Tholuck, August - Predigt bei der ersten Jahresfeier des Hallischen Missions-Hilfsvereins in der St. Moritzkirche gehalten.

Indem ich, meine Brüder in Christo, heut vor euch auftrete, erinnere ich mich jener Inschrift unter dem Bild eines leidenden Christus, welche einen Mann, dessen Wirken wie ein fruchtbarer milder Frühlingsregen durch Weltteile hindurchging, zuerst zu seinem Wirken in der Liebe entstammte. Es war der Stifter der Brüdergemeinde, welcher unter einem Bild eines leidenden Christus die Inschrift erblickte: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ und in dessen Brust von der Stunde an das Wort nicht mehr verklang, sondern wie ein belebender Odem durch all' sein Tun und Treiben hindurchtönte. Das Werk, welchem diese unsere gottesdienstliche Feier gewidmet ist, ist ein Werk der selbstverleugnenden Liebe. Wer wird verlassen Vater und Mutter und den heimischen Boden, und in die brennende Sonne und die erstarrende Kälte des fremden Landes hinausziehen, um Seelen zu gewinnen, ohne die selbstverleugnende Liebe? Gibt es aber ein anderes Wort, das gewaltiger sie aufriefe in dem liebearmen Menschenherzen, als: Das tat ich für dich, was tust du für mich? Geht nur die ganze Geschichte hindurch - in welcher Religion findet ihr jene Helden in der Liebe, die ihr zeitliches Leben nicht zu teuer achten, um auszugehen an die Enden der Erde, um denen, die ohne Gott sind und ohne Hoffnung in der Welt, das ewige Leben zu bringen? Ach, kein anderes Wort ist stark genug gewesen, um solche Bruderliebe in dem Menschenherzen zu erwecken. Aber auch ihr, meine Freunde, euer Zusammenströmen an dieser Stätte ist eitel und vergeblich, so lange nicht das Wort an euer Herz gedrungen ist: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Ach der Not und Klage hat Jeder so viel an seinem eignen Herd, dass hinüber zu blicken in die Heidenlande, wo die Menschen geboren werden ohne einen Helfer in der Not, und sterben ohne ihn, keinem andern möglich ist, als dessen Herz von jener Liebe am Kreuz erwärmt worden, die in ihren Armen eine ganze untergehende Welt umfasste. So lasst denn zu dieser Liebe uns erwecken durch Erwägung des Ausspruchs des Herrn Joh. 13,34. „Und ich sage euch nun: Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch unter einander liebt, wie ich euch geliebt habe, auf dass auch ihr einander lieb habt.

Die Liebe Christi zu uns, das Vorbild unserer Liebe zu den Brüdern, das sei das Thema dieser Predigt.

Wie hat der Herr uns geliebt? Wie sollen wir nach seinem Vorbild die Brüder lieben? Das sind also die zwei großen Fragen, die uns heute beschäftigen werden.

Wie hat der Herr uns geliebt?

Indem er mitgelitten hat unsre Not. Tun für den Unglücklichen, mein Bruder, kannst du nimmer, so du nicht zuerst mit ihm gelitten hast. An seine Stelle musst du dich gestellt haben, seine Tränen geteilt, seinen Jammer mitempfunden, wo du ihm helfen willst. Seine äußerliche Not magst du freilich lindern, auch ohne dass dein Herz mitleidet mit ihm, wiewohl - schneidet nicht die mit kaltem, unerweichtem Herzen hingeworfene Gabe, während sie von der einen Seite die Not des Armen mildert, auf der andern desto tiefere Furchen in sein Gemüt? Und wenn es nun gilt, die größte aller Nöte zu heilen, das von der Sünde krankgeschlagene Herz, wie willst du es, wenn nicht das deinige zuerst mitgeblutet hat? Darum als in der Fülle der Zeit der ewige Gott selbst ein Arzt werden wollte der tief erkrankten Menschheit, hat er seinen Himmelsthron verlassen, und ist herabgestiegen in ihre Mitte, und hat ihre Not und ihre Sünde getragen, und mit ihr gelitten, denn wie die Schrift sagt: „Weil er der Menschen Sünden sich annimmt, so musste er auch in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden, auf dass er barmherzig erfunden würde, und uns ein treuer Hoherpriester vor Gott.“ Er stieg hernieder - und wo auf der weiten Erde wirst du deine Wohnung aufschlagen, wenn du unter uns kommst, um unsers Gleichen zu werden? Da ragen in Athen die Säulen der Schulen der Weisheit zum Himmel, da in Rom die kaiserlichen Paläste - aber so hoch der Himmel über der Erde ist, sind Gottes Gedanken über der Menschen Gedanken. Unter den Völkern der Erde wählt er das verachtetste sich aus, unter dem verachtetsten Volke die verachtetste seiner Provinzen, Galiläa, und in Galiläa den geringsten seiner Orte, Nazareth, und in Nazareth der geringsten Familien eine.

Des ew'gen Vaters einig Kind
Jetzt man in der Krippen find't.
Den aller Weltkreis nicht beschloss,
Der liegt in Mariens Schoß.
Er ist geworden ein Kindlein klein,
Der alle Dinge erhält allein!
Hallelujah!

In der Armut, in der er geboren wurde, wallt er über die Erde; „die Vögel unter dem Himmel haben ihre Nester, und die Füchse ihre Gruben, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege!“ Der, welcher fünftausende speist, nimmt Almosen von den ihn begleitenden Frauen. „Er ist versucht worden, wie die Schrift sagt, gleich wie wir in allen Stücken, nur ohne Sünde.“ Die Schwächen und die Schmerzen, die unser irdisches Leben drücken - er hat sie auch kennen lernen; er hat die Last des Tages getragen unter dem Getümmel des Volks, und hat seine Nachtruhe geopfert, wenn die Nikodemi ihn hören wollten. Er hat nach angstvoll durchwachten Nächten sich hinführen lassen unter seine Peiniger, die spitze Dornenkrone ist auf sein Haupt gedrückt worden, und sein göttliches Haupt mit dem Rohr geschlagen! unter der Geißel ist sein Leib mit Blut bedeckt worden, und an's Kreuz haben sie ihn hinaufgezogen, und haben seine Hände und Füße durchbohrt, und er hat geschmachtet und geklagt: „mich dürstet,“ bis dass er rief: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Christen! so hat er mitgelitten die Not eures Lebens, und ist ein barmherziger und treuer Hoherpriester gewesen.

Aber Menschen, nicht bloß eure leibliche Not ist es, die er mit euch gelitten hat, die Not eurer Seelen, eurer unsterblichen Geister hat er mitgefühlt und mitgelitten. Wer hat, wie er, durchschaut den Willen seines himmlischen Vaters, wessen Seele ist aufgegangen in der Liebe zu ihm, wie die seinige! O! und wenn nun diese heilige reine Jesusseele, wenn sie hineingestellt ist in eine Welt voll Abfall und Empörung gegen Gott, welches Schwert musste diese Seele durchdringen! Jene einsamen Stunden, welche er, wie wir so häufig lesen, in der Stille mit seinem Vater zugebracht hat, wie mögen sie erfüllt gewesen sein von dem Schmerzgefühl für eine untergehende Welt! Wohl mag schon sein erhabenes Antlitz die Spur der heiligen Wehmut getragen haben, denn zweimal lesen wir, wie der Täufer, das Auge auf ihn geheftet, während er vorübergeht, in den Ausruf ausbricht: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ Kaum kann man anders glauben, als dass schon in der äußern Erscheinung Jesu ein gewisser Ausdruck ernster Wehmut war, welcher gerade jene Worte dem Täufer entlockte. Und nun seht es wandeln, dieses heilige, von Schmerz über die Sünde erfüllte Gotteslamm in dem verkehrten Geschlechte, dort gegenüber dem rohen bitteren Hochmut und Hohn heuchlerischer Schriftgelehrten, hier im Jüngerkreis gegenüber den stumpfen, trägen, irdischen Herzen, nirgends die Seele, die ihn versteht, welche die Größe seines Schmerzes ermessen mag. - Und wenn wir ihn nun in seine letzten Stunden begleiten: Seht ihn zuerst noch im Kreise seiner Lieben, wie das Liebesherz sich ergießt, wie die Liebe fußwaschend vor einem Judas auf den Knien liegt, und diese Liebe, die gekommen ist, selig zu machen, was verloren war, diese Liebe, auf welche Israel zwanzig Jahrhunderte gewartet hatte, jetzt wo sie gekommen ist, wo sie sammeln will die zerstreute Herde, siehe, da wird die Dornenkrone und das Kreuz ihr entgegengebracht. Das geschieht ihm unter den Feinden, aber was geschieht ihm unter seinen Freunden? Im heißen Seelenkampf fleht er seine Geliebtesten an: „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?!“ und sie schlafen ein, ein Johannes schläft ein in der Stunde, wo sein Heiland blutigen Schweiß schwitzt; der Jünger, um dessen Herz er noch vor einigen Stunden kniend und fußwaschend geworben hatte, verrät ihn; der Jünger, der sich verschworen hatte: „Und wenn sie sich alle an dir ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern,“ verschwört sich abermal und spricht: „Ich kenne des Menschen nicht“, und als sie den letzten Todesgang ihn hinführen, siehe, da fliehen sie alle, auch nicht einer bleibt, auch Johannes nicht. O heiliges Lamm Gottes, unschuldig geschlachtet, wie hast du die Sünde der Welt getragen und ihre Not und ihr Leid mit ihr geteilt, damit sie mit dir deine Seligkeit und deine Herrlichkeit teilen möge: Brüder, seht, welch' ein Mensch ist das! Ruft es hinaus in die ganze Welt: Seht, welch' ein Mensch ist das!

Nur der, welcher so mitgelitten hat all' unsre Not, kann sie auch heilen, und die Heilung unserer Not, das ist die andere Offenbarung seiner Liebe zu uns. Er ist erschienen als ein Heiland aus aller Not, auch aus der des Leibes, wie ja das Wort der Offenbarung des Johannes in der Ferne die Zeit verkündigt, wo alle Tränen getrocknet sein werden. Doch kommt diese Zeit nicht eher, als bis jener Quell am Ende der Zeiten durch Christi Wirken wieder ganz wird verschlossen sein, aus welchem ursprünglich alle Not hervorging, der Quell der Sünde; bis dahin muss in der Welt bleiben allerlei Not und Gefahr, als ein schmelzendes Feuer für die noch unwiedergeborne Natur, bis dass sie geheiligt werde. Dass aber der Stand der Tränen und der Not, in dem wir gegenwärtig über die Erde wandeln, nicht der ursprünglich von Gott uns bestimmte ist, und dass er aufhören soll, sobald die Sünde überwunden ist in der Menschheit, das zeigen uns die Tränen, welche der Erlöser auch über unsere irdische Not geweint, das zeigt uns die Hilfe, die er auch unserer irdischen Not gebracht hat. -

Denkt euch den Gottes- und Menschensohn, dem das Meer und alle Kräfte der Natur gehorchen, wohin wird er sich wenden mit der Allmacht seiner Kräfte? etwa ein herrliches Reich aufrichten, allen Glanz und alle Fülle der Erde um sich versammeln? Stelle dir vor, dass du selbst auf ein Mal begabt würdest mit jener Kraft, die dem Himmel in der Höhe gebietet und dem Abgrund in der Tiefe, würdest du sie auch anwenden, mein Bruder, wozu sie dein Heiland angewendet hat? Würde das auch deinem Herzen am ersten nahe liegen, umherzugehen unter der Not und dem Elend der Menschenkinder, um die göttliche Wundermacht in der Heilung ihrer Gebrechen zu offenbaren? Würde das auch deines Lebens Freude sein, umherzuwandeln unter den Blinden, unter den Tauben, unter den Gichtbrüchigen, um ihr Retter und ihr Helfer zu werden? O wo ist ein Herz, wie Jesu Herz? Sein Werk war Liebe, Liebe floss vom Saume seines Kleides. Christen! seht da, welch' ein Mensch! Doch was hilft es, dass die Blinden das Auge des Leibes wieder bekommen, wenn das Seelenauge blind bleibt, dass ihr leibliches Ohr hören lernt die Rede der Menschen, wenn das geistige Ohr taub bleibt gegen die Rede Gottes, dass die leiblich Toten auferstehen aus dem Staub der Gräber, wenn die geistigen Schläfer tot bleiben in dem Tod der Sünde! Heißt es von ihm, dass ihn „jammerte, als das Volk kein Brot hatte,“ o wie jammert ihn noch unvergleichlich mehr, wenn er sieht, dass die Welt das Brot des Lebens nicht hat! Wie ist er umhergegangen, zu suchen, was verloren war! Blickt hin, in welcher Umgebung findet ihr den Heiligen und Reinen Gottes? Wieder und immer wieder lest ihr: „unter den Zöllnern und unter den Sündern.“ Unter den Ausgestoßenen, unter den Verworfenen des Volkes, gerade da hat er Wohnung gemacht. Seht da, welch' ein Mensch! O wie hat er geworben um die einzelnen Seelen, dass er keinen verliere von denen, die ihm der Vater geschenkt hat. „Welcher Mensch ist unter euch, spricht er, der hundert Schafe hat, und so er davon eins verliert, der nicht lasse die neun und neunzig in der Wüste, und hingehe nach dem Verlorenen“ - hin durch Dornen und Disteln, durch die Anhöhen und Täler, bis dass er es gefunden hat, und wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln, und bringt es heim mit Freuden. Ja, treuer Heiland, das ist dein Bild, da hast du dich selbst uns abgemalt! Ja. wir wissen es, so hast du uns selbst gesucht, bis dass du uns heimbrachtest zu der Herde deines Vaters. Seht ihn an im Gespräche mit der Samariterin, wer von uns hätte ausgeharrt bei dieser sehr armen, sehr umdüsterten Seele? Er bietet ihr das lebendige Wasser, und sie denkt an das Wasser des Brunnens, das vor ihr ist. Aber, wie er ihr nachgeht, wie er in die Tiefe ihrer Seele dringt! Blickt hin, wie er einem Petrus nachgegangen ist, bis dass das schwankende Rohr in einen Fels umgewandelt war, und aus seiner bewegten Seele drang: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe,“ Blickt hin, wie er geworben hat in Liebe um die Seele seines Verräters! So war er, wie er unter uns wandelte. Seht da, welch' ein Mensch! Gerade so ist er aber auch, seitdem er verklärt ist beim Vater, und sein Versprechen erfüllt: „Wenn ich erhöht sein werde, werde ich sie alle zu mir ziehen.“ Ihr, die ihr jetzt wandelt auf seiner Weide und die ihr in der Gemeinschaft mit eurem Herrn täglich nehmt Gnade um Gnade, legt ab das Zeugnis vor der ganzen Welt, wie er eurer Seele nachgegangen ist, wie er euch geweckt und gezogen hat durch seinen heiligen Geist, bis dass ihr endlich zu seinen Füßen lagt, und rufen konntet:

Die treuste Liebe sieget,
Am Ende fühlt man sie.
Weint bitterlich und schmieget
Sich kindlich an sein Knie!

Mensch! das tat er für dich, was tust du für ihn?

Hat er also uns geliebt, meine Brüder! wie sollen wir nach seinem Vorbild die Brüder lieben?

Das Erste, meine Brüder! ist auch für uns, ehe wir etwas tun für die Not unserer Brüder, dass wir müssen mit leiden mit ihnen, und ehe wir mit leiden, dass wir müssen erkennen ihre Nöte und ihr Elend. Die leibliche Not nun, die erkennt man wohl leicht, denn wer ist, der sie nicht selber empfindet! Aber die Seelennot der Menschen! Wenn du nun selber von Seelennot noch nichts gewusst hast - Seelennot, allerdings für Viele ein ganz fremdes Wort! - so muss es denn erst dahin mit dir gekommen sein, dass du das Wörtlein Sünde verstehen lernst. Es muss in deinem eigenen Leben die Stunde gekommen sein, wo im Licht der göttlichen Wahrheit die eigene Gerechtigkeit dir als ein beflecktes Kleid erschienen ist, wo du mit Erbeben erkannt hast: wenn wir nach unseren Werken gerichtet werden, so ist kein Fleisch vor Gott gerecht. Du musst deine Fesseln fühlen, du musst die Tränen kennen, welche aus der Sehnsucht nach geistlicher Freiheit quellen - es muss zu einem Untergang mit dir gekommen sein. Dann aber, mein Bruder, wenn du erst selbst zur Klasse derer gehörst, die der Heiland selig preist, zu den geistlich Armen - o wie wirst du dann nicht bloß mit leiden können, sondern auch mit leiden müssen die Seelennot der sündigen Menschheit. Siehe, in zwei Klassen teilt sich neben dir die Masse deiner in der Finsternis verlorenen Brüder. Die Einen gehen dahin, gefesselt von der Sünde an Händen und an Füßen - unter ihnen wankt der Boden, und über ihnen droht das göttliche Gericht, aber sie jauchzen und frohlocken; sie sind vergnügt und guter Dinge, denn die Finsternis hat ihre Augen verblendet, dass die Nacht um sie her ihnen scheint, als wäre es Tag, und sie wissen nicht, wohin sie gehen. Auch die Anderen tragen ihre Fesseln, auch unter ihnen wankt der Boden, und über ihnen schwärzt sich der Himmel - aber sie weinen, und ihre Seele schreit nach Freiheit: - in die sicheren Knechte der Sünde und in die aufgeschreckten teilt sich die Menschheit. Seit Christus dich selbst aufgeweckt hat aus dem Schlaf, leidest du mit beiden mit. Du siehst die breite Straße, von welcher der Heiland sagt, dass sie in's Verderben führt. Große helle Scharen ziehen auf ihr hin, und in das Ohr deines Herzens tönt zerreißend der jauchzende Schall der Freudenlieder der Einen, wie der zerreißende Klang der Klagelieder der Anderen - auch auf dein Herz, wenn dir erst der liebende Blick in die Not der Menschheit aufgegangen ist, legt sich, wie auf deines Heilandes Herz, eine Welt der Wehmut; deine Seele wird unaussprechlich betrübt, und du möchtest helfen.

Wem unter euch geht so die Not seiner Brüder zu Herzen? Ich weiß es wohl, so lange ihr eure eigene Not nicht fühlt, könnet ihr die Not eurer Brüder nicht mitfühlen, und wer ist's, der die Wunden seines eigenen Herzens sich gestehen will! O wie gehen die meisten Menschen an dem Klaggeschrei der leidenden Menschheit vorüber und halten sich die Ohren zu, dass sie es nur nicht vernehmen. Die Geschichte erzählt von einem asiatischen Fürsten, der, um das grenzenlose Elend seiner jammernden Untertanen nicht mehr zu sehen, für immer in seinem Palast sich verschloss, das Tageslicht für sich auslöschte, und beim Lampenschein, das Elend, was draußen war, vergessend, lustig blieb bis an sein Ende. Der Mann bist du, der du bis zu dieser Stunde die Not der leidenden Menschheit noch nicht als die deinige empfunden! Kannst du denn die Tränen deines Heilandes so ganz vergessen, die er um die ganze Menschheit und zugleich um dich geweint?

Doch nicht bloß das Vorbild, wie wir mit der Not unserer Brüder leiden sollen, sondern auch wie wir helfen sollen, ist unser Herr uns geworden. „Wie er ist, sagt Johannes, so sind auch wir in der Welt.“ O ihr, die ihr bis jetzt noch nicht gewusst habt, was eigentlich eure Bestimmung ist in eurem Leben, wollt ihr sie vernehmen, eine herrliche, eine über alle Maßen selige Bestimmung! „Wie er gewesen ist in der Welt, so sollt ihr auch sein;“ wie er umhergegangen ist unter den Kranken und unter den Armen der Erde, so, mein Bruder, sollst du auch umhergehen. Freilich magst du zum Blinden nicht sagen: sieh'! und zum Lahmen nicht sagen: stehe auf und wandle! Aber viel hat einem Jeden von euch die Güte Gottes Gaben gegeben, um rettende Engel zu werden für die leibliche Not eurer Brüder. Je mehr unsere Liebe wächst, desto mehr erkennen wir unser Vermögen zu helfen. Wenn es am Anfang dir scheinen möchte, dass dir keine Gabe verliehen sei für den leidenden Bruder, o glaube mir, das Auge der Liebe fehlt dir nur; mit deiner Liebe wächst das Vermögen. Und vermöchtest du am Ende nichts zu geben, als das Wort des Rates und des Trostes und den schweigenden Händedruck des Mitgefühls, o wenn du meinen kannst, dass das für den leidenden Bruder nichts sei, so hast du selbst noch nicht gelitten. Gesetzt aber auch, es wäre dir gar nichts verliehen, um die Tränen deines Bruders trocknen zu können, die über die Leiden dieser Erde fließen, nun wohlan, das ist in die Hände eines Jeglichen von euch gelegt, dass ihr seiner Seelennot helfen könnt. „Petrus, sagt der Herr zu seinem schwankenden Jünger, wenn du dermaleinst bekehrt bist, so stärke deine Brüder.“ „Simon Johannes, hast du mich lieb, so weide meine Lämmer!“ O ihr alle, die ihr euch bewusst worden seid, was Christus der Herr an euch für Langmut und Geduld bewährte, ehe aus dem glaubensarmen schwachen Simon ein Kephas, ein Felsenmann geworden, an euch sind diese Worte gerichtet. Ist der gute Hirt euch nachgegangen in die Gebirge und durch die Wüste, bis er euch heimgeholt, wer wollte nicht also seinem verirrten Bruder nachgehen? „Das tat ich für dich, was tust du für mich!“ Du sagst: ach ich bin so schwach, aber lieber Bruder! weißt du wenigstens das, wie du geliebt worden bist? Wenn du das weißt, o so brauchst du nichts weiter zu tun, als aller Welt die Liebe zu erzählen, mit welcher der gute Hirt dich geliebt hat. Es ist etwas Wunderbares in dem evangelischen Zeugnis, es demonstriert sich in kein menschliches Herz hinein; kühn und gewaltig stellt es sich vor die Menschenbrust hin; beuge dich vor mir, ich beuge mich nicht vor dir! Keine Redner, keine Weltweisen braucht Christus, nur allein Zeugen, Zeugen mit der Stimme der Kraft und Liebe von dem, was Christus war, und was er noch ist jedem sehnsüchtigen Herzen, und wer aus der Wahrheit ist, der wird der Wahrheit Stimme hören. Wollt ihr den ersten Anfang des Missionswerkes sehen?: er steht geschrieben bei Johannes 1,41-45. Andreas hat kaum den Herrn gefunden, da eilt er hin, wem er's verkündigen könne. Und findet am ersten seinen Bruder Simon und ruft: „ Wir haben den Messias gefunden!“ Und Philippus findet zuerst den Natanael und ruft: „Wir haben den gefunden, von welchem Moses und die Propheten geschrieben haben.“ Seht, so bildet sich die erste Gemeinde! Zeugengeist, nichts anderes ist nötig gewesen. „Wir können es nicht lassen,“ das ist die Apologie der Apostel für ihr Amt. O ihr Geliebten Gottes! Wenn es nur dahin mit einem Menschen gekommen ist, dass er nicht lassen kann, von der Liebe zu zeugen, die ihn zuerst geliebt, da vergisst der Ohnmächtige seine Ohnmacht, und der Schwache spricht: „Ich bin stark!“ -

Allerdings muss dieses Zeugnis nun anfangen in dem Kreis, der einem Jeglichen von uns zunächst liegt - erst muss die Familie eine Kirche Christi werden, dann deine Vaterstadt, dann dein Vaterland. Es ist göttliche Ordnung, welche uns mit dem einen Menschen näher in Verbindung gesetzt hat, als mit dem anderen. Aber, mein Bruder, so unleugbar wie es ist, dass das Mitleiden mit der Seelennot unserer Brüder bei denen beginnt, die uns nach göttlicher Ordnung am nächsten stehen, eben so unleugbar ist es, dass diese Liebe zugleich auch das Entfernteste umfasst. Der Heiland, der in seinen Lebenszeiten aus den Grenzen Palästinas nicht wich, verkündigt: „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall. Und dieselben muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird Eine Herde und Ein Hirt werden,“ und wie er scheidet von der Erde, sagt er zu seinen Aposteln: „Geht hin und lehrt alle Völker!“ Oft genug vernehmt ihr freilich die Stimmen derjenigen, welche sagen: wie viel gibt es unter uns noch zu tun, wie vielen muss unter uns noch gepredigt werden. Wohl, mein Bruder! hätten aber die Apostel geharrt, bis dass keiner mehr in Israel gewesen wäre, der nicht seine Knie im Namen Jesu gebeugt hätte, so wäret ihr noch bis zu dieser Stunde ohne Christus und ohne Gott in der Welt. Tut es etwa die Predigt allein, dass die Toten auferstehen? „Naht euch zu Gott, spricht das Wort der Schrift, so naht er sich zu euch!“ Bringt ihr den Hunger und den Durst nicht mit, so mag von dieser Stätte herab das Wort Gottes von Tag zu Tag wie strömender Regen fließen, der Boden des Herzens bleibt hart, und die Steine bleiben, was sie sind - Steine. Und wie, meine Freunde! Sollten hier und hier allein in unserm Vaterland Hunderte von Predigern des Evangeliums den satten Herzen das Brot darbieten, während unter den fernen Heiden Tausende von Hungrigen rufen: Brot, Brot! - Nein, lasst es uns vielmehr aufrichten, das Wort der Versöhnung, bis an die Enden der Erden, damit aus jeglichem Geschlecht, aus jeglichem Stamm, die aus der Wahrheit sind, die Wahrheit finden mögen, und die da hungrig sind, das Brot empfangen.

Der Mensch lebt nicht vom Brote allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes gehet - so sagte einst der Heiland. Wie mancher Christ hat es erfahren, daß in der That ein Wort aus dem Munde Gottes eine Speise der Seelen ist, woran man Stunden, Tage, Wochen zehren kann. Welch' ein Schauspiel bietet sich uns dar, wenn wir bedenken, das dieses und jenes Gotteswort nun schon in so unzähliger Menschen Geister als ein heiliger Same gefallen ist, der sich in ihr Fleisch und Blut verwandelt hat, in Jedem eine eigenthümliche Gestalt gewonnen und doch in allen wieder dieselbe. Unter den Mitgliedern der Brüdergemeinde und auch noch bei manchen anderen Christen findet die Gewohnheit statt, für jedweden Tag einen Spruch der heiligen Schrift zum Begleiter sich auswählen. Der tönt ihnen dann immer ins Ohr bei allem, was sie thun und treiben-, an dem zehren sie, in den leben sie sich hinein und er lebt sich hinein in sie und wird Fleisch und Blut in ihnen. Vor allem gibt es einige Kernsprüche der heiligen Schrift, mit denen jeder Christenmensch in ein so lebendiges Verhältniß kommen muß. Zu diesen gehört der, den wir unserer heutigen Andacht zum Grunde legen wollen, und der sich im ersten Briefe des Johannes im 3. Kap. am Anfange findet: Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir Gottes Kinder sollen heißen. Darum kennet euch die Welt nicht, denn sie kennet ihn nicht. Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und ist noch nicht erschienen, was wir seyn werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich seyn werden: denn wir erden ihn sehen, wie er ist. Und ein jeglicher, der solche Hoffnung hat zu ihm, der reiniget sich, gleich wie er auch rein ist.

Schon einmal hab ich in vergangener Zeit über dieses Wort zu euch gesprochen. Dessen, was ich damals sagte, erinnere ich mich nicht mehr, aber das weiß ich, wenn ich jeden Tag darüber predigen könnte, ich würde dessen nicht müde werden, und auch ihr, wenn ihr jeden Tag ein lebendiges Zeugniß aus frohem Herzen darüber vernehmen könntet, auch ihr würdet dessen nicht müde werden. Zuvörderst, meine lieben Freunde, könnt ihr euch etwas Rührenderes vorstellen, als den alten hundertjährigen Jünger, wenn er eine so kindliche Freude darüber äußert, daß auch er ein Kind Gottes ist? Und wenn er uns nun einladet, uns mitzufreuen, wer kann widerstehen? Sprechen greise Christen aus, wie gut sie es bei Christo haben, so ist ei doch noch etwas ganz anderes, als wenn es jugendliche Christen thun. Die meisten von uns, auch wenn sie Christum als ihren Seligmacher kennen gelernt haben, können doch nur über eine gar kurze Zeit Zeugniß ablegen, und man weiß noch nicht, was es für einen Ausgang mit ihnen nehmen wird. Wenn aber ein Greis von hundert Jahren, der wie Johannes seit seinem zwanzigsten bei seinem Heilande geblieben ist, wenn der ein Zeugniß ablegt, daß wir es in diesem Glauben gut haben, dem muß man Vertrauen schenken. So laßt uns denn mit allem Vertrauen und mit aller Innigkeit des Herzens aus seinem Munde vernehmen, wie selig das Loos eines gläubigen Jüngers des Heilandes ist.

Wie selig das Loos eines gläubigen Jüngers des Heilandes sei, das wollen wir aus den verlesenen Textesworten erkennen lernen, und demnach zuerst miteinander betrachten, wie selig ein solcher Jünger schon jetzt ist; zweitens, wie selig er einst seyn wird; drittens, wozu ihn jener Glaube und diese Hoffnung antreibt.

Wozu ist Jesus Christus in die Welt gekommen? Daß wir sollen Gottes Kinder werden. So viele an ihn glaubten, sagt derselbige Johannes, denen hat er die Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden. Ist aber dem Menschen in keinem Andern die Macht gegeben, Gottes Kind zu werden, als in Christo - ach, wie so wenige Gotteskinder gibt es dann auf der Erde! Wir meinten, so weit Menschenherzen schlügen über der Erde hin, da sei auch Eine Familie Gottes und Ein ewiger Vater, unter dessen weitem Mantel väterlicher Huld sie Alle Schatten fanden, und nun sollen die Gotteskinder nur jenes kleine Häuflein seyn, die da neu geboren sind durch den Geist von oben aus dem Evangelium!? Der Gedanke thut euch wehe, die Familie Gottes auf Erden also beschränken zu sollen, doch ist es nicht das Wort der heiligen Schrift allein, welches euch zu dieser Beschränkung nöthigt - euren eigenen Geist, euer eigenes Herz frage ich: Blickt hin, meine Brüder, auf die Tausende und aber Tausende, die vom Nordpol bis zum Südpol auf den Höhen wohnen und in den Thalern und saget mir, was ihr hier sehet? Siehest du hier eine Familie Gottes? Sind es Kinder, die die Züge ihres himmlischen Vaters auf dem Antlitz tragen? Sind es Kinder, deren Herz selig ist, wenn es beim Vater ist? Sind es Kinder, die keine größere Freude ihres Lebens kennen, als die, ihrem Vater Freude zu machen? Sind es Kinder Eines Vaters, die eben darum sich als Brüder lieben? Brüder, wer erkennt in der Menschheit, wie sie vor uns ist, wer erkennt in ihr eine Familie Gottes?! Wohl sind wir Kinder Eines irdischen so wie auch Eines himmlischen Vaters, denn er hat gemacht, wie der Apostel sagt, daß von Einem Blute aller Menschen Geschlechter aus dem ganzen Erdboden wohnen, und wiederum: von Ihm und durch Ihn und zu Ihm ist alles geschaffen, und seine Sonne läßt er aufgehen über die Guten und über die Bösen und läßt den Regen herniederfließen ohne Wahl auf die Felder der Gerechten und der Ungerechten. Wohl sind wir also seine Kinder, ausgegangen aus seiner Hand, geschaffen zu seinem Ebenbilde, wandelnd unter dem Schatten des weiten Mantels des Erbarmens, den er um Alles schlägt, was er geschaffen hat. Aber Kinder sind wir, die ihre Abstammung verläugnet haben, Kinder, die alles vergängliche Gut mehr lieben, als ihren unvergänglichen Vater, ungehorsame irrende Kinder, eine zerstreute Heerde, von welcher jedes auf seinen eigenen Weg sieht. Wenn es wahr ist, daß oben in den hellen Höhen, deren Licht wie die Botschaft aus einer ungefallenen Welt herniederquillt, ein anderes Geschlecht von Gotteskindern wohnt, deren Knie nicht aufgehört hat von dem Anfange an, wo sie ins Daseyn traten, sich zu beugen vor dem Vater ihres Lebens, sagt mir: was müssen ihre Empfindungen seyn, wenn sie ihren Blick herabwerfen auf die ferne Provinz ihres königlichen Gebieters, wo er sich ebenfalls ein Geschlecht von Gotteskindern stiften wollte und ihr Auge nun die Familie dieser Gotteskinder auf der Erde sucht? Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, wie heißes Wasser vom Feuer versiedet, daß dein Name kund würde unter deinen Feinden! Und siehe! er zerreißt den Himmel und die Berge zerfließen vor ihm, er kommt - er kommt - Erbarmen in seiner Rechten, und Segen ohne Ende in seiner Linken! Das große Geheimniß, das verborgen gewesen ist von der Welt her, ist kund geworden, der Vorhang ist gefallen, ein Kind Gottes, ein wahrhaftiger Gottes- und zugleich ein Menschensohn steigt hernieder und wird unser Bruder, auf daß wir Gottes Kinder werden möchten. In einem geheimnißreichen Worte des Apostels heißt es, daß wir erwählet sind vom Anfange der Welt in dem Sohne seiner Liebe. Nur in ihm und an ihm, diesem wahrhaftigen Gottessohne, können wir Gottes Kinder werden. Aus zerrissenen Wolken ist die Stimme hervorgedrungen: Das ist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören! Durch den Glauben an ihn sollen wir mit ihm Eins werden. Aus göttlichem Samen sollst du neu geboren werden und bist du durch ihn und mit ihm ein Kind Gottes geworden, so sollst du auch ein Erbe Gottes werden, denn sind wir Kinder Gottes, so sind wir auch seine Eiben. Und wem danach sein Herz steht, und wer danach trachtet durch den Glauben, siehe, dem soll vergessen seyn alles, was dahinten liegt von Schuld und Sünde. Was auch für Ankläger gegen ihn auftreten mögen, er hat einen ewigen Fürsprecher gefunden bei dem Vater, Jesum Christum, der gerecht ist.

Seitdem das gepredigt worden ist auf Erden, seitdem hat sich eine kleine Gemeinde der Kinder Gottes auch auf dieser Erde gebildet, die Schrift nennt sie Auserwählte von der Welt und der Herr selbst nennt sie eine kleine Heerde. Das sind nun Leute, die mit Jakobus sagen können: Er hat uns gezeuget nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir wären Erstlinge seiner Kreaturen, die mit Petrus rühmen können: Wir sind das auserwählte Geschlecht, das königliche Priesterthum, das heilige Volk, das Volk des Eigenthums, daß wir verkündigen sollen die Tugenden deß, der uns berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Lichte, die wir weiland nicht ein Volk waren, nun aber Gottes Volk sind, und weiland nicht in Gnaden waren, nun aber in Gnaden sind; die mit Paulus rufen mögen: Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hie, der gerecht macht; wer will verdammen? Christus ist hie, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns; wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?; die mit Johannes bezeugen können: Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder. Wie diese Gemeinde ihren unsichtbaren Vater geliebt hat, das hat die Welt nicht sehen kennen, aber wenigstens wie sie sich unter einander geliebt haben, das hat man mit Erstaunen gesehen, denn wie uns ein Kirchenvater aus der ersten Zeit erzählt.- mit Erstaunen haben die Heiden, wenn sie sahen, wie Christen in einer so neuen Liebe mit einander verbunden waren, ausgerufen: Sehet, wie sie sich lieb haben!

In dem seligen Bewußtseyn nun, einer solchen Familie von Gottes Kindern anzugehören, ruft Johannes: Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir sollen Gottes Kinder heißen! Selige Freude spricht dieser Ausruf aus und zu gleicher Zeit Verwunderung. Das kindliche Gemüth kann es nicht begreifen, wie es so großer Gnade und Huld werth geachtet worden ist. Wer hätte es erwartet, will er sagen, wir die Ungehorsamen und die wir in der Finsterniß wandelten, uns hat er werth gehalten, daß wir seine Kinder werden sollen! Bis zu dieser Stunde gibt es noch überall und Gott sei Dank, auch unter uns, ja mitten in dieser Versammlung gibt es noch Viele, die mit derselben seligen Verwunderung dem Apostel nachrufen können: Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir sollen seine Kinder heißen! Ihr aber, die ihr es einmal und wieder einmal habt ausrufen können, o daß es erst dazu mit euch käme, daß alle Stunden euer Herz davon überwallte, daß diese selige kindliche Freude in all unsern Zügen, in allem unserm Thun und Treiben sich ausprägte, daß unser ganzes Leben in der Welt und mit der Welt ein fortgehender Ausruf wäre: Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen! Wie Viele würden dann unserm Glauben und unserm Herrn gewonnen werden? Denn diese selige und doch dabei so stille und demüthige Freude, die die ächten Christen auszeichnet, sie hat etwas Unwiderstehliches, und je weniger der Mensch die verborgene Quelle ahnen kann, aus der sie fließt, desto wunderbarer berührt sie ihn, wer sie findet.

Christen, so selig macht uns unser Glaube, und wie selig macht uns erst unsre Hoffnung! - Denn wir sind selig geworden, sagt Paulus, auf Hoffnung! - Wir sind jetzt Gottes Kinder - sagt Johannes, und sein Herz bebt vor Freude - aber es ist noch nicht einmal erschienen, was wir seyn werden, setzt er hinzu, und sein Herz wallt über in überschwenglicher Ahnung. Die Gläubigen selbst, die wissen es freilich mit seliger Gewißheit, daß sie Kinder Gottes sind, sie tragen das Zeugniß der Kindschaft in sich, aber es ist noch nicht offenbar, und daß es einst offenbar werden wird, das ist der Gegenstand der christlichen Hoffnung. So lange es indeß noch nicht offenbar worden ist - welch' ein seltsam kühnes Räthsel stehen sie vor der Welt! Versetzt euch einmal in die Zeit der ersten christlichen Gemeinde, denkt euch der ganzen großen heidnischen Welt mit ihren Kaisern, Helden, Weltweisen, Künstlern, mit ihrer Macht und ihrem Glanz gegenüber das kleine Christenhäuflein, zum größten Theil arme und von der Welt wenig geachtete Leute, von allen Seiten hart bedrängt und der Trübsal preisgegeben - nicht weniger, sondern sogar mehr wie alle Andern, und diese Handvoll Menschen steht und jubelt: Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir Gottes Kinder heißen sollen, und ist noch nicht einmal erschienen, was wir seyn werden! Johannes fühlt es selbst, daß für die Andern das wohl unbegreiflich seyn muß: Die Welt, sagt er, kennet uns nicht, denn sie kennet Ihn nicht. Und noch kühner tritt Paulus auf. Er hat gesagt: Wir rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, aber gegenüber der ganzen ungläubigen spottenden Welt sagt er noch mehr: nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale. Wenn ihr wollt mögt ihr das wohl einen Trotz nennen, aber es ist ein göttlicher Trotz, wie unser Luther sagt, daß der Glaube dem Menschen ein trotziges Herz gebe gegen Gott und gegen jede Kreatur. Und was ist denn der Mittelpunkt aller Hoffnung dieser Elenden und Armen? es ist wohl Ehre, Herrlichkeit, Genuß? Allerdings, denn Preis, Ehre und unvergängliches Wesen, sagt der Apostel, wird er denen geben, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben. Aber der Mittelpunkt ihrer Freude und Hoffnung ist es noch nicht, der Mittelpunkt ihrer Freude und Hoffnung ist, worauf kein anderes Menschenherz sich freut, als das ihrige - daß sie ihren Herren sehen sollen und zwar, wie er ist. Brüder, wir begreifen sie wohl, jene Sehnsucht nach dem Wiedersehen bei denen, die schon hier auf Erden in sein heiliges Antlitz hatten schauen dürfen, als er an jenem Morgen auf dem Oelberge von ihnen Abschied nahm und die Wolke ihn bedeckte, während seine Hände zum letzten Segen sich über sie ausbreiteten. Brüder, wir begreifen es wohl, daß da eine brennende Sehnsucht in ihrem Herzen zurückgeblieben ist, daß die aufgehobenen segnenden Hände ihnen vor Augen gestanden haben ihr ganzes Leben lang. Aber nicht bloß die, welche ihn mit dem leiblichen Auge gesehen hatten, haben das Feuer der Sehnsucht in ihrem Herzen behalten, nein, in dieser Flamme der Sehnsucht sind alle Christenherzen der ersten Zeit geschmolzen, derer, die ihn mit dem leiblichen Auge geschaut hatten, wie derer, die ihn bloß gesehen hatten mit dem inwendigen Auge. An die Gemeinde von Kleinasien, die niemals mit eigenen Augen ihn geschaut, schreibt der Apostel Petrus - der ihn geschaut, und der gewiß seinen letzten Blick nimmer vergessen hat, welcher mit jener Frage verbunden war: Simon Johanna hast du mich lieb? - an jene Gemeinden also, die ihn nimmer gesehen, schreibt der Apostel: Wenn geoffenbaret wird Jesus Christus, welchen ihr nicht gesehen und doch lieb habt, und nun an ihn glaubt, wiewohl ihr ihn nicht sehet, so werdet ihr euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude. Da sehet ihr's, wie in jener Sehnsucht die Flammen aller Christenherzen sich vereinigt haben.

Und zwar sollen sie ihn sehen, wie er ist. Als sie ihn hier auf Erden sahen, da hat ihr Herz schon gebrannt, und doch hatten sie ihn noch nicht gesehen, wie er ist. Schon hier hatten sie, wie Johannes sagt, in ihm geschaut eine Herrlichkeit als die eines eingebornen Gottessohnes, und doch stand damals die Sonne noch hinter den Wolken, es waren nur einzelne Strahlen, welche durch das Gewölk hindurchbrachen. Er selbst war noch nicht verherrlicht beim Vater und auf sie war noch nicht ausgegossen der Geist vom Vater. Beim Wiedersehen wird das alles anders seyn. Ihr begreift also die Sehnsucht nach dem Freunde, der zum Vater gegangen war, um die Herrlichkeit zu nehmen, die er von Anfange der Welt an hatte, wohl bemerket ihr aber auch dies, daß Ihr hier mehr habt, als die bloße Empfindung für ein menschliches auf eine Zeitlang getrenntes Freundesband? Es ist nicht jene Sehnsucht einer freundschaftlichen Empfindsamkeit, die ihr hier, erblicket, wie sie leicht entsteht und auch leicht in Bezug auf die Person unseres Herrn geweckt werden mag. Selbst in der zarten Seele des Jüngers, den der Herr lieb hatte, und der in seinem Schooße gelegen, ist diese Sehnsucht mit stärkeren, heiligeren Empfindungen verweben und verschlungen. Wenn es aber erscheinen wird, sagt er, so werden wir ihm gleich seyn, denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Sehet, welch' eine männliche Sehnsucht, welch' ein männliches Verlangen, daß, wenn sie ihn wiedersehen werden, wie er ist, sie ihm gleich seyn werden ohne Irrthum und ohne Sünde! Dies, dies ist es, wonach die Seele jener Christen verlangt, was vorzugsweise die Seele desjenigen Jüngers erhebt, der noch mehr als die andern alle durch die Bande persönlicher Freundschaft mit seinem Heilande verbunden gewesen war. Ihr seht, wie wenig das Bild, das sie euch vom Jünger, den der Herr lieb hatte, entwerfen, als einer bloß empfindsamen Seele, der Wahrheit entspricht!- Er ist jetzt auf Neue geboren, und er wurde es ja schon in früher Zeit seiner Jugend, aber selbst der hundertjährige Jünger ist dahin noch nicht gekommen, daß er mit seinem Meister sagen könnte: Wer mag mich einer Sünde zeihen. Denkt euch, der liebe, innige Johannes, der da rufen konnte: und seine Gebote sind nicht schwer, selbst dieser muß sich einschließen mit der ganzen christlichen Gemeinde in das Bekenntnis;: So wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. O wie mag ihm das schmerzlich gewesen seyn! O wie mag diese Seele, deren ganzes Leben Ein göttlicher Hauch war, danach verlangt haben, daß doch bald gar nichts mehr in ihm erfunden würde, worin sein Bild noch von dem Bilde seines himmlischen Freundes verschieden wäre. Aber - er wird ihn sehen - mit neuen verklärten Sinnen, wird ihn sehen, wie er ist, und da nur das Verwandte das Verwandte sehen kann, so wird er bann ihm gleich seyn!

O ihr, die ihr aus Christi Namen die Taufe empfangen habt, wer von euch kennt das Seligseyn in solcher Hoffnung? Laßt auch euch fragen, erstens: Seid ihr schon jetzt selig auf Erden, dieweil ihr wisset, daß ihr Gottes Kinder seid? Lasset auch euch fragen zweitens: Blickt ihr auf die letzte Stunde hin mit Hoffnung nach größerer Seligkeit? Lasset mich aber endlich die Frage euch vorlegen: Was ist der Mittelpunkt der Freude, die beim Hinausblick auf die Ewigkeit euch ergreift? O ich muß beklagen, daß eure eigenen Lehrer euch oftmals in dem Stücke irre leiten. Wenn der Geistliche zu dem letzten Krankenlager hinzutritt und trösten soll, wonach greift er dann in der Stunde der Noth? Ach, ists nicht so häufig bloß dies, daß ihr eure Lieben wieder sehen sollt? Wunderbar- an keiner einzigen Stelle spricht die heilige Schrift von diesem Troste. Nicht, als ob ich dadurch jene Hoffnung euch zweifelhaft machen wollte, aber nur das will ich sagen: Der Mittelpunkt christlicher Sehnsucht und Hoffnung kann das nicht seyn beim Sterben. Daß wir Ihn - daß wir Ihn wiedersehen werden, den wir lieb haben, ob wir ihn wohl nie mit sterblichem Auge sahen, das, das gibt aller christlichen Hoffnung auf dem Todtenbette ihre leuchtende Flamme. Und wiederum, auch diese Sehnsucht nach ihm, worin hat sie bei euch ihren Grund? Quillt sie aus einem schwächlichen Gefühl, oder aus jenem männlich starken, daß ihn sehen und ihm gleich seyn, frei seyn von Sünde und Irrthum, ein und dasselbige ist? O Christen, reiniget euren Glauben, stählet eure Hoffnung an dem Glauben und der Hoffnung des Jüngers, den ihr nur zu oft bloß als den Prediger einer schwächlichen, kränklichen Liebe betrachtet!

Wer solche Hoffnung hat - so schließt der Jünger - nun, was erwartet ihr? - wer die Hoffnung hat, daß er einst doch ihm gleich werde, wenn er ihn sehen wird, wie er ist, der ruhet vom Werke der Heiligung? O ihr habt noch nicht verstanden, was Christen-Hoffnung ist! Wer solche Hoffnung hat, sagt Johannes, der - reiniget sich, gleich wie Er rein ist. Heiligung, Reinigung, das ist ein Wort, welches durch alle Schriften unseres neuen Bundes hindurchgeht. Tritt es bei Paulus uns entgegen, wie ein Schlachtruf, der rüstige Kämpfer weckt, so tönt es aus Johannes uns entgegen wie ein Ruf des Verlangens, den der Liebende ruft, wenn er das Antlitz des Geliebten nicht rein und und ungetrübt schauen kann. Stark, stark ist aber auch bei ihm dieser Ruf. Vernehmt ihr gleich am Anfange dieses seines Schreibens das strenge Wort: Gott ist ein Licht und in ihm ist keine Finsterniß. So wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben und wandeln in Finsterniß, so lügen wir und thun nicht die Wahrheit. Sehet, wie seiner Gottesliebe nichts Sinnliches, nichts Irdisches beigemischt ist. Seine Gottes liebe ist eine Lichtliebe, und so denn auch hier seine Liebe zum Heilande. Er liebt ihn, weil er der allein Reine und Fleckenlose ist, und da er die große Hoffnung hat, daß er den einst schauen soll, da will er sich reinigen, damit er seinem Antlitz begegnen könne. Noch eine neue und große Wahrheit stellen uns also diese Worte ins Licht. Jene Aehnlichkeit, jene Freiheit von Sünde und Irrthum, nach welcher die fromme Seele sehnsuchtsvoll ausblickt - sie wird nicht ohne dein eignes Wollen dir zu Theil. Wirst du es gewahr, daß sie dich träg macht, jene große Hoffnung der Christen, o glaube mir, so hast du ihr wahres Wesen noch nicht verstanden. In dir selbst mußt du den Durst danach empfinden, mit heiliger Liebe mußt du fragen und prüfen: Was ist denn noch unrein und finster an mir? Fortwährend im ganzen Leben mußt du heraustreten aus der Finsterniß in den hellen Sonnenschein, der dir zuerst zwar deine Flecken zeigt, aber dann auch, wenn du nur willst, dich selber licht und rein macht. Zu euch namentlich wende ich mich, die ihr den Herrn kennt, die ihr den Herrn liebt, die ihr selig seid in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne und in der Gemeinschaft mit einander. Beherziget ihr es wohl, daß Gott Licht ist, und wer Gemeinschaft hat mit ihm und die in ihm Gemeinschaft haben mit einander, die sollen Licht seyn, und Finsterniß soll nicht in ihnen seyn'. O du heiliges, hohes Leben im Lichte! - Brüder, seid ihr sorglich darauf bedacht, euch recht genau zu beschauen alle Tage, was und wie viel von euch noch nicht vom Lichte verklärt ist? Johannes fordert euch auf: Habet ihr würklich solche Hoffnung, spricht er zu euch, nun so reiniget euch selbst, gleichwie Er rein ist. Christen, wir dürfen in keinem Augenblick uns gehen lassen und uns selbst vergessen. Durch unser Wollen und Verlangen allein kommt unser Heil nicht, aber es kommt auch nicht ohne dasselbe, darum noch einmal: Wer solche Hoffnung hat, der reiniget sich, gleich wie Er rein ist!

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autoren/t/tholuck/hauptstuecke/tholuck_hauptstuecke_15_neu.txt · Zuletzt geändert: von aj
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