Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Sechzehnte Betrachtung

Weh dem, der leugnet, dass du bist,
Unendlicher, sein Leben ist
Ihm leer von reiner Freude,
Sein irrender, sein trüber Blick
Sehnt sich umsonst nach wahrem Glück,
Umsonst nach Trost im Leide!

Die Lust zu guten Taten flieht
Vor dem, der seinen Gott nicht sieht;
Nie fühlet sich sein Herz erfreut
Von Wonne der Unsterblichkeit!
Gott, unser Trost! wie trostlos, ach, wie fürchterlich
Wird unser Leben ohne dich!:

Text: Joh. 18,37.38.
Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? - Und da er das gesagt, ging er wieder hinaus zu den Juden, und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.

Mit erhabenem Ernst widerlegt der Herr die irrige Meinung seines Richters von ihm, als ob er sich für einen irdischen König halte. Ich bin geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme, spricht er zu ihm. Aber, was ist Wahrheit? entgegnet Pilatus. Gibt es denn nur eine Wahrheit, ist das nicht Schwärmerei und wer sind sie, die daran glauben? Das und ähnliches liegt in dieser Frage des Pilatus.

Einen tiefen Blick in ein trostloses, von ewigen Zweifeln umhergetriebenes, in sich selbst zerrissenes, glaubensleeres Gemüt lassen uns diese Worte tun. Es soll uns dies noch deutlicher werden, durch Beantwortung der Frage: Wie sieht es in dem Inneren dessen aus, der fragen kann, was ist Wahrheit?

In einem schauderhaften Zustand befindet sich, wer diese Sprache führen kann; es gibt für ihn

  1. keine Aufhellung des Rätselhaften in seinem Dasein und Schicksal;
  2. keinen Zweck des Lebens und Wirkens;
  3. Keine Hoffnung im Tod.

I.

Es ist ein Gott. Das ruft mir das Weltall zu in allen seinen Erscheinungen. „Dass ein Gott sei, ist ihnen offenbar, denn Gott hat es ihnen selbst geoffenbart, damit, dass Gottes unsichtbares Wesen, das ist, reine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man es wahrnimmt an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt, also: dass sie keine Entschuldigung haben.“ „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Veste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagts dem anderen und eine Nacht tuts kund der anderen.“ Dass ein Gott sei, verkünden mir alle Geschlechter, die, seit Menschen sind, waren. Der Wurm, der im Staub kriecht, und der Sonnenball am Firmament, das Sandkorn, und des Meeres unermessliche Fluten rufen mir dies zu. Es ist ein Gott, verkündet mir eine Stimme in meiner Brust und die Aussprüche der Weisesten aller Zeiten; das Lallen der Säuglinge und Unmündigen und das Wort des Wahrhaftigen. Das Geschick der Menschheit und die beschränkte Erfahrung meines eigenen Lebens lehren mich, es ist ein Gott, ein Schöpfer und Erhalter aller Dinge, eine ewige Weisheit, eine ewige Liebe. Es ist ein Gott, das ist Wahrheit und wer fragen kann: Was ist Wahrheit? - hat den Glauben an Gott verloren; die Welt, so wie er selbst, sind ihm ein Werk des Zufalls; das menschliche Geschick ein Spielball der Umstände, wo ohne Wahl und Weisheit dem einen Elend, dem andern Glück zugeworfen wird. Die Weisheit und Liebe, die seine Augen leben, die Wahrheit, die sein Ohr vernimmt, die Rührungen, die sein Herz empfinden könnte sind für ihn nicht da. Auf die Fragen: woher alles um mich, woher ich selbst? - keine Antwort. Alles Rätsel ohne Auflösung. Das ist der Seelenzustand derer, welche fragen können: Was ist Wahrheit? - Für sie gibt es keinen Trost bei dem Wechsel aller irdischen Dinge; keine Ruhe bei den Wendungen des menschlichen Schicksals; keine Liebe, die auch die Haare auf unserm Haupt gezählt hat und ohne deren Willen keines fällt; keinen Glauben an eine ewig weise Leitung der Welt und des Menschen. Ohne Vertrauen, ohne Ruhe, ohne Zufriedenheit, ohne Stärke, die nur der Glaube gibt, irren sie trostlos und zweifelnd umher. Den Toren haben sie sich zugesellt, die in ihren Herzen sprechen: Es ist kein Gott!

Es ist ein Gott und ich trage sein Bild an mir. Von ihm geschaffen, bin ich nicht bloß bestimmt, zu genießen, sondern vollkommen zu werden, - aufzusteigen wieder zu Gott, von wo ich kam. Ein Lieben Gottes, ein Ringen nach Freiheit von dem Irdischen, ein Sehnen nach Gott, das ist mein wahres Leben, mein höherer, himmlischer Beruf. Das ist Wahrheit. Laute Zeugen dieser Wahrheit sind: der Durst nach Unvergänglichem, der durch keinen irdischen Besitz befriedigt wird; der Ausspruch meines Gewissens, dieser heilige Richterspruch in meinem Inneren; die Kraft zu unterscheiden und zu wählen; meine Freiheit und jeder Sieg, den ich über meine irdische Natur davon trage. Wer fragen kann: Was ist Wahrheit? der glaubt an diese höhere Bestimmung nicht, der stellt sich selbst dem vernunftlosen Tiere gleich; der erklärt den Ausspruch seines Gewissens für Lüge, und seine geistigen Kräfte für umsonst verliehen. Lasst uns essen und trinken, morgen sind wir tot, das nur kann die Sprache derer sein, die fragen, was ist Wahrheit? - Ein ewiges Jagen nach Genuss, nach Befriedigung der Lüste und Begierden, ein Hängen am Eitlen, das ist ihr Leben, und bei dem allen sich müde jagen, ohne Befriedigung zu finden, das ist ihr Los. Denn das Vergängliche und der irdische Genuss wird, je länger er dauert, desto mehr zum Ekel, nur geistige Speise stillt den Hunger der Seele, ist ewig neu in ihrem Reiz und in ihrer Erquickung.

Mit diesem Leben ist es nicht aus. Es gibt ein ewiges Leben, eine Unsterblichkeit des Geistes, eine einstige Rechenschaft, eine einstige Vergeltung. Dies zeigt mir die Beschaffenheit meines Geistes; die Unvollkommenheit meines Werks, die Sehnsucht nach dem Unvergänglichen, die nie endet, die unwiderstehliche Klarheit, mit der dieser Gedanke bei allen Zweifeln immer wieder sich aufdrängt. Wir sind unsterblich, - das ist Wahrheit. Wer fragen kann: Was ist Wahrheit? - leugnet eine ewige Fortdauer des Geistes, leugnet eine Rechenschaft der Taten, leugnet eine Vergeltung und einen ewigen Lohn. Wenn nun der Tod ihn mit seiner kalten Hand ergreift; wenn er dahinten lassen muss, alles was ihn erfreute und alles, was ihm lieb war, wenn nun die Welt in ihrer Richtigkeit, die menschliche Weisheit in ihrer Torheit, die menschliche Kraft in ihrer Schwäche sich zeigt, was gibt ihm dann noch Ruhe? - Ach, vergebens sucht sie der Ungläubige; Verzweiflung, und nichts als Verzweiflung ist es, was ihm bleibt!

Wahrheit ist es, wenn auch jener Fragende diese Wahrheit noch nicht erkennen konnte, dass das Wort Fleisch ward und unter uns wohnte; dass das wahrhaftige Licht in die Finsternis der Welt leuchtete und dass der, der in des Vaters Schoß sitzt, zeugte von Gott, ja allen, die ihn aufnahmen, Kraft gab, Gottes Kinder zu werden, und versöhnte mit Gott und starb, damit wir Frieden hätten. Zeugen dafür sind die Worte der Verheißung im alten Bund und ihre Erfüllung in dem neuen; die Kraft und Tat des lebendigen Sohnes Gottes selbst, mit der er Kranke heilte und Tode auferweckte; das Gepräge der Wahrheit, welches dem Wort des Erlösers selbst inne wohnt, so, dass man nur zu hören braucht, um zu erkennen, dass diese Lehre aus Gott sei; endlich die menschliche Schwachheit und Torheit, das Bedürfnis aller Völker zu allen Zeiten, nach Erlösung, Versöhnung und Einigung mit Gott. Wer aber fragt: Was ist Wahrheit, wie sollte er an ihn glauben, der nicht kam, aufzulösen, sondern zu erfüllen, - der die Liebe offenbarte, den Glauben stärkte, von der Wahrheit zeugte und ein König der Wahrheit, selbst der Weg, das Leben und die Wahrheit war; höchstens solche Schwärmerei bemitleiden kann der, welcher wie Pilatus tat.

II.

Wollen auch wir fragen: Was ist Wahrheit? Wollen wir ihn lassen den Glauben an den Allmächtigen, Weisen, der da war, ehe denn die Berge waren und die Welt geschaffen worden war, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, der unsere Zuflucht ist, für und für? - Wollen wir ihn lassen, den Glauben an den Allliebenden, der uns sieht und kennt, der unser Flehen hört, der für uns sorgt und uns ernährt, wie er den Vögeln unter dem Himmel, die nicht säen, nicht ernten, doch Nahrung gibt und die Lilien des Feldes, die nicht arbeiten, doch herrlich bekleidet? - Wollen wir ihn lassen, den Glauben an den guten Vater im Himmel, der uns zärtlich liebt, der uns alles zum Besten dienen lässt, der uns nicht versucht über unser Vermögen? - Wollen wir ihn lassen, den Glauben, der uns in Stunden der Trübsal, wenn alle, die uns umgeben, arm an Trost sind, allein erheben, der uns, wenn alle irdischen Stützen, an denen wir uns gehalten haben, einsinken, allein ein fester Stab sein kann?

Wollen wir ihn hingeben den Glauben, dass es ein höheres Glück gibt, als die Befriedigung sinnlicher Lust, dass es unaussprechlich beseligt, recht zu tun und unglücklich macht, von Gott zu weichen? Wollen wir ihn hingeben diesen Glauben, der in allen Stürmen beruhigen, der vor dem Falle bewahren kann? - Wollen wir ihn sinken lassen den Glauben an einen Vorzug, der uns vor dem zur Erde gebückten Tier ward, den Glauben, an eine Ähnlichkeit mit Gott und an die Bestimmung, zu ringen nach Vollkommenheit? - Wollen wir ihn sinken lassen den Glauben, der uns Größe und Würde gibt und uns zu edler, frommer Tat entflammt? . Wollen wir ihn wegwerfen den Glauben, an ein ewiges Leben, an eine Zeit der Rechenschaft, an eine Zeit, wo die Ungleichheit der Austeilung irdischen Glücks verschwindet, wo alles Unvollkommene in Vollkommenes sich verwandelt, wo wir alle wieder finden, die uns vorangegangen, wo wir alle selig sein werden in Gott? - Wollen wir ihn hinwerfen, diesen ermutigenden Glauben, der dem Tode seine Schrecken, dem Grab seine Schauder nimmt? - . Wollen wir ihm entsagen dem Glauben, an den, welchem die Menschheit sehnsuchtsvoll entgegen sah, an den Anfänger und Vollender unsers Glaubens, der alles bestätigte, was je das Menschenherz mit höheren Ahnungen, mit Trost und Freude erfüllte, der vervollständigte, was unvollkommen war, der das Angesicht Moses aufdeckte und was im alten Bund verschleiert war, enthüllte, der leuchtete, als ein Licht in der Finsternis der Welt? - Wollen wir von ihm lassen, der uns stärkt in Schwachheit, der uns aufhebt, wenn wir gefallen sind, der uns teuer am Stamm des Kreuzes mit seinem Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben zu seinem Eigentum erkauft hat; wollen wir den Glauben an ihn, unsern Tröster in der Angst der Sünden, unsern Helfer in der Todesnot, an ihn, der den Himmel uns geöffnet und ewige Seligkeit, Teilnahme an seiner Herrlichkeit uns verheißen hat, wollen wir diesen Glauben an ihn aufgeben?

Nein. Wir fragen nicht: Was ist Wahrheit? Wahrheit ist, dass du bist, o Gott, und der, den du gesandt hast, und dass die Erkenntnis seines Wesens, der du allein wahrer Gott bist, und dessen, den du gesandt hast, das ewige Leben, Seligkeit, gibt! Es gibt eine Wahrheit und teuer soll sie uns sein! Verhüllt ist sie oft, aber dem treuen Forscher zeigt sie sich immer wieder in neuem Glanz: Sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben, und sie ists, die von mir zeugt. Sucht, so werdet ihr finden! Bitter ist oft die Wahrheit; denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer, denn kein zweischneidig Schwert, und durchdringt, bis dass es scheidet, Seele und Geist, auch Mark und Gebein und ist ein Richter der Gedanken, und Sinnen des Herzens - aber sie ist auch tröstend und erquickend und heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und seine Tröstungen sind lieblicher, denn alles Irdische. Verkannt ist zwar oft die Wahrheit - aber immer wieder, auch noch so lange unterdrückt, hebt sie sich siegend empor. Himmel und Erde werden vergeben; aber meine Worte vergehen nicht.

An dir, Fürst des Lebens, wollen wir fest halten! Gib selbst, o Herr, dass nicht unser Wort, nicht unsere Tat je frage: Was ist Wahrheit? Nimm den Zweifel von uns! Heilige, erhalte, stärke uns in der Wahrheit, die dein Wort ist! Ja dir, der du die Wahrheit, das Leben und der Weg bist, der zum Vater führet, dir allein wollen wir folgen! Amen!

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