Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Wanderungen des Menschensohnes - 7. Die Marterstraße.
Ev. Lukä 23, 26. 27. Und als sie ihn hinführten, ergriffen sie Einen, Simon von Cyrene, der kam vom Felde, und legten das Kreuz auf ihn, dass er es Jesu nachtrüge. Es folgte ihm aber nach ein großer Haufe Volks und Weiber, die klagten und beweinten ihn.
Das ist nun die allerletzte Wanderung, die des Menschen Sohn in den Tagen seines Fleisches getan hat, die Wanderung von Jerusalem nach Golgatha. Aus Gehorsam gegen den Vater und aus Liebe zu den Menschen war der Mittler auf das Osterfest nach Jerusalem gezogen, auf dass sich Alles erfüllte, was von ihm geschrieben stand durch die Propheten. Noch einmal hatte er in der heiligen Stadt mit seinen Jüngern das Osterlamm gegessen, nach welcher Speise ihn aufs Herzlichste verlanget hatte. Er hatte bei und nach dem Essen des Osterlamms das heilige Abendmahl eingesetzt, den Jüngern die Füße gewaschen, in tiefsinnigen Gesprächen den besten, für die letzte Zeit gespart gebliebenen Wein seines Evangeliums geschenkt und jenes hohepriesterliche Gebet gebetet, in welchem sich das Allerhöchste darstellt, was je in Menschenworten auf dieser Erde gesagt ist. Er war dann mit seinen Jüngern über den Bach Kidron gegangen, war in das geheimnisvolle Trauern und Zagen von Gethsemane hineingegangen, war betrübt gewesen bis an den Tod und hatte unter Schweiß wie Blutstropfen den bitteren Kelch des Vaters getrunken. Als er aus Gethsemane hervorging, war es Mitternacht: und eine Nachtgestalt nach der andern empfing Gewalt, des Menschen Sohn zu kränken und zu quälen. Judas Ischariot verriet ihn, die Knechte fingen ihn, die Hohenpriester erklärten ihn für todesschuldig, Petrus verleugnete ihn, Herodes verspottete ihn, Pilatus verurteilte ihn, die Soldaten höhnten, bespien und geißelten ihn, das ganze Volk aber rief: Kreuzige! Kreuzige ihn! Dann legten sie ihm das Kreuz auf seine heiligen Schultern und führten ihn hinaus nach Golgatha. Diesem Gange des Menschensohnes von Jerusalem nach Golgatha gilt unsere letzte Betrachtung.
Es ist das die schmerzensvollste Wanderung, die des Menschen Sohn in den Tagen seines Fleisches getan hat, die Wanderung von Jerusalem nach Golgatha. Es musste ja für den, der ohne Sünde war, das ganze Leben in dieser sündenvollen Welt, ein Leben im Schmerz sein. Er war ein milder König, und es verrann ihm das Leben unter trotzigen Rebellen. Er war eine Blume des Himmels, und er blühte unter den Dornen und Disteln der Erde. Er war ein brennendes Licht, und er brannte mitten in Finsternis und Schatten des Todes. Sein ganzes Leben auf Erden war ein Leben im Schmerz. Aber sein Leben gipfelte auf Golgatha, so gipfelte auch sein Schmerz auf Golgatha. Die Wanderung nach Golgatha war der schmerzensvollste Gang seines Lebens. Noch heute trägt die Wegesstrecke zwischen Jerusalem und Golgatha den Namen Haradell-Alahm, via dolorosa, Straße der Schmerzen, Marterstraße.
Indem wir unsere Blicke auf diese Marterstraße wenden, bemerken wir sofort, dass sie zugleich eine Tränenstraße ist; denn während des Menschen Sohn dahin pilgert als der Mann der Schmerzen, wandern die Töchter Jerusalems zu seiner Seite klagend und ihn beweinend. Da ist es nun sehr bedeutsam, dass der Heiland, der auf seinen andern Wegen und Wanderungen immer die Tränen trocknete und selbst an Totenbahren sprach: Weine nicht! die Tränen, die auf seiner Marterstraße geweint werden, nicht verbietet. Wohl gibt er den Tränen der Töchter Jerusalems eine andere Richtung, aber gegen die Tränen selber schreitet er nicht ein, im Gegenteil, er fordert die Weinenden geradezu auf, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Der Heiland wehrt also denen, die ihn auf seiner Marterstraße geleiten, nicht, ihre Gefühle hervorbrechen zu lassen. Es ist sein Wohlgefallen, dass seine Marterstraße uns eine Tränenstraße sei; wir sollen Angesichts des Mannes der Schmerzen nicht unempfindlich bleiben wie Fels und Stein, sondern weinen, weinen! Aber es gibt, so sind wir aus der Schrift gelehrt, eine doppelte Traurigkeit, eine göttliche, die zur Seligkeit eine Reue gebiert, die Niemand gereuet, und eine weltliche, die den Tod gebiert. Weinen sollen wir auf Christi Marterstraße; es fragt sich, was für Tränen müssen wir weinen, dass sie Zeichen der seligen göttlichen Traurigkeit seien und wir nicht der weltlichen und unseligen Traurigkeit anheimfallen? Dürfen es Tränen des Mitleids sein? Oder müssen es Tränen der Buße sein? Oder können es auch Tränen der Freude sein? Der Herr selber wolle uns Antwort geben durch seinen Geist aus seinem Wort, damit unsere Tränen ihm gefallen und wie himmlischer Tau die Keime des ewigen Lebens befruchten.
Die Tränen, die jene Frauen aus Israel dem Heilande auf seinem Gange nach Golgatha zollten, waren offenbar Tränen des Mitleids. Für den großen Haufen, der den Herrn von Jerusalem nach Golgatha begleitenden Menge lag zwar das Mitleid so fern, wie es einem Wolfe liegt, der das Lamm, über das er hergefallen ist, sich verbluten sieht; denn dieser große Haufe war dieselbe Volksmenge, die mit dem „Kreuzige, Kreuzige ihn!“ die Ohren des römischen Landpflegers Pontius Pilatus so lange betäubt hatte, bis der schwache, ungerechte Richter den Unschuldigen zur Kreuzigung abführen ließ. Diese Mitpilger nach Golgatha gingen mit, um sich an den Qualen ihres Opfers zu weiden; Fanatismus und Grausamkeit waren die Dämonen, von denen sie beherrscht wurden. Viele andere sind sicherlich aus bloßer Neugier mitgegangen: es gab auf dem Wege zwischen Jerusalem und Golgatha etwas zu sehen, was nicht alle Tage zu sehen war; ein früher gefeierter Mann, möglicher Weise der Messias Israels, jedenfalls ein großer Wundertäter und Prediger ohne Gleichen, sollte wie ein gemeiner Missetäter hingerichtet werden; so etwas sehen sich auch solche Leute einmal an, die sonst nach einem Messias nicht viel fragen. Es ist nicht unmöglich, dass auch Simon von Cyrene aus keinem andern Grunde als aus Neugier vom Felde auf die Marterstraße gelaufen kam. Er hat dann die Neugier schwer bezahlen müssen; denn die römischen Soldaten zwangen, pressten ihn, dem Menschensohn das Kreuz nachzutragen; er ist aber auch durch seine Neugier in die Heilsbegierde hineingekommen, das deutet der Evangelist Markus an, wenn er Simon von Cyrene als den Vater zweier gläubigen Männer, des Alexander und Rufus, bezeichnet; denn diese Bezeichnung gilt der Andeutung gleich, dass aus der gezwungenen Nachfolge Christi bei Simon später eine freiwillige geworden ist, dass er gläubig geworden ist mit seinem ganzen Hause. So kommt noch heute Mancher aus bloßer Neugier zum Anschauen der Passion Jesu Christi, zum Anhören gläubiger Passionspredigten, zur Mitfeier kirchlicher Passionsgottesdienste; aber unter den gnädigen Fügungen des Heiligen Geistes wird aus seiner Neugier Heilsbegierde, und ehe er sich's versieht, ist der Mensch in die lebendigste Teilnahme am Kreuze Christi hineinverflochten. Dennoch, so lange Neugier Neugier ist, weint sie auf Christi Marterstraße eben so wenig Tränen, wie der Fanatismus und die Grausamkeit sie weinen. Wenn die Töchter Jerusalems den Heiland beklagen und beweinen, so gehören sie weder zu dem fanatisierten Haufen der Feinde Christi, noch zu den Neugierigen; Mitleid ist das Gefühl, das ihre Herzen durchwogt, an seinem jammervollen Schicksal nehmen sie mit bewegtem Gemüte herzlichen Anteil; und darum können sie nicht anders, sie müssen weinen, sie weinen Tränen des Mitleids.
Es weinen ja die Frauen überhaupt eher, als die Männer; denn sie fühlen tiefer, als sie. Frauen sind weicher und teilnehmender für den Schmerz und mitleidiger, als die Männer; wenn der ewige Gott ein Gleichnis sucht für sein himmlisches Erbarmen gegen uns arme Sünder, nach welchem ihm allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht, dann nimmt er es am liebsten aus dem Frauenleben her: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes, und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen, spricht der Herr. Ich will euch trösten, wie Einen seine Mutter tröstet.“ Die Frauen Israels hatten gegen den Mann der Schmerzen schon während seiner Wanderjahre eine ganz andere Stellung eingenommen als die Männer; viele Männer waren dem Schönsten unter den Menschenkindern von der Krippe bis zum Kreuze hin gram und feindselig, aber auch nicht eine einzige Frau tritt in den vier Evangelien als eine Widersacherin des Heilandes auf; sogar die Gattin des stolzen Römers Pontius Pilatus, der den Herrn kreuzigen ließ, verwendete sich, wenn auch vergebens, bei ihrem Gatten für den Herrn: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten!“ Die Weltgeschichte hat dann in den folgenden Jahrhunderten uns allerdings manche Frauengestalt gezeigt, die es den Männern gleich tat in Hass und Frevel gegen den Mittler der Menschheit, aber im Ganzen und Großen hat immer die Frauenwelt eine viel pietätsvollere Stellung zu dem Sohne Gottes eingenommen, als die Welt der Männer. Sie nimmt auch in unseren Tagen, die Männer beschämend, diese Stellung ein.
Öde stehen die Tempelhallen,
Gras bedeckt den Kirchensteg;
Wo die frommen Lieder schallen,
Kehrt sich stolz der Mann hinweg.
Auf des Zweifels Klippenhöhen.
Irrt er mit verwegnem Fuß,
Hört noch kaum im Windeswehen
Talherauf der Glocken Gruß.
Aber noch sammeln dem Höchsten zur Ehre
Gern sich die Frauen um Christi Altäre,
Leihen der himmlischen Botschaft ein Ohr;
Über die Sterne auf seligen Bahnen
Eilet ihr frommes geflügeltes Ahnen
Siegreich dem grübelnden Manne zuvor. 1)
Aus dieser allgemeinen Teilnahme der Frauen am Schmerz und am Manne der Schmerzen erklären sich die Tränen des Mitleids, die die Töchter Jerusalems auf der Marterstraße Christi weinen, während die Männer in fanatischer Erregung oder in bloßer Neugier die Straße dahin ziehen. Die Töchter Jerusalems sehen den, der seine Lippen so oft zu süßer Trostesrede geöffnet hatte, nun in stummem Leid zum Tode wandern. Sie sehen den, der so Vielen alle Last vom Herzen genommen, dahinwanken unter der schweren Last des Kreuzes, die dadurch, dass Simon von Cyrene das unterste Ende nachzutragen gezwungen wurde, eher schwerer, als leichter geworden war. Sie sehen den, der ein gütiger Wohltäter Israels in mancherlei Erweisungen einer nie ermüdenden Barmherzigkeit gewesen war, nun wie einen gemeinen Übeltäter mit zwei Mördern zusammen aus der Stadt und aus dem Leben verstoßen. Sie sehen den, der gepredigt hatte von einem himmlischen Throne, von dannen er gekommen sei und zu dem er gehe, nun zur Schädelstätte pilgern, das Holz des Fluches zu seiner Kreuzigung selber dahin tragend. Das sehen sie; und mehr als sie sehen, müssen sie fürchten, denn das Schrecklichste wartet. Und Er selbst ist bei alledem so still, so sanft, so gottergeben. Da können die Augen der Töchter Jerusalems nicht trocken bleiben; vor Mitleid mit dem unsäglichen Leid des Menschensohnes gehen ihnen die Augen über.
„Weint nicht über mich,“ so ruft der Mann der Schmerzen den Weinenden zu, „weint über euch und eure Kinder!“ Wie? Tadelt der Herr damit die Tränen, die über seine Passion vergossen werden? Das Wort steht ja da: Weint nicht über mich; aber das „nicht“ ist in der Sprache der Bibel oft ein „nicht nur“; wer die Sprechweise der Bibel kennt, kann hier nicht anders übersetzen als: Weint nicht nur über mich, sondern auch über euch! Man wendet freilich gegen dies „nicht nur“ ein, des Menschen Sohn sei ein viel zu erhabener Herr, als dass er Mitleid leiden könne; der Adler begehre des Mitleids der Mücke nicht, der Sohn Gottes nicht des Mitleids gefallener Kreaturen. Allein die Erhabenheit des Heilandes in den Tagen seines Fleisches, wie sie das Leid nicht ausschloss, sondern einschloss, so schloss sie auch das Mitleid. nicht aus, sondern ein; der so demütig war, Tränen zu weinen, war auch so demütig, Tränen anzunehmen, die um seinetwillen geweint wurden. Als der Herr in Gethsemane litt, forderte er geradezu das Mitleid der Jünger und klagte, dass sie auch nicht eine Stunde mit ihm wachen könnten. Als der Herr seine Marterstraße dahinzog, sprach er sonst kein einziges Wort, nur für die mitleidigen Frauen öffnete er seine Lippen, zum Zeichen und Zeugnis, dass nach so viel gefühllosem Spott, nach so viel Marter und Pein die Tränen des Mitleids in den. Augen der Töchter Jerusalems ihm wohltaten. O, auch wir selber wissen ja am Ende alle, wie bei großen schmerzlichen Geschicken, die sich an uns vollziehen, Mitgefühl teilnehmender Herzen ein wohltuender Balsam ist. Auch für des Menschen Sohn hatte Teilnahme etwas Wohltuendes; Er tadelt die Tränen des Mitleids nicht, die uns sein namenloses Leid auspresst. Wir brauchen dieser Tränen des Mitgefühls uns auf der Marterstraße Christi nicht zu schämen.
Es ist wahr, es gibt ein Mitleid der Welt mit Christo und den Seinen, das vom Übel ist. Wenn Weltmenschen beklagen, dass einer der Ihrigen sich zur Nachfolge des gekreuzigten Christus begeben hat; wenn sie beseufzen, dass solch ein bekehrter Mensch nun nicht mehr mittrinkt aus dem Taumelkelche der Sünden; wenn sie die kreuztragenden Wanderer, die im Blute Christi ihr Heil suchen, als überspannte, für das Leben verlorene Leute beweinen: so sind sie mitleidig an sehr unrechtem Orte; statt über die Gläubigen zu trauern, täte die Welt entschieden besser, über sich selbst zu weinen und über ihre verlorenen Wege. Aber wer die Töchter Jerusalems zu Repräsentantinnen dieses üblen weltlichen Mitleids macht, stellt sie wahrlich viel zu niedrig. Ihr Mitleid gilt vielmehr dem Leiden des Gerechten, des Wohltäters, der Hoffnung Israels. Wollte Gott, dass Tränen solches Mitleids mit dem leidenden Christus auch heute noch recht reichlich vergossen würden. Sie bilden eine Erfüllung der alten Weissagung des Propheten Sacharja (12, 10): „Sie werden mich ansehen, welchen jene zerstochen haben, und werden ihn klagen, wie man klagt um ein einiges Kind, und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt um ein erstes Kind.“ Darum schelte uns Niemand die Tränen, die unsere Kinder weinen, wenn sie zum ersten Mal von des Heilands Marter und Schmerz vernehmen; darum brandmarke es uns Niemand als wohlfeile Rührung, wenn auch gefühlvolle Frauen und Männer den Qualen des Erlösers Tränen des Mitleids weinen! Zur Teilnahme, zum Mitgefühl sind wir geschaffen; wer aber in der weiten Welt wäre unserer größeren Teilnahme wert, als unser leidende sterbende Erlöser? So ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn nun gar das Haupt leidet, um wie viel mehr müssen da die Glieder mitleiden? Passionstränen dürfen und sollen Tränen des Mitleids sein.
Nur dass es bei dem Mitleid nimmermehr sein Bewenden haben darf. Mitleid allein ist viel zu wenig dem Leid des Menschensohnes gegenüber. Wenn die Mutter auf dem Siechbette liegt und mit Todesängsten ringt und das Kind sich sagen muss, dass es durch seine eigne Unart die Krankheit der Mutter herbeigeführt hat wird sich da des Kindes Auge nur mit Tränen des Mitleids füllen? O nein, mit dem Mitleid wird sich die Reue vermählen, und die Reue wird das Auge noch viel heißer tränen lassen, als das Mitleid. Unendlich viel zarter als das Verhältnis der Mutter zum Kinde ist das Verhältnis des Menschensohnes zur Menschheit; und unendlich viel schwerer, als kindliche Unarten, die der Mutter Leben verkürzen, wiegen die Sünden der Menschheit, die des Menschen Sohn in den Tod am Stamme des Kreuzes getrieben haben. Darum ruft der Heiland den Töchtern Jerusalems zu: Weint nicht (nur) über mich, weint (besonders auch) über euch und eure Kinder! Tränen der Buße haben wir vor allen Dingen zu weinen, wenn wir den großen gottmenschlichen Dulder, mit dem Holz der Schmach beladen, zur Schädelstätte wandeln sehen.
Eine Bußpredigt ist die letzte Predigt des Menschensohnes, wie er sie auf dem Gange nach Golgatha den Töchtern Jerusalems hält. Auf die ungeheure Versündigung weist er sie hin, mit der sich Israel befleckt hat, da es ihn, seinen Heiland, seinen besten Freund in der Heiden Hände überantwortete zu Schande und Tod.
Auf die entsetzlichen Strafgerichte, die um dieser Versündigung willen über das Volk Israel kommen werden, weist er sie hin, auf die Zeit der Zerstörung Jerusalems, in welcher sich Israels freche Herausforderung der göttlichen Rache erfüllen werde: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ So wahrhaftig er nun nach Golgatha gehe, sein Blut zu vergießen, so wahrhaftig werde auch zu seiner Zeit sein Blut über das mörderische Geschlecht kommen. Denn wenn der allmächtige Gott zugebe, dass der Wetterstrahl das grüne Holz verzehre, so werde er die dürren Reiser wahrhaftig nicht verschonen. Wenn der Sohn durch Menschenfrevel so Unsägliches leiden müsse, so werde noch schwereres Leid die frevelnden Knechte treffen, die die Ursache seiner Plagen sind. Darüber, über ihre Schuld und über ihre Strafe, sollten die Töchter Israels weinen: Tränen der Buße forderte des Menschen Sohn von denen, die ihm auf seiner Marterstraße das Geleite gaben.
Er fordert diese Tränen der Buße auch heute noch von allen Menschenkindern, die sich im Geiste auf seiner Marterstraße einfinden, um ihn nach Golgatha zu begleiten. „Tut Buße!“ das lässt der leidende und sterbende Weltheiland allen Zeiten und allen Geschlechtern predigen. „Weint über euch und eure Kinder“, diese Bußpredigt gilt den Töchtern des neunzehnten Jahrhunderts nicht minder, als den Töchtern Jerusalems; und wir sollen dazu singen und sagen: „Fließt ihr Augen, fließt von Tränen und beweint eure Schuld; brich, mein Herz, von Seufzen, Sehnen, weil ein Lämmlein in Geduld nun nach Golgatha zum Tod, ach zum Tod für deine Not und der ganzen Welt hinwandelt; denk, ach wie hast du gehandelt!2)“
Es wird ja Niemand sagen wollen: Bin ich denn ein Jude und sind es meine Kinder, dass man mich verantwortlich machen will für die Schuld des Messiasmordes? Es ist ja wahr, Keiner von uns hat das „Kreuzige, kreuzige ihn!“ über des Menschen Sohn mitgeschrien; Keiner von uns hat ihm einen Dorn ins edle Haupt geschlagen oder ihm seinen Rücken zergeißelt; die Geschichte von Christi Leiden und Sterben ist eine alte Geschichte, zu einer Zeit geschehen, da von unseren Tagen noch nicht ein einziger da war. Dennoch haben wir ebenso wenig ein Recht wie Pilatus, uns unsere Hände zu waschen und zu sagen: Ich habe keine Schuld an diesem Menschen! Wir sind alle tief verwickelt in die Schuld, die den Herrn auf die Marterstraße brachte. Denn die Geschichte von der Kreuzigung Christi mag so alt sein, wie sie wolle, sie ist doch einmal ein Blatt, das dunkelste Blatt in der Geschichte der Menschheit; und insofern wir eben auch zum Menschengeschlechte gehören, müssen wir trauern, trauern und weinen, dass die Menschheit des Messiasmordes fähig war. Ein edles Geschlecht, das durch irgendeinen der Vorfahren mit einem dunklen Fleck beschmutzt ist, trauert darüber auch noch in seinen spätgeborenen Gliedern. Doch wir sind Alle an der Schuld, die Jesum Christum ans Kreuz gebracht hat, noch viel direkter beteiligt. Um die Sünden aller Menschen zu sühnen, ist der Herr in den Tod gegangen; also haben ihn auch die Sünden des jetzt lebenden Geschlechtes zur Kreuzigung geführt, und jeder Einzelne unter unseren Zeitgenossen müsste, wenn Alles mit rechten Dingen zuginge, an seine Brust schlagen und zu dem Manne von Golgatha unter Tränenströmen sprechen: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget, und das betrübte Marterheer!3)“ Der da die Marterstraße von Jerusalem nach Golgatha hinzieht voller Schmerzen und Krankheit, ohne Gestalt, noch Schöne: das ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt; um unserer Missetat willen ward er verwundet, um unserer Sünden willen ist er zerschlagen. Wir ließen es uns etwa wohl sein in gottloser Gesellschaft, des Menschen Sohn muss dafür in Gesellschaft von Mördern gehen. Wir umwanden unsere Stirn mit den Kränzen der schmeichelnden Lust, Jesus Christus trägt dafür eine Dornenkrone. Wir wollten hoch hinaus und immer höher, dafür musste Christus tief und immer tiefer hinab gehen, bis in die Todestiefen von Gethsemane und Golgatha. Wir, wir haben ihm Arbeit gemacht mit unserer Sünde und Mühe, mit unseren Missetaten. Darum über unsere Schuld, über uns und unsere Kinder weine unser Schmerz!
Wen aber der Blick auf seine Schuld nicht traurig macht, den soll der Blick auf das Gericht erbeben machen. Es wird ja Niemand sagen wollen: Die geweissagten Gerichte sind längst vorüber, Jerusalem ist Längst zerstört und Israel in alle Welt zerstreut! Ja, du lieber Mensch, einmal ist die Weissagung des Herrn vom Gericht allerdings schon erfüllt, aber jene Erfüllung bei der Zerstörung Jerusalems war selber wieder eine Weissagung auf ein noch größeres, noch gewaltigeres, noch schrecklicheres Gericht, auf das Weltgericht, das der Menschheit noch bevorsteht.
Zorntag, schrecklichster der Tage,
der Propheten erste Sage,
füllst die Welt mit Angst und Klage!
Welch' ein Zittern, welch' ein Schrecken,
wenn, was Finsternisse decken,
einst der Richter wird entdecken! 4)
An diesem Tage des Zornes wird alle Feindschaft wider Jesum Christum gerichtet und verdammt werden; da wird der erhöhte Menschensohn, der Richter der Lebendigen und Toten, alle Böcke, das heißt alle seine Widersacher, zu seiner Linken stellen und zu ihnen sprechen: „Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.“ Und sie werden in die ewige Pein gehen. Denn mit Feuer wird gesalzen, was milde Zucht verschmäht, und was den Tau verachtet, mit Flammen übersät. An diesen Zorntag möge denken, wen der Karfreitag nicht erschüttert. Der Karfreitag und der jüngste Tag sind die beiden größten Bußprediger. Die Schrecken des jüngsten Tages haben wir mit unseren Sünden verdient, die Schrecken des Karfreitags hat der Mittler um unserer Sünden willen getragen. Darum über uns und unsere Kinder weine unser Schmerz!
Wohl können unsere Tränen nichts gut machen und nichts sühnen. Vielmehr sind Bußtränen in sich selber wehmütige Zeichen unseres tiefgefühlten Unvermögens, da wir uns bewusst sind, auch nicht eine einzige von unseren vielen Sünden ungeschehen machen zu können, auch nicht ein Tausendteilchen von unserer Strafe abwenden zu können. Aber eben darum auch sind Bußtränen. für zerschlagene Herzen die passendste Sprache. Für Worte ist der Jammer zu groß, den Adams Fall und unsere Schuld angerichtet und den der zweite Adam sühnend auf sich genommen hat. Schweigend und gesenkten Hauptes begleiten wir den Mann der Schmerzen auf seiner Schmerzensbahn; nur unsere Träne spricht: All Sünd' hast Du getragen, sonst müssten wir verzagen; erbarm' Dich unser, o Jesu.
Tränen des Mitleids sind uns gestattet auf der Marterstraße, aber sie genügen nicht. Wir müssen Tränen der Buße weinen, denn wir haben mit unseren Sünden die Fleisch gewordene Liebe auf die Marterstraße getrieben. Aber diese Tränen der Buße sind wohl die nötigsten, doch nicht die seligsten. Es gibt süßere Tränen als Bußtränen, nämlich Tränen der Freude. Dürfen wir auch süße Freudentränen auf der Marterstraße des Menschensohnes weinen? Wir dürfen es, Gott sei Dank, wir dürfen es, wenn Christus uns das geworden ist, was er uns sein will, das grüne Holz, der Baum des Lebens, der saftreiche Weinstock, wenn wir seinen Saft und seine Kraft durch den Glauben in das verdorrte Holz unseres Lebens hinübergenommen haben, dass es nun auch grünet und blühet und Frucht bringet als die grüne Rebe am Weinstock. Ja, wenn wir uns bekehrt haben von der Eitelkeit der träumenden Welt zu der lichten, klaren seligmachenden Wahrheit in Christo Jesu; wenn wir Glauben haben und im Glauben die Rechtfertigung und in der Rechtfertigung den Frieden mit dem versöhnten Gott: dann dürfen und können wir es, dann können wir als fromme, selige Pilger auf der Marterstraße unsers göttlichen Freundes Tränen der Freude weinen, Tränen des freudigen Dankes gegen den Mittler, der unsere Sünde getragen, Tränen der freudigen Bewunderung vor dem Vater, dessen Wohlgefallen es war, dass Alles durch den Sohn versöhnet würde zu ihm selbst damit, dass er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz, Tränen des freudigen Entzückens im heiligen Geist, durch den wir Jesum unseren Herrn heißen und Gott unseren Vater.
Der Dank voran! Der unvorsichtige Jüngling fiel in die Wasserflut und kam dem Tode nahe, gerettet steht er nun am Ufer, aber der sein Lebensretter wurde, setzte beim Retten seine letzte Kraft ein und Leben. Gewiss, der gerettete Jüngling wird weinen, helle Tränen weinen, Tränen des Mitleids und Tränen der Reue und Tränen des Dankes, des freudigen Dankes gegen den Edlen, der sich selber nicht schonte, sondern sein Leben zur Rettung eines Andern einsetzte. Es ist ja das eine Geschichte, die sich oft begeben hat; doch soll sie uns ein Gleichnis sein. Der Jüngling ist die Menschheit; das Wasser ist die Sünde und alles Elend, das aus der Sünde folgt; der edle Retter ist Jesus Christus. Welcher Mensch unter der geretteten Menschheit das Herz auf dem rechten Fleck hat und es ist der Glaube, der das Herz wieder auf den rechten Fleck bringt, der weint über den Todesgang seines großen Seelenretters nicht nur Tränen des Mitleids und der Buße, sondern auch des freudigen Dankes. Dass mein guter, erbarmungsreicher Heiland mit seinem Blut und Leiden mich armen verlorenen Sünder von der Obrigkeit der Finsternis errettet und mit dem dreimal heiligen Gotte mich ausgeföhnt hat; dass er sein teures Blut vergossen hat zur Vergebung meiner Sünden und sein Leben gelassen hat, damit ich das Leben gewänne, das ewige Leben: das ist mein Jubelpsalm in Zeit und Ewigkeit. Ewig soll er mir vor Augen stehen, wie er als ein stilles Lamm dort so blutig und so bleich zu sehen, hängend an des Kreuzes Stamm; wie er dürstend rang um meine Seele, dass sie ihm zu seinem Lohn nicht fehle, und dann auch an mich gedacht, als er sprach: Es ist vollbracht! Was sind alle die angepriesenen Wonnen dieser Welt gegen diese eine einzige Wonne, einen Mittler zu haben und in das Meer seines Erbarmens sich mit dankbarem Gemüte zu verlieren! Marterstraße, schönste Straße, die meine Seele kennt: ich sehe auf ihr den Mann der Schmerzen wandern und ihm nachwandern Johannesse und Paulusse, Marien und Magdalenen aus neunzehn Jahrhunderten, und ich selbst schließe mich dem heiligen Zuge an als der allerletzte und allerunwürdigste Mitpilger; wir sind verschieden wie Riesen und Zwerge, Helden des Glaubens, die Berge versetzen, und Kinder, denen die kleinen Glaubenshände zittern; aber wir sind alle eins im Weinen, und wir weinen alle Tränen des freudigen Dankes gegen den großen Herzog unserer Seligkeit, durch dessen Blut und Leiden wir erlöste Leute sind.
Zum freudigen Dank die freudige Bewunderung! So dunkel des Vaters Wege sind, sie enden doch immer in Herrlichkeit. Die Wanderungen des Menschensohnes von Bethlehem an bis Golgatha hin sind samt und sonders in das Dunkel des Schmerzes gehüllt, und die letzte Strecke Weges ist die allerdunkelste. Aber diese dunkeln Pfade, die des Menschen Sohn wandern musste nach des Vaters Willen, waren die Wege unserer ewigen Erlösung! Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, darum für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. O welch' eine Tiefe des Reichtums beide der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Gott ist groß und anbetungswürdig in der Natur, die Himmel erzählen seine Ehre, und die Veste verkündigt seiner Hände Werk; Gott ist erhaben und rühmenswert in der Weltgeschichte, da er gemacht hat, dass von Einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen und Ziel gesetzt und zuvor versehen hat, wie lange und weit sie wohnen sollten; aber Gott ist am allergrößten und bewundernswürdigsten auf Golgatha; dieser Eine Tag von Golgatha wiegt die sechs Tage der Schöpfung und die ganze Weltgeschichte auf; denn an diesem Einen Tage hat Gott durch das Opfer seines Sohnes die ganze verlorene Welt aus den Angeln gehoben, in denen sie der Satan hielt. In diesen Rat Gottes hineinzuschauen, hat selbst die Engel gelüstet, und Propheten und Könige haben danach gesucht und geforscht; uns aber ist er geoffenbart, und diese Offenbarung der göttlichen Liebe in Christo Jesu ist so groß und so herrlich und so selig, dass uns im Gedanken derselben die Augen nass werden und Leib und Seele anbeten vor dem lebendigen Gott.
Wer aber hat uns das Auge geöffnet für die Herrlichkeit der Erlösungswege Gottes, für die wunderbare Schönheit des Mannes „ohne Gestalt und Schöne?“ Wer hat uns zu Christo gezogen? Wer hat uns die Marterstraße verklärt? Wahrlich nicht durch eigene Vernunft und Kraft sind wir in die seligen Verborgenheiten der geheimnisreichen Liebe des Vaters und des Sohnes eingedrungen, sondern der Heilige Geist hat uns berufen und mit seinen Gaben erleuchtet. Wenn uns des Mittlers Gerechtigkeit wie ein Gewand umhüllt, wenn des Vaters ewige Güte unser Leben mit tausend Erbarmungen umfängt, könnten wir da des Heiligen Geistes vergessen, der vom Vater und vom Sohne ausgegangen und gesendet, uns und unser Leben zum Sohne und zum Vater geführt, gezogen, getragen hat? O nein, die zarteste Tränenperle ist die, die geweint wird vor Entzücken im Heiligen Geist, der uns, die dürren Reben, mit dem grünen Holze zusammengefügt hat durch Wort und Sakrament, der uns aus verirrten Sündern zu Jüngern und Jüngerinnen des Menschensohnes gemacht hat und uns bei ihm bis hierher erhalten im rechten evangelischen Glauben. Er gab uns das Herz zum Manne voll Schmerz. Ihm und seinem Walten hingegeben, folgen wir dem Anfänger und Vollender unsers Glaubens fröhlich auf jeder Straße, da er voranzieht, auch auf der Marterstraße.
Die Marterstraße des Menschensohnes und damit alle seine Wanderungen endeten auf Golgatha; mit der Auferstehung beginnt für unseren Herrn ein neues Leben, das Leben in Herrlichkeit, vierzig Tage lang noch auf Erden, dann nun schon fast zwei Jahrtausende hindurch zur Rechten der Majestät in der Höhe. Auf Golgatha unter dem Kreuze Jesu Christi schließen wir diese unsere Betrachtungen über die Wanderungen des Menschensohnes; möchte einst unser eignes Wanderleben unter dem Kreuze unsers Mittlers schließen! Denn Alles, was sein Ende findet auf Golgatha, das nimmt einen neuen Anfang in österlicher Herrlichkeit. Mit des Menschen Sohne wandern gehen durch Leben und durch Sterben, das heißt, durch die Unruhe dieser Zeit entgegenwandern der seligen Ruhe der großen Ewigkeit. Amen.