Krummacher, Gottfried Daniel - Das Haupt der Gemeine (1)

Krummacher, Gottfried Daniel - Das Haupt der Gemeine (1)

Erste Predigt

„Was machst du aus dir selber?“ Diese Frage taten die entrüsteten Juden an den Herrn Jesum nach Joh. 8,53., der da gesagt hatte: „So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich,“ worauf sie ausriefen: Nun erkennen wir, nun ist's uns klar, daß du den Teufel hast, wie sie schon ihm einmal gesagt hatten. Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sagst: so jemand mein Wort wird halten, der wird ewiglich nicht sterben? Bist du mehr als Abraham und die Propheten? Was machst du aus dir selbst? Sie glaubten also, Jesus stelle sich viel zu hoch, er maße sich etwas Ungebührliches an, so daß sie nach Steinen griffen.

Wunderbares Menschenherz! Wie erscheinen sie so heilig, als abgesagte Feinde aller ungebührlichen Selbsterhebung, gegen die ihr ganzer Sinn sich empört. Es ist ihnen keine Heuchelei, keine fromme Anmaßung, keine erzwungene Scheinheiligkeit, es ist ihnen großer Ernst. Und doch sind sie in der großen Selbsterhebung begriffen und hätten wohl fragen mögen: Was machen wir aus uns selbst? Und was machten sie aus sich selbst? Starke, die des Arztes nicht bedurften, Heilige, die keinen Seligmacher, Sehende, die keinen solchen nötig hatten, der ihnen die Augen öffnete. Sie machten sich zu Richtern des Sohnes Gottes selber. Sie irrten sich nicht, sondern er hatte Unrecht, sie Recht; er hatte den Teufel, sie waren von Gott; sie waren fromm, er gottlos; sie rechtgläubig, er ein Samaritaner.

Doch wir entlassen die Juden mit Spr. 27,19: „Wie das Bild im Wasser ist gegen das Angesicht, also ist eines Menschen Herz gegen das andere.“ „Es ist hie kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollten,“ um uns zu uns zu wenden und zu fragen: Was machen wir aus uns selbst?

Zuvörderst bemerken wir, daß das nicht gilt, was wir, sondern was Gott aus uns macht, denn

So viel wird der Mensch nur taugen,
Als er gilt in Gottes Augen.

Jesus blieb derjenige, der er war, und die Juden waren das, was Jesus von ihnen sagte, vom Teufel. Leute, die sein Wort nicht kannten, die seine Sprache nicht hören konnten, die ihm darum nicht glaubten, weil sie nicht von Gott waren und aus dieser Ursache nicht hörten und Jesum verunehrten, sie mochten das an sich kommen lassen wollen oder nicht. Wir sind auch diejenigen, die wir sind, wir mögen aus uns machen, was wir wollen. Was machst du denn aus dir selbst? Wofür hältst du dich? Vielleicht hast du dich hierüber noch nicht besonnen, und es gehört am wenigsten zu deinem Überlegen, was du aus dir machst, und was du von dir halten sollst. Vielleicht bist du auch sehr wenig geneigt, oder gar wohl sehr abgeneigt, damit aufs Reine zu kommen, glaubst wohl sogar, es sei weder nötig, noch nützlich. So viel ist gewiß: Je mehr wir aus uns machen, desto weniger sind wir; für je frömmer wir uns achten, desto gottloser sind wir, und gerade um so viel schlechter wie andere Leute, als wir besser wie sie zu sein glauben. Je mehr wir zu können meinen, desto weniger können wir wirklich; je mehr wir in geistlichen Dingen zu wissen glauben, desto weniger wissen wir, welches alles so weit geht, daß, wer sich dünken läßt, er sei etwas, noch nichts ist, wie er es sein sollte. Wo soll es denn hinaus? Da hinaus soll's: Wenig und immer weniger, bis zuletzt gar nichts aus uns zu machen, und so viel und immer mehr und endlich alles aus Jesu zu machen.

Juda, du bist es, dich werden deine Brüder loben. Deine Hand wird deinen Feinden auf dem Halse sein; vor dir werden deines Vaters Kinder sich neigen. Juda ist ein junger Löwe. Du bist hoch gekommen, mein Sohn, durch große Siege. ER hat niedergekniet und sich gelagert wie ein Löwe und wie eine Löwin; wer will sich wider ihn auflehnen?

1. Mose 49,8.9

Bei Erwägung dieser Worte achten wir auf folgende vier Stücke:

  1. Auf die redende Person,
  2. auf diejenige, von welcher hier die Rede ist,
  3. wie, und endlich,
  4. was von ihr geredet wird.

Die redende Person ist der Erzvater Jakob, der nun 147 Jahre alt, krank und dem Tode nahe war; er führte auch den merkwürdigen Namen Israel, den ihm Gott selbst bezeichnet hatte, der ein Fürst Gottes bedeutet, und den er, wie er selbst sagt, bekommen, weil er mit Gott gerungen hatte. Er redet als Prophet und weissagt, weshalb er V. 1. sagt: Versammelt euch, daß ich euch verkündige, was euch begegnen wird in künftigen Zeiten. Seine leiblichen Augen waren dunkel geworden, daß er natürliche Dinge nicht wohl unterscheiden konnte, desto schärfer sah er in geistlichen Dingen, und blickte heller und klarer in die Zukunft, obschon er das nicht wohl erkannte, was im Natürlichen ihm nahe war. Er redete nicht aus eigenem, sondern aus göttlichem Antrieb, in Gottes Namen, in göttlicher Kraft und Autorität, und wie er's sagte, so geschah es auch.

In sonderbarer Stellung, nämlich in kreuzweis über einander gelegten Armen, hatte er seine beiden Enkelsöhne gesegnet, als sollten seine Arme auch auf den wahren Ursprung alles Segens, auf das Kreuz Christi hinweisen.

Obschon nicht in dieser körperlichen Stellung, durch ein auf Gott gerichtetes Gemüt, das er in den Worten zu erkennen gab: „Herr, ich warte auf dein Heil,“ segnete er, der von Gott gesegnete Vater, seine zwölf um ihn her stehenden Söhne.

Hier ist die Rede von seinem vierten Sohne, dem Juda, doch nicht bloß von seiner Person, sondern, wie bei allen, seine Nachkommenschaft mit eingeschlossen. In derselben ragte besonders einer hoch hervor, von dem Bileam aus göttlicher Eingebung mit Recht sagte: „Es wird ein Stern aus Juda aufgehen,“ ja, den Maleachi der unvergleichlichen Sonne vergleicht, von dem Paulus sagt: „Von Juda ist unser Herr aufgegangen“ (Hebr. 7,14), und den ein himmlischer Ältester den Löwen aus dem Stamme Juda nennt, der überwunden habe, weshalb Johannes nicht weinen sollte. Dieser unvergleichliche Eine ist hier vorab gemeint, wie es auch David von ferner Zukunft verstand, als ihm der Herr durch Nathan die Verheißung gab nach der Weise eines Menschen, der Gott der Herr ist. 2. Sam. 7,19. Von Jesu Christo ist auch hier die eigentliche Rede, der als der Held aus Juda entspringen, und dem die Völker anhangen sollten, wie der Erzvater nach V. 10 weissagt. Wie redet er deswegen von Juda? Mit ganz besonderer Auszeichnung. Dreimal nennt er ihn mit Namen, ihn nennt er Sohn, bei ihm hält er sich am längsten auf, gegen ihn setzt er alle anderen zurück als unbedeutend, wenn er sagt: Juda, du bist's und sonst ist's keiner. Vor dir ist niemand, denn du bist das A, nach dir ist keiner, denn du bist der letzte, neben dir ist keiner, denn du bist's allein, du bist's, von dem die Schrift von Anfang an zeugt. Du bist's, von dem alles Heil kommt, du der, in dem alle Fülle wohnt, du derjenige, durch welchen wir allein zu Gott kommen, derjenige, zu dem alle Ehre zurückkehrt; du bist's, und kein anderer, denn es ist in keinem anderen Heil. Wendet euch deswegen zu mir, so werdet ihr selig, denn ich bin Gott, und sonst keiner! Ist Moses groß: Hier ist noch ein Größerer, denn jener war nur ein Knecht, dieser der Sohn und der Herr über alles. War Salomon groß: Hier ist noch mehr denn er. War der Tempel groß, heilig und geehrt, wußte man sich viel damit, daß man rief: Hier ist des Herrn Tempel, hieß die ganze Stadt um seinetwillen die heilige, brachen selbst die Jünger über den Anblick in lauter Bewunderung aus, hier ist, der noch größer ist denn der Tempel. Er ist ein Sohn, der mit Recht wunderbar heißt, denn er ist der Sohn Gottes und der Menschen. Er ist höher denn die Engel, die ihn alle anbeten, und zu deren keinem er gesagt hat: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeuget. Gibt's Propheten, so ist er derjenige, von dem gesagt wird: Den sollt ihr hören. Gibt's Könige, so heißt's von ihm: Dein Stuhl, o Gott, währet von Ewigkeit zu Ewigkeit! Gibt's Priester, so gilt doch sein Opfer allein. Jesu, du bist's, du bist der einzige Arzt der Kranken, unter dessen Händen sie auch alle ganz genesen; du die einzige Hoffnung der Elenden, die sich ohne dich einer gänzlichen Verzweiflung preisgegeben sehen; du die gewünschte Zuflucht der Mühseligen und Beladenen, die außer dir so wenig wie Noahs Taube finden, wo ihr Fuß ruhen kann. Du bist der Trost Israels. Du bist der, der als der Aufgang aus der Höhe denen erscheint, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes; du der helle Morgenstern, welcher Licht in ihre Finsternis sendet; du bist der große Hirte der Schafe, der sich der Hilflosen annimmt, das Verirrte sucht. Du bist's, der den Müden Stärke und Kraft genug den Unvermögenden gibt, der die müden Seelen erquickt und die hungrigen Seelen sättigt. Die Kraft der Schwachen bist du, und die Gerechtigkeit der Verdammten, die Heiligung der Unreinen, die Weisheit der Toren und die Erlösung der Elenden. Bist du es nicht, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist? ist nicht über dir der Geist des Herrn? Hat er dich nicht gesalbt? Sei uns tausendmal willkommen! Denn so hat man Ruhe, so erquickt man die Müden, so wird man stille. Juda, ja, du bist's! Nicht unsere Weisheit ist es, die für die schlimmste Torheit gilt, nicht unsere Kraft, die uns nur zu Starken macht, die des Arztes nicht bedürfen, und die wir verlieren müssen. Nicht unsere Gerechtigkeit ist's, die für ein unflätig Kleid geachtet wird, nicht unsere Heiligkeit und Werke, die wir aus uns selbst verrichtet haben. Dies alles ist der Weg nicht, ist das nicht, was gilt, was Stand hält, was beruhigt, sondern du bist's, und wer dich hat, hat alles. Du bist es, mag man dich auch nicht dafür anerkennen, mag man fragen: Was soll uns dieser weisen, was gut ist? Aber, Herr, erhebe du über uns das Licht Deines Antlitzes! Du warest es dennoch, mochten die Deinen dich auch nicht aufnehmen, sondern dich der Hohn, der Geißel und dem Kreuze hingeben. Ja, eben dadurch wurdest du es, was du uns Armen sein solltest. Und du bist es dennoch, mögen Menschen von dir halten, was sie wollen, weil die Sonne bleibt, was sie ist, obschon der Blinde sie nicht sieht. Du warst es, von dem Moses im Gesetz und die Propheten zeugten, du, den die Apostel predigten. Du warst es, auf den alle Gläubigen sich verließen, und bist es auch noch immerdar, zu dem alle Elenden ihre Zuflucht nehmen. Du bist es, stets der nämliche an Macht und Güte, an Huld und Gnade; wie man dich weiland erfuhr, so erfährt man dich noch; wie du weiland halfst, stärktest, tröstetest, heimsuchtest, so tust du es noch. Wie man sich weiland an dich wenden dürfte, so darf man's auch noch. Du bist es, auf den alles ankommt, von dem alles abhängt. Wärest du nicht, so gäbe es kein Volk Gottes, so gäbe es kein Überwinden, keine Weisheit, keine Gerechtigkeit, keine Heiligkeit, keine Seligkeit; so gäbe es kein gutes Werk, ja keinen guten Gedanken, so wie keine Gnade bei Gott, keine Vergebung der Sünden, kein Heil. Du bist es, dem wir's zu verdanken haben, daß es dies alles gibt, daß es Überwinder gibt, die in allem weit überwinden, Weise gibt, gegen deren Weisheit niemand stehen kann, die alles wissen, Starke gibt, denen alle Dinge möglich, und Gerechte, an denen keine Verdammnis zu sehen, Heilige, an denen kein Flecken, und Selige, die sich allerwege freuen. Dies alles, so wie jedes gute Werk, jede gute Gesinnung, ja jeder taugliche Gedanke, entstehet von ihm. Wohl mag's zu demjenigen heißen: Du bist's. Du bist's, den ein jeglicher für sich haben muß.

Suche Jesum und sein Licht,
Alles andre hilft Dir nicht!

Er ist's, sollst du deshalb noch etwas sein, so mußt du's durch ihn. Ist er's, so müssen wir aufhören, damit er alles und in allem wird. An diesem Du hing der alte Erzvater mit ganzer Seele. ER war's, mit dem er einst in finsterer Nacht gerungen hatte, weinend und betend, an dessen Halse er mit verrenkter Hüfte hing, dem er erklärte: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, und den er daselbst segnete. Der war's, an den ihn jeder hinkende Tritt, den er nach verrenkter Hüfte tun mußte, erinnerte; war's, von dem er über Ephraim und Manasse sprach: „Der Engel Goel, der mich aus allem Übel erlöset, segne die Knaben,“ weil er durch den Glauben die Verheißung von ferne sah, sie küßte, und sich ihrer getröstete, dessen gewiß, daß der komme, der da kommen sollte.

Was sagt denn Israel von dem Juda? Er preiset vornehmlich seine Kraft, seine Siege, seine Ehre. Seine Kraft stellt er in dem treffendsten Sinnbild derselben vor, wenn er Juda einem Löwen und einer Löwin vergleicht, oder einem jungen Löwen, der sich in seiner vollen Größe und Kraft befindet. Ein treffenderes Bild von der Kraft gibt es nicht, sonderlich für Morgenländer, die dieses majestätische Geschöpf Gottes aus der Nähe kennen. Daher verschönerte auch Salomon die Stufen seines Thrones mit Figuren, welche Löwen vorstellten. Wir wissen, daß Jesus Christus der Löwe aus dem Stamm Juda genannt wird, der überwunden hat (Off. Joh. 5,5), und daß eins von den lebendigen Wesen vor dem Thron Gottes gleich war einem Löwen. Er ist gleichsam der geborene König der Tiere, die ihn auch alle fürchten, und übertreffen ihn auch manche an Größe, doch keine an Stärke. Und Jesus Christus heißt Jes. 9 starker Gott. Er ist aller Könige König, und alle Engel sollen ihn anbeten, wie vielmehr alle Menschen! Was ist er für ein unvergleichlicher König, da ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, da alles unter seine Füße getan ist. Was ist das für eine Kraft, die er besitzt, wodurch er kann alle Dinge ihm untertänig machen, wodurch er alle Dinge trägt, womit er alle seine Verheißungen erfüllt, und die er in den Schwachen mächtig sein läßt, so daß sie durch ihn alles vermögen. Ein Löwe hat etwas majestätisches in seiner Gestalt, so daß man ihn nicht ohne eine Art von Respekt ansehen kann. Freilich solche, die die seligen Augen der Gläubigen nicht hatten und nicht haben, fanden, da sie ihn sahen, keine Gestalt an ihm, die ihnen gefallen hätte. sie war und ist auch noch von der Art, daß es heißt: Selig ist, der sich nicht an mir ärgert! Aber die Gläubigen aller Zeit fanden etwas an ihm, das sie zur tiefsten Ehrerbietung lockte, so daß sie von selbst vor ihm auf die Knie sanken, wie die heiligen drei Könige taten, da er nur noch ein kleines neugeborenes Kindlein war, das von ihren Ehrenbezeugungen nichts verstand. Was ist's Wunder, wenn der ganze Himmel vor ihm kniet und aufs Angesicht niederfällt, nachdem er zur Herrlichkeit erhoben ist, da er in Knechtsgestalt schon so hoch gefeiert wurde. Aber zu dieser Ehrfurcht gesellt sich die milde Empfindung eines oft grenzenlosen Zutrauens, das auch in tiefster Not bekennt: Ich weiß, an wen ich glaube, spricht nur ein Wort, oder gar: So du willst, die Empfindung einer unaussprechlichen Anhänglichkeit, die da sagt: Wenn sich auch alle ärgern, ich nicht: fragt: Herr, wohin sollen wir gehen? Du allein hast Worte des ewigen Lebens, wenn auch alle weggehen, die auch unterm Kreuze stehen bleibt und am Grabe weilt, und die schon aus Hiob sprach: Wenn du mich auch töten wolltest, sollte ich nicht auf dich hoffen, und aus Assaph und aus allen, die sich um seinetwillen erschlagen ließen; die Empfindungen einer brünstigen Liebe, die da sagen konnte: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt auch, daß ich dich lieb habe; Gesinnungen, die auch in jeglichem Herzen unfehlbar entstehen, die diesen Löwen voll Sanftmut und Demut, voll Gerechtigkeit und Wahrheit kennen lernen und einen Blick in sein den Sünder liebendes Herz tun dürfen; da zerfließt es in Dank und Liebe, und mag von nichts anderm wissen. Ein Löwe hat eine ungeheure Stärke, ein Schlag mit seinem Fuß streckt den, der ihn empfängt, zu Boden. Jesus brauchte nur dem Sturme gebieten: Verstumme, so ruhete er und dem Meere: Sei stille, so legten sich seine Wogen. Seine Kraft ist den Bedürftigen sehr erfreulich, den nun wissen sie, wer sie gewaltiglich zu erlösen vermag, vermag, was sie nicht vermögen. Ein Löwe besitzt und äußert einen gewaltigen Stolz, nur wer sich demütig vor ihm bückt, darf Schonung hoffen, nicht, was sich ihm zu widersetzen wagt. Wem war und ist der Löwe aus dem Stamm Juda hold? Dem stolzen Pharisäer, der vor ihm prangen will: Dies alles habe ich gehalten und bedarf dein nicht, oder dem demütigen Zöllner, der von sich nichts als seine Sünden zu nennen, nichts zu begehren weiß als Gnade? Nur ein zerbrochenes Herz ist ein ihm gefälliges Opfer, und er übermochte Israel, dessen Hüfte er durch bloßes Anrühren verrenkte, darum nicht, weil er weinte und flehte. (Hosea 12,5). Die Gewaltigen, mögen sie auch noch so gewaltig sein, stößt er vom Stuhl und erhebet die Elenden, die Hungrigen. Das Verachtete, Törichte, das Schwache, ja was nichts ist, erwählet er und macht zu Schanden, was etwas ist. Er leidet nicht, daß sich irgend ein Fleisch vor ihm rühme, indem er sich selbst allen Ruhm zueignet. Dem Löwen ist nichts überlegen. So wird in unserm Text gesagt: „Deine Hand wird deinen Feinden auf dem Halse sein,“ und gefragt: „Wer will sich wider ihn auflehnen?“ Ob viele Hirten schreien, fürchtet er sich doch nicht. Wäre dem Löwen aus dem Stamme Juda etwas überlegen, so würde schon längst die Rede nicht mehr von ihm sein. Die Juden, die sich an seine eigene Person machten, die Heiden, die seine Gemeine verfolgten, der Aberglaube und der Unglaube derer, die sich schamlos nach ihm nennen, hätten ihm schon längst den Garaus gemacht. Aber er wohnet im Himmel, die Pforten der Hölle werden ihn nicht überwältigen, auch kein einzelnes seiner Glieder. Er hat und wird sich zu allen Zeiten ein arm, gering Volk übrig bleiben lassen, das auf seinen Namen hofft, und die Klugen erhascht er in ihrer Lift. So bändigt und tötet er auch innerlich in den Seinigen, was sich dem Geiste widersetzt, und ist es gleich ihrer, so ist es doch nicht seiner Kraft überlegen, und so überwinden sie endlich in allem weit um dessen willen, der sie geliebet und sich selbst für sie dargegeben hat. Besonders merkwürdig ist an einem Löwen die dem Donner ähnliche Stimme, so daß der Prophet sagt: Der Löwe brüllt! Wer sollte sich nicht fürchten? Dies ist nur ein Schatten von der wirklichen Stimme des Löwen aus dem Stamme Juda, von der wirklichen Stimme des Löwen aus dem Stamme Juda, die auch dem Donner verglichen wird. Es bedurfte nur seiner Stimme, so entwichen ihm mit großem Geschrei die Teufel, die Krankheiten, der Tod. Was meinen wir, wirke seine Stimme, wenn er sagt: Sei getrost, dir sind deine Sünden vergeben! oder: Fürchte dich nicht! oder: Sei nicht ungläubig, sondern gläubig! War's Petri oder seine Stimme, die dreitausend widerspenstige Juden auf einmal bekehrte, und aus einem Saul einen Paulus schuf? Erregte nicht seine Stimme durch die Predigten der Apostel, die es ja nicht waren, die redeten, den Erdkreis?

Und wie ist es noch stets, wenn er selbst innerlich lehrt und predigt? Wie klar und lebendig wird da sein Wort! Wie schwinden die Nebel des Zweifels, des Kummers, der Anfechtung und der Sünde! „Ich will hören,“ sagt der Prophet, „was der Herr in mir reden wird.“ Seiner Stimme nur bedarf's, so fallen die Bollwerke des Judentums, des Heidentums, des Antichristentums, und sie richtet eine Flut an, wodurch die Erde voll wird von Erkenntnis des Herrn. Ein Löwe ist einer solchen Zärtlichkeit der Liebe fähig, daß man Beispiele hat, daß er vor trauernder Liebe um ein ihm gestorbenes Geschöpf selbst auch gestorben ist. Hier brauchen wir kein Wort weiter hinzusetzen. Wen ein Löwe schützt, der ist wohl beschützt, und ist der Löwe aus dem Stamme Juda für uns, wer mag wider uns sein? Das ist wahr, treffen kann uns dennoch Trübsal, oder Angst und Verfolgung, wie geschrieben stehet: Wir fürchten uns wohl. Wir sind ein Schauspiel worden der Leute, und eine Verachtung des Volks; aber, wer will euch schaden, so ihr dem Guten nachkommt? Nicht Schaden, sondern lauter Vorteil erwächst daraus. Wüßten die Gläubigen es nur recht, daß der mit ihnen ist, sie würden niemals kleinmütig, sondern auch getrost sein wie junge Löwen, und fragen: wer ist, der Recht zu mir hat? Was bedürfen wir neben ihm noch, da uns in ihm alles geschenkt ist? Ach, daß der Glaube kräftig werde durch Erkenntnis des Guten, das wir haben in Christo Jesu!

Freilich ist das Bild eines Löwen immer etwas Bedenkliches, denn dies Bild enthält nicht die uns Armen so wünschenswerten Züge der Freundlichkeit, der Sanftmut und des Wohlwollens, sondern nur die eines hohen feierlichen Ernstes. Darum wechselt dies Bild Offenb. Joh. 5 auch mit dem eines Lammes. Was so dem einen abgeht, ergänzt das andere Bild, und was das eine zu Scharfes oder Wildes hat, das hat das andere wieder Mäßiges. Beide gehören zusammen, und so wie er dem alten Menschen und allem, was dahin gehört, ein reißender und nicht verschonender Löwe ist, so ist er dem neuen Menschen Lamm und pflegender Hirte.

Israel gedenkt zweitens seiner großen Siege. Diese setzen Widersacher, und zwar zahlreiche und mächtige voraus. Und auch ihrer gedenkt Israel, wenn er sagt: „Deine Hand wird deinen Feinden auf dem Halse sein.“ Christus selbst rühmt sich seiner Siege, wenn er sagt: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden;“ und abermal: „Wer überwindet gleich wie ich.“ Offenb. Joh. 5. heißt's von ihm: „Weine nicht! Denn siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamme Juda.“ Er erklärt sich im voraus für unüberwindlich, wenn er sagt: „Der Fürst dieser Welt kommt und wird ausgestoßen.“ Diese Kriege wurden um seines Volks willen geführt, und ihnen zu Gunst die erfolgten Siege errungen. Unter ihren gemeinschaftlichen Feinden steht der Satan oben an, diese schreckliche Majestät, der auch ein Löwe, ein brüllender Löwe wegen seiner Kraft, ein Wolf wegen seiner Grausamkeit, eine Schlange wegen seiner List, ja sogar ein Gott dieser Welt genannt wird; dessen versuchende, verblendende, verführende Wirkungen uns also sehr gefährlich geschildert werden; der unser Geschlecht überwunden hat und alle verführt, die auf Erden wohnen. Mit ihm hatte der Löwe aus dem Stamme Juda einen langwierigen, wichtigen und ernsthaften Kampf. Auf ihn hatte Satan seinen ganzen Grimm geworfen, denn hier ging es um seinen Thron und Reich. Es war ihm erlaubt, alles wider das Lamm aufzubieten, was ihm an List, Bosheit und Macht, an Schrecknissen und Kräften irgend zu Gebote stand. Er machte den Anfang mit jener vierzigtägigen Versuchung, die Jesus glücklich überstand, so daß Satan von ihm wich, jedoch nur für eine Zeitlang, um ihn besonders in seinen letzten Lebenstagen, die deswegen auch nichts als Lebenstage für ihn waren, aus allen Kräften und von allen Seiten anzugreifen. Mit welchem Vergnügen mag Satan ihn am Kreuz haben hängen sehen, mit welcher feindseligen Lust ihn haben klagen hören: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Wie gewiß mag er selbst seines Sieges gewesen sein, da der starb, der allein wider ihn auftreten konnte! Aber wohl mag der, der Rat, Kraft, Held heißt, auch Wunderbar heißen, denn indem er überwunden schien, siegte er aufs vollständigste, und indem die Schlange ihm die Ferse zerstach, zermalmte er ihr den Kopf. Durch keine seiner Versuchungen hat er etwas anderes ausgerichtet als nur den klaren Beweis, daß er nichts damit ausgerichtet als nur den klaren Beweis, daß er nichts damit ausgerichtet, und nur sich selbst verletzt hatte. Zu gleicher Zeit besiegte er die alte löwenartige Sünde durch seine Heiligkeit, den Fluch, indem er ein Fluch ward, durch seine stellvertretende Gerechtigkeit und den alles beherrschenden Tod durch seinen Tod. Dies alles wies sich in rascher Folge durch seine lebendige Auferstehung, durch seine Himmelfahrt und insbesondere durch die herrliche Ausgießung des Heiligen Geistes zur Freude des Himmels und zum Schrecken der Hölle, aus. So stimmt nun seine Gemeine das Loblied an: „An ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut. Er hat uns errettet von der gegenwärtigen argen Welt und von der Obrigkeit der Finsternis. So ist nun keine Verdammnis mehr an denen, die in Christo Jesu sind. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ Billig heißen wir dies große Siege, sowohl wegen ihrer großen Erfolge, als ihrer erstaunlichen Mittel, da ein Sohn Gottes, indem er siegte, starb. Diese Siege über seine Feinde setzt Jesus noch immer fort, denn das zerstoßene Rohr will er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht will er nicht auslöschen, bis daß er durchführe das Gericht zum Siege. Es sind noch manche Siege im Großen auszuführen, damit ihm Kinder geboren werden, wie der Tau aus der Morgenröte. Nicht weniger sind die Siege im kleinen, das heißt, in uns. In uns stecken die Feinde Christi, der Unglaube, die eigene Gerechtigkeit, Weisheit, der Wille, das eigene Leben, das Gesetz in den Gliedern, das Fleisch, das wider den Geist streitet, die Sünde. Seine Hand sei ihnen auf dem Halse! Er sei ihnen ein starker und nicht schonender Löwe und bringe uns ganz und gar unter das Gesetz Christi! Wie groß ist die Schar der Unbekehrten! Er bekehre sie! Wie viel sind der Schwachen! Er stärke sie!

Zudem stecken seine Gläubigen ja noch in mancherlei innern und äußern Trübsalen. Wollen haben sie, aber oft fehlt das Vollbringen. oft sind sie traurig in mancherlei Anfechtungen, aber Christus wird seine Siege fortsetzen, bis ihr alter Mensch ganz zerstört ist, sie aus aller Trübsal errettet und bei ihm daheim sind. Zeuch denn einher, du Held! Es werden die die Völker anhangen.

Drittens: Endlich gedenkt Israel seiner Ehre. „Du bist hoch gekommen, mein Sohn.“ Er kam aus der Höhe und ging wieder dahin. Er ist aus der Angst und dem Gericht genommen. Du bist in die Höhe gefahren. Gott hat ihn erhöhet und gesetzt über alles zum Haupt. Er hat sich gelagert, wie ein Löwe. Seine Arbeit hat der Ruhe weichen müssen, denn nachdem er ein Opfer gebracht, das ewiglich gilt, sitzet er nun zur Rechten Gottes und wartet, bis daß alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt sind. Alles, was sich wider ihn auflehnt, bereitet sich dadurch den gewissen Untergang. Küsset den Sohn, daß er nicht zürne! Durch den Glauben gehen wir in seine Ruhe und

genießen nun die Früchte
dessen, was er ausgemacht.

Vor dir werden deines Vaters Kinder sich neigen, und deine Brüder dich loben. Dies Neigen und Bücken besteht nicht in körperlicher Bewegung, wiewohl es auch daran nicht fehlt. Er sieht aufs Gemüt, und das neigt sich vor ihm, wenn es durch das Gefühl der Sünde belehrt, gewahr wird, wie sehr es dieses alles besiegenden Löwen und dieses sanften Lammes, wie sehr es seiner Kraft und Milde, seines verwundenden Eifers und seiner heilenden Liebe, kurz, wie sehr es seiner Weisheit, Gerechtigkeit und Erlösung bedarf. O, wie lernt man da schon fußfällig bitten: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Auch in der Folge wird das Neigen und Beugen vor ihm zustande gebracht, indem bald die Seele nicht weiß, wie sie sich genug wegen seiner freundlichen Herablassung zu ihr, wegen der ungemeinen Zutraulichkeit, die er ihr einflößt, wegen des starken Vertrauens, das er schenkt, wegen der festen Versicherung von seiner ewigen und unveränderlichen Gnade, die er verleiht, vor ihm beugen, in Dank und Anbetung zerfließen, sich seiner alleinigen und unbedingten Herrschaft überlassen soll, bald aber auch, wenn ihr dies alles wieder entzogen wird, ihn als denjenigen anerkennen soll, der es gar allein ist. so bereitet er die Seinigen, ihn und nur ihn zu loben, als durch den allein wir gerecht und selig, stark und heilig, getrost und weise werden, so daß ihm für alles, für das Geringste, wie für das Größte, der Ruhm allein und ganz gebührt, welches Lob im Himmel zu seiner Vollkommenheit gedeihen und in Ewigkeit fortgesetzt werden wird. Sie sind seine Brüder und seines Vaters Kinder, genau mit ihm verwandt und verbunden, und so Genossen an der Trübsal, am Leiden und an der Geduld Jesu. Wohl allen, denen es also gehet, die sich vor ihm neigen, die wird er erhöhen, und die ihn ehren, wird er wieder ehren. Ja, Juda, du bist's. Verherrliche deine Gnade an uns, damit wir dich loben.

Im Wort, im Werk, im ganzen Wesen,
Sei Jesus, und sonst nichts zu lesen!

Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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