Wesen taugt vor Gott nichts. Davon sagt Paulus: und wenn ich auch alle meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze.
Doch es ließ sich der Samariter an seinem Jammergefühle über den Anderen nicht genügen; damit war dem Unglücklichen nicht geholfen. Er ging zu ihm. Er ging zu ihm. Dies Wort, Christen, gibt uns viel zu bedenken. Rühren wir auch die Füße, wenn uns die Not unserer Brüder zu Gesichte oder vor die Ohren kommt? Scheuen wir keinen Gang in die Hütten des Elendes, oder für die Witwen und Waisen, oder zu den Kranken und Sterbenden? Und wenn wir auch zehn Mal vergeblich gegangen sind, lassen wir uns dennoch zum elften und zwölften Male die Mühe nicht verdrießen? Und wenn wir zu den Notleidenden selbst nicht gehen können, gehen wir auch nur wenigstens jedes Mal, wenn wir von ihnen hören, für sie zum Herrn und rufen sein Erbarmen über das Elend unserer Brüder an?
Ach, Christen, was wird aus bloßer Bequemlichkeitsliebe von uns des Guten unterlassen, was wird aus Trägheit und Faulheit gesündigt! Man gibt wohl, wenn es einem gerade vorkommt, man trägt auch wohl zur Unterstützung bei; wie oft aber nur, um den Armen los zu sein und nicht weiter inkommodiert zu werden. Aber das Selbstgehen, das Selbst-Handanlegen, wie sauer wird einem das, wie hat man im Durchschnitte nicht einmal einen Begriff davon, man weiß gar nicht einmal (wenn man auch geneigt ist, zu helfen), man weiß nicht einmal, wie man es anfangen soll! Lehrt die Liebe nicht Alles? Wo aber solche Unwissenheit ist, wie kann da die Liebe sein?!
Doch weiter. Der Samariter verband dem Unglücklichen seine Wunden und goss darein Öl und Wein. - Er hatte wahrscheinlich keine Arznei-Wissenschaft studiert, er hatte vielleicht noch keinen Halbtoten in Kur gehabt, aber die Liebe erinnerte ihn an das, was helfen konnte, die Liebe lehrte ihn verbinden und Schmerzen lindern. Ach, Christen, wie viel Wunden gibt es leiblich und geistig zu verbinden, brennende, gefährliche und Tod bringende Wunden! Wie viele sieche, ermattete, elende Leiber gibt es, die der Stärkung bedürfen; wie viel verzagte, mutlose, todkranke Seelen gibt es, die Aufrichtung, Trost, Ermahnung, Belehrung, Warnung, Heilung nötig haben! Haben wir es nie gescheut, dem Nächsten jene leiblichen Dienste zu leisten? Und wo wir hinkamen, brachten wir das Öl und den Wein des Evangeliums für die verwundeten Herzen? Dachten wir auch nur stets beim Anblicke des Armen daran: er hat ja auch eine unsterbliche Seele, er liegt ja auch krank an dem Sünden Übel, seine Seele ist verloren, wenn nicht in ihre Wunden das Öl und der Wein des Evangeliums kommt, wenn sie nicht zu Christo, dem einzigen Arzte und Retter, gebracht wird? Oder waren wir damit zufrieden, wenn wir nur selbst den Trost des Evangeliums hatten, wenn es in unserem Hause nur christlich herging, wenn unsere Kinder nur die gesunde Milch des Wortes Gottes hatten?
Welch ein Stachel im Gewissen Aller, die wir uns Christen nennen, welch' ein Stachel muss uns der barmherzige Samariter sein! denn er geht in seiner Nächstenliebe noch weiter. Er lässt den Unglücklichen nicht in seiner Lage, er hebt ihn auf sein Tier, er führt ihn in die Herberge, er pflegt sein. Und da er fort muss und ihn selbst nicht mehr pflegen kann, gibt er, was er hat, dem Wirte, und bittet ihn, sich des Armen anzunehmen, und verspricht ihm, alle seine Mühe und Kosten zu ersetzen. Er gab vielleicht Alles, was er hatte, und doch hatte er noch eine Reise vor. Aber er fühlte die Not des Anderen wie seine eigene. Wäre er selbst in solcher Lage gewesen, er hätte ja für sich keine Kosten gescheut, um sich Hilfe zu verschaffen. Die Lage des Anderen fühlte er wie die seine. Darum konnte er nicht anders als Alles daran setzen, was er hatte. Er tat es im Vertrauen auf den lebendigen Gott, der ihm in der nächsten Stunde ja hundertfältig wiedergeben konnte, was er jetzt fortgab.
Was lernen wir aus allem diesem? Das ist die wahre Nächstenliebe, die nicht bloß gibt, nicht bloß im Augenblicke hilft, sondern die die leibliche und geistige Zukunft auch im Herzen trägt. O wie viele Seelen gibt es, die gerettet werden könnten, wenn sie, aus ihrer gegenwärtigen Lage herausgerissen, in eine andere Lage versetzt würden! Wie viele Kinder gibt es, die zu tüchtigen Christen erzogen werden könnten, wenn sie herausgerissen würden aus den Flüchen, aus den Sünden und Lastern ihrer Eltern, wenn sie gesammelt würden von den Straßen und Krügen, wo sie ihre Stätte haben und wo so viel Böses ihre Herzen vergiftet! Wie viel tüchtige Dienstboten hätten wir, wenn über die jungen Seelen, die der Armenschule entlassen werden, noch weiter ein mütterliches Auge wachte, wenn man sich um die, die man einmal unterstützt, nun auch weiter kümmerte! Es kostet oft so wenig Mühe, es kostet nur einen Gang, nur ein Wort, um diesen und jenen aus seiner traurigen Lage heraus zu bringen. Es gilt oft nur, die Hilfe anderer anzusprechen, nur sich eines Kleinen zu entäußern, ja es gilt, wo man selbst nicht Hand anlegen kann, die Sorge um die Zukunft eines Armen nur vor den Herrn zu bringen. Tun wir das, meine Freunde? So viele freie und müßige Stunden hat man, von denen man nicht weiß, wie man sie ausfüllen soll.
Ist auch nur eine derselben einer solchen Nächstenliebe gewidmet?
Mit Einem Worte: wer unter uns ist ein barmherziger Samariter? Wer liebt alle Tage und Stunden wie er? spreche doch Niemand von seiner Nächstenliebe; glaube doch niemand, durch seine Nächstenliebe den Himmel zu ererben, so lange seine Liebe nicht Zug für Zug jener Samariter-Liebe gleicht. Nur diese, und keine geringere, gilt vor Gott. Nur eine Liebe, welche nie das Ihre sucht, sondern das, was des Anderen ist; eine Liebe nur, die da segnet den, der ihr flucht, die da wohltut denen, die beleidigen und verfolgen, die da bittet für die, so sie hassen, eine Liebe nur, welche Alles glaubt, Alles hofft, Alles verträgt, eine solche nur kann vor Gott bestehen, eine solche gebietet Gott, eine solche ist des Gesetzes Erfüllung. Wer hat sie? Wer übt sie? Wer unter uns kann durch des Gesetzes Werke das ewige Leben ererben? Ich sage: Keiner. Nein, nicht ich, sondern der lebendige Gott sagt zu uns Sündern: Keiner,
III.
Gibt es denn nun gar keinen barmherzigen Samariter? Hat Keiner seinen Nächsten geliebt, als sich selbst? Hat Keiner das königliche Gesetz erfüllt? Ja, Christen, es gibt einen barmherzigen, einen ewig barmherzigen Samariter. Es gibt Einen, der seinen Nächsten geliebt, als sich selbst, und mehr, als sich selbst. Es gibt Einen, der das königliche Gesetz erfüllt, der mit seiner Liebe vor Gott bestanden, der durch seine Liebe Millionen von Sündern Gottes Wohlgefallen erworben. Einer ist der wahrhaftige Gott und der wahrhaftige Mensch, Jesus Christus; Er, den wir Erlöser, Heiland, Helfer, Retter, Seligmacher nennen. Er ist der barmherzige Samariter. Er verließ seine ewige Herrlichkeit, Er kam vom Himmel, Er erniedrigte sich zur Knechtsgestalt unseres sündlichen Fleisches und kam in unser Elend. Was trieb Ihn dazu? Er sah uns am Wege liegen, auf dem Wege der Verdammnis. Wen sah Er da liegen? Seine Feinde, seine Peiniger, seine Kreuziger. Aber sie waren unter die Mörder gefallen; ihre Sünden und Übertretungen, ihre bösen Lüste und Begierden hatten sie leiblich und geistlich zerrüttet und halbtot gemacht. Priester und Leviten, Gesetz und Opferdienst, Gebote und Satzungen waren wohl da und kamen immer noch dazu; aber wie sie kamen, so gingen sie auch kalt an den Halbtoten vorüber und halfen ihnen nichts. Hier und da wollte sich einer herausmachen, aber mühselig und beladen, zerknickt und verlöschend fielen sie wieder zu Boden. Das sah der himmlische Samariter und das jammerte Ihn. Es jammerte Ihn so, dass er weinte. Da fragte Er nicht: wer ist mein Nächster? Da ging er zu ihnen, zu den Verlorenen, Verirrten, Verdammten, Kranken und Halbtoten. Hört es, die Sünder sind nicht zuerst zu Ihm gegangen, sondern Er, unser Gott und Heiland, ist zu uns Sündern gegangen. Er hat sich unseres Elendes nicht geschämt; der Hungrigen, die kein Brot, der Nackten, die keine Kleider hatten, der Kranken, die mit allerlei Seuchen behaftet, der Seelen, die mit dem grässlichsten Gräueln befleckt waren, hat Er sich nicht geschämt, der wahrhaftige Gott. Er ist zu ihnen gekommen, Er ist mit ihnen umgegangen, Er hat ihr Los geteilt. Er hat selbst nicht gehabt, wo Er sein Haupt hinlegen konnte, und seine Freude ist es doch gewesen, Andere satt und reich zu machen. Er ist selbst voll Schmerzen und Krankheit gewesen und doch hat Er von Herzen gern jedermann gesund gemacht. Er ist selbst voller Wunden gewesen und damit hat Er uns geheilt. Er hat selbst zittern und zagen müssen, und doch hat Er, wo er nur ein zerstoßenes Rohr sah, es nicht zerknickt, und wo ein Döchtlein noch glimmte, dasselbe nicht ausgelöscht. Er hat selbst geseufzt unter der Last der Sünden der ganzen Welt (meine und deine und unser Aller Sünden haben ihn gemartert), und doch hat Er alle Tage die Mühseligen und Beladenen eingeladen und sie erquickt und Ruhe für ihre Seelen gegeben. Ja Er ist selbst ein Verfluchter, ein Verworfener, ein von Gott und Menschen Verlassener gewesen, und doch hat Er Niemanden geflucht, hat Keinen, der zu Ihm gekommen, hinausgestoßen, noch keine, keine Seele bat Er jemals verlassen. Er hat sich wie ein Verbrecher geißeln und martern und töten lassen, und noch hat Er keinen Sünder, der zu Ihm gekommen, wie einen Verbrecher behandelt, Er hat ihnen das Paradies gegeben, noch keine Seele, die seinen Namen angerufen, hat Er im Tode gelassen, Er hat Ihr Leben und Seligkeit gegeben. Und was soll ich noch mehr von unserem himmlischen Samariter sagen? Erzählt nicht jedes Wort im Evangelium von seiner Liebe, von seiner Liebe bis in den Tod, von seiner Liebe, die über Tod und Grab hinaus geht in alle Ewigkeit, wie sie beim Scheiden von der Erde für das Ihre gesorgt, wie sie das Beste gegeben, was sie hatte, sich selbst, den Geist, die göttliche Natur, Allen, die sich von ihr lieben lassen wollen, und wie sie beim Wiederkommen Alles, Alles noch geben will und wird.
Christen, seid Ihr jemals unter die Mörder gefallen gewesen, - und Ihr seid es Alle, denn Eure Sünden berauben und töten Euch täglich, habt Ihr je halbtot am Wege gelegen, Ihr habt Alle so gelegen, oder liegt noch so da, denn die Straße ist breit, die zur Verdammnis und zum Tode führt, und Viele sind, die darauf wandeln, mit Einem Wort: habt Ihr in der größten Not, in der wir Alle von Natur schmachten und aus der keine menschliche Macht und Hilfe, keine Moral und Tugend-Predigt, kein Priester und Levit uns helfen kann und helfen wird, habt Ihr in Eurer Sündennot die Barmherzigkeit des himmlischen Samariters an Euch erfahren? Wisst Ihr, wie Er in dem größten Elende sich Eurer nicht geschämt, wie Er bei Euren täglichen Sünden und Missetaten Euch nicht gelassen, wie Er immer wieder zu Euch gegangen, wie Er bedecket Eure Sünden und Schulden, wie Er geheilt die Wunden Eures Herzens, wie Er das Öl des Trostes in die zerquälte Brust geträufelt, den Wein des Glaubens und der Stärke in die verzagten Gebeine gegossen, wie Er Euch, da Ihr verirret in Sünde und Wollust, in Fleisch und Eitelkeit dahin ginget, wie Er Euch nachging, Euch auf seine Schulter nahm, Euch bis heute getragen mit allen Euren Sünden und Schwachheiten und Gebrechen, und Euch täglich geführt, wie elend Ihr auch wart, in seine Herberge, in seinen Freudensaal, in sein ewiges, himmlisches Reich, und wie Er täglich dafür gesorgt, dass seine Mühe an Euch nicht vergebens wäre, durch die Predigt und sein Wort und seine Gnadenmittel, durch Kirche und Seelsorge, wisst Ihr das, Christen, habt Ihr das erfahren, erinnert Ihr Euch dessen, steht es Euch lebendig vor Eurer Seele: dann, nun dann wisst Ihr etwas von dem, was Samariterliebe, was Nächstenliebe, was die Liebe Christi ist! Dann dürft Ihr aber nicht allein davon wissen, dann muss die Liebe Christi Euch dringen, dringen muss sie Euch, hinzugehen und desgleichen zu tun. Dann könnt Ihr nicht anders, dann müsst Ihr dem Nächsten helfen und fördern in allen Leibesnöten. Ihr müsst, oder Euer Wissen von Christo ist leer und tot, ist nichts wert.
Könnt Ihr Euch wohl denken, dass der unter die Mörder gefallene Jude (da er nachher gesund einherging), wenn nur ein Funken von Dankgefühl in seinem Herzen lebte, an einem halbtoten Samariter vorüber gegangen wäre? Nun, so geht auch Ihr, die Ihr halbtot wart und durch den himmlischen Samariter gesund geworden, geht auch Ihr nicht an der Not und dem Elend Eurer Brüder vorüber! Fragt nicht: wer ist mein Nächster? Jeder Arme, jeder Notleidende, jeder Elende, jedes verwahrloste Kind ist Euer Nächster. Wie, wenn Christus, Euer Retter und Helfer, nun halbtot am Wege läge, wenn Er an Eure Tür klopfte, wenn Er etwas von Euch bäte, würdet Ihr da noch fragen: ist Er auch mein Nächster? Würdet Ihr Ihn nicht für den Allernächsten halten, für näher noch, als Vater und Mutter, Weib und Kind? Nun, der Herr Jesus Christus tritt uns in allen Notleidenden entgegen. Wer sie aufnimmt, nimmt Ihn auf; wer sie speist und tränkt und kleidet, der tut es Ihm. Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist; ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt; ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt! so sagt Er selbst. Ja, der Herr Jesus erweist uns armen Sündern die unaussprechliche Gnade, dass Er sich von uns speisen und tränken und wohltun lassen will.
O, Christen, denkt doch daran! Was Ihr tut, wem es auch sei: könnt Ihr noch viel fragen, kann es Euch noch leid tun, könnt Ihr noch berechnen, noch geizen? Ihr tut es ja nicht den Menschen, Ihr tut es ja Ihm, dem Herrn. Und was Ihr Ihm tut, wahrlich! es wird Euch nicht unbelohnt bleiben.
Wisst Ihr nun, meine Freunde, was christliche Nächstenliebe ist? Von der Liebe Christi sich dringen lassen, Christum als seinen Allernächsten betrachten, Christum in jedem Notleidenden sehen und Ihm in jedem Notleidenden tun, wie Er uns getan hat, das ist christliche Nächstenliebe, das ist die Liebe, von der Paulus 1. Kor. 13. redet, das ist die Liebe, von der Johannes sagt: wir sind aus dem Tode in das Leben gekommen, denn wir lieben die Brüder. Diese Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Diese Liebe ist Gott selbst. Wer in ihr bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Nun, zu dieser Liebe verhelfe uns der ewig barmherzige Samariter, Jesus Christus, selbst; diese Liebe wolle Er ausgießen in unser Aller Herzen durch seinen heiligen Geist! Amen.