Tholuck, August - Die Auferweckung des Lazarus als eines der erhabensten Zeugnisse der Liebe und der Macht des Erlösers

Wir legen, meine Andächtigen, unserer heutigen Erbauung den Abschnitt als Text zu Grunde, welcher uns im Evangelio Johannis im 11ten Kapitel die Auferweckung des Lazarus schildert. „Es lag aber Einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethania, in dem Flecken Maria und ihrer Schwester Martha. (Maria aber war, die den Herrn gesalbt hatte mit Salben, und seine Füße getrocknet mit ihrem Haar, derselbigen Bruder, Lazarus, lag krank.) Da sandten seine Schwestern zu ihm, und ließen ihm sagen: Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank. Da Jesus das hörte, sprach er: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Jesus aber hatte Martham lieb, und ihre Schwester und Lazarum. Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er zween Tage an dem Orte, da er war. Danach spricht er zu seinen Jüngern: Lasst uns wieder in Judäam ziehen. Seine Jünger sprachen zu ihm: Meister, jenesmal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen? Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht, denn er sieht das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich, denn es ist kein Licht in ihm. Solches sagte er, und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wird's besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode; sie meinten aber, er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben. Und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm ziehen. Da sprach Thomas, der da genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: Lasst uns mit ihm ziehen, dass wir mit ihm sterben! Da kam Jesus und fand ihn, dass er schon vier Tage im Grabe gelegen war. (Bethania aber war nahe bei Jerusalem, bei fünfzehn Feldweges.) Und viel Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber ich weiß auch noch, dass, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spracht zu ihm: Herr, ja, ich glaube, dass du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin, und rief ihre Schwester Maria heimlich und sprach: der Meister ist da, und ruft dich. Dieselbige, als sie das hörte, stand sie eilend auf, und kam zu ihm. Denn Jesus war noch nicht in den Flecken gekommen, sondern war noch an dem Orte, da ihm Martha war entgegen gekommen. Die Juden, die bei ihr im Hause waren, und trösteten sie, da sie sahen Mariam, dass sie eilend aufstand, und hinaus ging, folgten sie ihr nach, und sprachen: Sie geht hin zum Grabe, dass sie daselbst weine. Als nun Maria kam, da Jesus war, und sah ihn, fiel sie zu seinen Füßen, und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen, und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist, und betrübte sich selbst. Und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm, und siehe es. Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt. Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, dass auch dieser nicht stürbe? Jesus aber ergrimmte abermals in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab! Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor, und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast: doch ich weiß, dass du mich allezeit hörst; sondern um des Volkes willen, das umher steht, sage ich's, dass sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazare, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst ihn auf, und lasst ihn gehen. Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren, und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.

Hat der Verkündiger des göttlichen Wortes einen Abschnitt der heiligen Schrift, wie der vorliegende ist, zu seinem Text gewählt, so hat er ein leichtes Geschäft. Predigt er in einer Gemeinde, welche die Schrift kennt, liebt, mit Andacht liest, so ist Keiner, dem ein solcher Abschnitt nicht schon lieb geworden wäre von Kindheit an, dem nicht die eine und andere Stunde seines Lebens vor das Gedächtnis träte, wo er bei Lesung eines solchen Abschnittes die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes Gottes im Geist geschaut hat. Heilige Gedanken und Gefühle früherer Zeit sammeln sich in seinem Gemüte. Mit geistigem Hunger und Durst hängt der Zuhörer an der Lippe des Verkündigers, der Prediger spricht vor geöffneten Herzen, und das macht das Predigen leicht. Die Geschichte der Auferweckung des Lazarus ist nun gerade eine solche, welche vor vielen anderen zu allen Zeiten bei empfänglichen Gemütern die Ahnung geweckt hat, dass Jesus sei der Christ und der Eingeborne vom Vater. Viele Menschen sind durch diese Geschichte zuerst zum Anfang eines festen Glaubens an ihn geleitet worden, und von einem weltberühmten Zweifler, Spinoza, wird uns das Wort berichtet, dass, wenn er diese eine Geschichte nur glauben könnte, auch die ganze Wahrheit des Christentums ihm unzweifelhaft sein würde. Was ist es nun, das dieser Geschichte eine solche Gewalt über die Gemüter erteilt? Ist es dies, dass Christus einen Toten auferweckt? Aber auch den Jüngling von Nain, und das Töchterlein des Jairus hat er ins Leben gerufen. Sind es die großen und erhabenen Reden, welche dabei über seine Lippen geflossen sind? Es ist wahr, Ein Wort spricht er bei dieser Veranlassung aus, was Keiner hören kann, ohne ihm anzufühlen, dass es nicht ein gewöhnlicher, menschlicher Mund war, aus dem es quoll, und das unwillkürlich die Knie beugen heißt vor dem, der es ausspricht: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe“. Doch außer diesem Einen erhabenen Worte finden sich nicht gerade mehrere andere. Zweierlei ist es, wenn ich mich nicht irre, was gerade dieser Wundergeschichte eine solche Macht über die Seelen verliehen hat: bei keinem anderen Wunder liegt die Seele Jesu uns so aufgeschlossen da, wie bei diesem; bei keinem anderen wird die Liebesfülle, die in seinem Herzen wohnte, während er die Tränen der Menschheit trocknete, so offenbar; dann aber auch: nirgend sonst ist eine so ungeheure Tatsache, dass ein vom Weibe Geborner als ein Überwinder in die Gräber tritt, und mit einem Wort dem Tod seine Beute entreißt, mit einer solchen Anschaulichkeit und zugleich Schlichtheit erzählt, welche Jeden nötigt, anzuerkennen, dass hier Wahrheit ist. So lasst uns denn als eines der erhabensten Zeugnisse beides, der Liebe und der Macht des Erlösers, die Auferweckung des Toten im Grabe von Betanien betrachten.

Es führt uns unsere Geschichte in einen schon sonst wohlbekannten Kreis. Es ist die Familie jener Martha und Maria, welche ihr schon aus dem Ev. Lukas (Kap. 10.) habt kennen lernen. Es sind die beiden Schwestern, welche als Abbilder zweier Klassen von Seelen in der evangelischen Geschichte dastehen: jener Jüngerseelen, deren Liebe zum Heilande sofort in die äußere Tat übergeht, und derjenigen, welche in stillem Sinnen und innerer Geschäftigkeit ihrem Meister dienen. Es ist jenes Betanien, wohin der Heiland in der letzten Leidenswoche am Abende sich zurückzuziehen pflegt in den Schoß von Gemütern, die in kindlicher Ehrfurcht jedem seiner Worte als einem aus dem ewigen Leben stammenden und zu demselben wieder führenden lauschen, nachdem er am Tage das Widersprechen der Sünder und die Arglist der Feinde ertragen und überwunden. Auch tritt uns sofort auf eine liebliche Weise ins Licht, wie brüderlich vertraut und innig das Band gewesen, welches den Heiland an die ihm lieben Seelen knüpfte. So wie manche Familie, welcher das Haupt entrissen ist, einen teuern weisen Familienfreund hat, der in allen besondern Nöten herbeigerufen wird, so haben sie an Jesus einen solchen Freund. Ein Notfall, eine Krankheit - sofort ist ihr Gedanke auf den göttlichen Meister hingerichtet, der in aller Not Rat weiß. Kaum ist Lazarus erkrankt, so senden sie ihren Boten nach diesem Helfer in der Not. Jesus ist in Peräa, eine Tagereise weit entfernt. Bei dem Eintreffen der Botschaft zeigt sich uns das erste Rätsel in unserer Geschichte, „Die Krankheit ist nicht zum Tode“, lässt der göttliche Freund den betrübten Schwestern sagen, und doch sehen sie den teuern Bruder, nachdem kaum diese Botschaft an sie gelangt ist, im Tode erblassen. „Die Krankheit ist nicht zum Tode“, spricht der Herr, und dennoch sagt er nach zweien Tagen selbst: „Lazarus ist gestorben“. Das sagt er, und hat doch noch zwei Tage gesäumt, ohne zur Hilfe zu kommen. Es darf uns gar nicht wundern, wenn wir in der Geschichte des Herrn dergleichen Rätseln oftmals begegnen - ebenso wenig aber dürfen sie uns Wunder nehmen, als die Rätsel in der Natur. Sind alle Rätsel in der Natur uns nur das Zeugnis dafür, dass der Geist, der ihren Gang ordnete, unermesslich größer ist, als der unsrige, der ihn erklären will, so ist auch das Rätselvolle in Jesu Handlungsweise nur ein Zeugnis dafür, dass seine Wege und Gedanken über die unsrigen erhaben sind. In diesem anscheinend harten Verfahren erweist sich zuerst in unserer Geschichte, wie das Wunder, welches den Leib aus dem Grabe sich erheben ließ, zugleich die Seelen derer, die ihm lieb waren, von der Erde zum Himmel heben sollte. Was Härte und Grausamkeit in dem gewesen wäre, der dem Tode, wenn er sie einmal hatte, seine Beute hätte lassen müssen, nämlich zwei Tage noch zu harren, ehe dem Freunde Hilfe gebracht wird, ist liebende Weisheit in dem, welchem, wie die Krankheit und die Gesundheit, so auch der Tod und das Leben als Diener gehorchen müssen. Es sollte gerade dieses Wunder die ohnehin schon im Glauben gewurzelten Seelen zur Vollendung bringen, und darum erspart ihnen auch der Herr nicht den harten Seelenkampf, der in ihnen entstehen musste, wenn der Bote, welcher sein Wort überbrachte: „die Krankheit ist nicht zum Tode“ mit der Botschaft des Todesengels zugleich eintraf. Wie mancher unter euch wird es wohl wissen, wie solche Momente im Leben, wo Gott mit sich selbst in Widerspruch getreten zu sein scheint, gerade die innersten und tiefsten Entfaltungen des göttlichen Lebens herbeiführen. - Zwei Tage weilt Jesus, während sein Freund den Todeskampf ringt, noch in der Fremde, dann kündigt er es seinen Jüngern an: „Lazarus, unser Freund, schläft, und ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke“. Vor dem Blicke seiner Seele ist dieser Tod nur ein Schlaf. Dass er das Sterben gemeint habe, können seine Jünger nicht denken; denn warum hätte er sonst geweilt, wenn es noch Zeit war? An sein höheres Wissen sind sie aber so gewöhnt, dass sie auch in diesem Augenblick voraussetzen, der abwesende Kranke sei seinem Blicke gegenwärtig, und er schaue den sanften Schlummer, der zur Genesung führt. Not einen charakteristischen Zug erwähnt uns die Geschichte, ehe sie aufbrechen. Auf die Besorgnis, dass in Judäa seiner der Tod warte, hat er in einem dunkeln, rätselhaften Worte geantwortet, durch welches ihre Besorgnis so wenig beseitigt worden, dass Einer von ihnen - es ist derselbe Thomas, der an den Auferstandenen nicht glauben will, bis dass er die Hände lege in die Male seiner Wunden - verzweiflungsvoll seinen Genossen zuruft: „Lasst uns mitziehen, dass wir mit ihm sterben“. Der schwachgläubige Jünger kann auch hier nicht glauben, aber - zurückbleiben, wenn der Herr vorwärts zieht, und wäre es auch in den Tod, kann er auch nicht. Seht, mit welchem unwiderstehlichen Zuge auch seine schwachen Kinder an ihn gekettet sind. Sie ziehen mit ihm, und ginge es auch in den Tod!

In Betanien ist das Haus mit Trauer erfüllt; um die beiden Schwestern sind die Verwandten versammelt, und Alles weint. Die Herzen aber der beiden Schwestern, die hatten auch wohl noch einen anderen Kampf, als den um den geliebten Toten, den Kampf, dass - o schrecklich zu sagen! - ihr Freund, ihr Jesus ihnen einen falschen Trost gesendet! - Kaum hat Martha vernommen - ihr kennt sie, jene tätige, zum äußern Werk immer rüstige Jüngerin - dass der Freund kommt, so eilt sie hinaus, ihm entgegen, während Maria allein sich ihrem Schmerz hingibt. „Herr, wärst du hier gewesen“, so ruft Martha dem Freunde zu, da sie ihn ansichtig wird, „mein Bruder wäre nicht gestorben, aber ich weiß auch noch, was du von Gott bittest, das wird dir Gott geben.“ Du kindliche Seele, du hast im Tode den geliebten Mund erblassen sehen trotz des Wortes deines Freundes und Herrn; vier Tage birgt ihn schon das kühle Grab, und nichtsdestoweniger hast du ein - Dennoch. O dieses Dennoch, meine Geliebten, dieses Dennoch, wenn auch schon die Gräber sich geöffnet haben und die Schauer der Verwesung angebrochen sind, dieses Dennoch, das ist die Himmelsleiter, auf der die Engel hinauf- und herniedersteigen zu einem glaubenden Gemüte.

Überall findet ihr es in den Zeugnissen gläubiger Seelen. „Und ob Tausend fallen zu deiner Seite und Zehntausend zu deiner Rechten; dennoch wird es dich nicht treffen“, ruft der Psalmist. „Es ist nicht fein, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde“, hat der Herr zum kananitischen Weibe gesprochen. „Ja Herr, aber dennoch - ruft der schwergeprüfte Glaube - essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herren Tische fallen“ - Der Martha Glaube ist groß, und doch hüllt sich das Heil noch in Wolken. Er wird auferstehen, heißt es, aber wie? wann? Dass dereinst auch er sich erheben werde, wenn die Posaune durch alle Gräber dringt, ist wohl auch ein Trost, aber sie braucht einen kräftigeren - jetzt, jetzt fehlt ihr das treue Bruderherz, fehlt ihr der treue, starke Arm, der sie trage und stütze, bis auch sie sich in die stille Kammer niederlegen wird. Da erschallt vor ihr, gleich als ob ein Gott vor ihr stünde, das unvergängliche Wort: „ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.“ Brüder, wer ist der, der in seiner eigenen Person den Tod überwunden tragt, in dem und aus dem Kräfte der Auferstehung quellen? Ist er unsers Gleichen? Hätte ein Staubgeborner, wie ihr und ich, ohne zu erzittern, dieses Wort über seine Lippen bringen können - o wie hätte sein eigener letzter Todeskampf auf dem Krankenbette, wie hätte der Staub der Verwesung das frevelnde Wort zu Schanden gemacht! Nein, Erlöste Gottes! der vor euch steht, das ist der, von welchem die Kirche bekennt: „Kündlich groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit, Gott ist erschienen im Fleisch“. Es ist der Held, welcher gesagt hat: „Ich habe Macht, mein Leben zu lassen, und es wieder zu nehmen“. Es ist der, welcher mit einem: „Es ist vollbracht!“ nicht als ein Knecht, sondern als ein König, der sich selbst gefesselt hat, dem Tode sich in die Hände gibt, und der über dem Staube der Verwesung die Fahne des Sieges schwingt! Und wer anders, als der das Bewusstsein hat, der Herr zu sein über den Tod und über das Leben, hätte das sterbliche Geschlecht - diejenigen, welche, wie die Schrift sagt, „Knechte der Todesfurcht waren ihr Lebelang“- zur Gemeinschaft mit sich selbst einladen können, um den Tod zu überwinden? Dass der Herr mit dem oft wiederholten Worte, wer an ihn glaube, der sterbe nicht, die Seinigen der Erfahrung des natürlichen Todes nicht überheben will, spricht er hier aufs Deutlichste aus, wenn es heißt: „er wird leben, ob er gleich stürbe“. Nur das also will er sagen, dass der Glaube an ihn wie ein Kanal sei, durch welchen unvergängliches, göttliches Leben in uns überströme, welches den Tod überdauert, und dort erst seine wahre Entfaltung hat. Und wenn nun nach einem so himmelhohen Worte Christus die Martha fragt: „Glaubst du das?“ - will es uns nicht bedünken, als ob er vor Kindesarmen eine Unermesslichkeit ausgebreitet hätte, und fragte: „Kannst du das umfassen?“ Aber Freunde, auf dem Gebiete des Glaubens umfassen Kindesarme mehr, als die des Mannes. Der Verstand des Weibes hat es sicher nicht umspannt, was dieses Wort vor ihr ausbreitet; ist aber ihr Verstand dafür zu klein gewesen, wahrlich ihr Herz war groß genug dafür. „Ja, Herr, ruft die Kindesseele, ich glaube, dass du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist!“ Und in dem Glauben liegt ihr Alles. Noch weiß sie nicht, was geschehen wird, aber überschwängliche Ahnungen, wie sie ja überall da aufsteigen, wo die Seele endlich mit voller Gewissheit sagen kann: „Ja Herr, ich glaube, dass du seist der Christ!“, durchziehen ihr Herz. Mit der geliebten Schwester muss sie das volle Herz teilen; sie sagt ihr nicht, dass er ihn auferwecken werde, und auch Maria, als sie herbeieilt, verlangt es nicht; die sanfte, stille Seele begnügt sich mit der Klage: „Wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“. Was er weiter tun will, überlässt sie ihm. Ja glaubt mir, das ist ein seliger Zustand, wenn das Herz voller Betrübnis ist und voller Wünsche, und kann sich doch in Gottes Hände und Wege ganz hingeben ohne Wünsche, und ohne zu verlangen!

Noch ein Blick tut sich uns hier in die Seele Jesu auf. Zu zweien Malen heißt es: „er ergrimmte im Geist“, oder, wie der Urtext sagt: „er wurde tief im Geiste bewegt“, dass auch sein Körper erschütterte. Und bald darauf heißt es: „es gingen ihm die Augen über“. Welches Gefühl hat die Brust des Göttlichen so erschüttert? Was lockt die Träne in seine Augen? Ist es derselbe Schmerz, der aus der Schwestern Augen die Tränen presst? Ist es der Schmerz, dass er den geliebten Freund nicht mehr auf der Erde weiß? Aber wie? wenn seit vier Tagen seine Seele der Gedanke bewegt hatte, dass jetzt der Augenblick käme, wo der Glaube die Herrlichkeit Gottes sehen sollte? Wie? wenn bei dem nächsten. Schritte zum Grabe die Fesseln, welche den geliebten Toten hielten, brechen sollten? Da hätte der Schmerz den Göttlichen übermannen können, dass der Freund nicht mehr auf Erden sei? Es ist unmöglich. Unser Text sagt uns, dass er erschüttert wurde, als die Tränen und der Klageruf der Schwestern und der Freunde den Toten bejammerten. Nicht eigener Schmerz, nicht eigne Trauer hat seine Seele erschüttert, vielmehr stellt sich in diesem Augenblicke vor seinen Geist aller der Jammer und das Elend, von dem das kleine Menschenleben umringt ist. Der Menschheit fließen seine Tränen, der Menschheit Jammer bewegt seine göttliche Brust. O wie oftmals mag sein Herz geblutet haben bei dem Jammer und Elende derer, deren Fleisch und Blut er angetan, wo die Geschichte es uns verschwiegen hat? Hier hat sie uns einmal einen Blick in das mitfühlende Herz dessen tun lassen, der jetzt unser barmherziger Hoherpriester ist, zur Rechten Gottes des Vaters.

Jetzt sind sie am Grabe. - Eine lange unterirdische Höhle zog sich hin, zu beiden Seiten derselben Öffnungen, in denen mit Binden umwunden die Leichname lagen. Ein Stein deckte den Zugang. Noch jetzt sind die Schwestern ungewiss, was geschehen wird. Den Modergeruch ihm zu ersparen, ruft Martha ihm zu: „Schon hat die Verwesung begonnen, vier Tage liegt er im Grabe“. Erst da tritt der Liebesratschluss des göttlichen Helfers, der aus dunkler Verhüllung sich näher und immer näher offenbart hatte, ganz aus seiner Hülle hervor: „Habe ich dir nicht gesagt, so du glaubtest, würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen“? Erlöste Gottes, und wenn ihr am heutigen Tage aus diesem Tempel kein anderes Wort mitnähmet, nehmt das Eine mit: „Habe ich dir nicht gesagt, so du glaubtest, würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen“! Wenn über den Gräbern, und wenn über der Verwesung dieses Wort seine Wahrheit behält, o welche Jammernacht in unserem Leben kann so düster sein, dass es nicht wie ein helles Morgenrot hineinbräche! Wenn auch hinfort jeder Ausgang deinem Blicke sich verschließen mag, ob auch Berge sich auf Berge türmen mögen, ob Sturm, Ungewitter und Wogen gegen dich streiten: verzagende Seele - „habe ich dir nicht gesagt, wo du nur glaubtest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ -

Der Herr über Leben und Tod tritt zur Grabeshöhle hinzu, sein Mund preist den Vater für die Erhörung, noch ehe sein Auge sie gesehen. Eine menschliche Stimme ruft in die stille Kammer, wo noch kein Schlafender auf menschlichen Ruf erwacht ist: „Lazare, komm heraus!“ ^ und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllt mit .einem Schweißtuch. Was da in dem Herzen der Schwestern vorgegangen sei, als der Glaube die Herrlichkeit Gottes offenbar gesehen, davon schweigt die Geschichte. Auch von den Empfindungen berichtet sie uns nichts, mit welchen fortan der Auferstandene neben dem Freunde hingegangen, dem auch der Tod gehorchen muss. Hat das Auge der wieder vereinten Familie von der Stunde an mit noch ehrfurchtsvollerer Scheu an Jesu gehangen, ist die Liebe nun eine viel hingebendere gewesen, wie wir dieses aus dem bald darauf erzählten Zuge schließen dürfen, wo Maria ein ganzes Pfund köstlicher Narde vor ihm ausgießt, und mit ihrem Haar seine Füße trocknet - wer mag dann den Kampf schildern, als sie denselben königlichen Mund, welcher in die Gräber das Leben rief, am Kreuze erblassen sahen, und als er in die Gruft getragen wurde, ohne dass eine Stimme da war, die diesem Toten hätte zurufen können: „Lebe!“ Die Geschichte berichtet uns nichts Weiteres, weder von den Schwestern, noch von dem Auferstandenen. Möglich, dass das neugeschenkte Leben mit verjüngter Kraft über die gewöhnliche Grenze des Menschenalters hinausdauerte. Ein Bischof aus dem Anfang des zweiten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung erzählt uns, dass noch zu seiner Zeit solche, welche der Erlöser aus den Gräbern gerufen, als lebendige Zeugen übrig wären zur Beschämung des Unglaubens.

„Viele der Juden, heißt es, welche zu Maria gekommen waren, und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“ Glauben wir an ihn? Glauben wir an ihn als den, dem auch die Gräber sich öffnen müssen? O glaubt an ihn! Dann habt ihr einen lebendigen Trost, wenn ihr euch gestehen müsst, dass euer Herz noch nicht aus dem Todesschlafe auferstanden ist: „Wenn du nur glaubtest, würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen!“ Dann habt ihr einen lebendigen Trost, wenn Tränen und Jammer um euch her, und in der sichtbaren Welt die letzte Hoffnungsstütze bricht: „Wenn du nur glaubtest, würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen!“ Dann habt ihr einen lebendigen Trost, wenn vor euch selbst euer eigenes Grab sich auftut: „Wenn du nur glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen!“ Du glaubst und du siehst, wie auf dem Staube der Verwesung dein Heiland die Siegesfahne schwingt! –

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