Gerok, Karl von - Beichtrede am Gründonnerstag

Gerok, Karl von - Beichtrede am Gründonnerstag

Ev. Luk. 23, 28.

Jesus aber wandte sich um zu ihnen, und sprach: Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder.

Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder! So rief unser Herr und Heiland auf seinem Gang zum Kreuz mit sanftem Ernst jenen mitleidigen Frauen zu, die weinend und wehklagend ihn hinausbegleiteten nach Golgatha, und wollte ihnen damit sagen: So groß mein Leiden und so schön euer Mitleiden ist beklagenswerter als ich seid ihr selbst; ich gehe schuldlos unter der Last meines Kreuzes, über dir aber, meine Stadt Jerusalem, lastet eine schwere Schuld; ich gehe durch Leiden des Todes ein zu meiner Herrlichkeit, ihr aber mit euern Kindern geht in arger Verblendung einem schweren Geschick, einer furchtbaren Zukunft entgegen.

Weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst! Dies Wort des Herrn hat auch für uns seine Bedeutung und weist uns hin auf die rechte heilige Karfreitagsstimmung, die rechte göttliche Traurigkeit, mit welcher wir in diesen Tagen erscheinen sollen vor dem Angesichte des Herrn, erscheinen sollen insbesondere auch morgen hier am Tisch des Herrn.

„Weint nicht über mich!“ Wohl darf eine fromme Rührung über uns kommen, ein inniges Mitleid unsere Herzen ergreifen, wenn wir den großen Dulder begleiten an sein Kreuz. Wohl dürfen einer frommen Jüngerin Jesu auch heute noch die Augen übergehen, so gut als einst jenen Töchtern Jerusalems, wenn sie im Geist mit nach Golgatha geht; ja, auch einem starken Mann kann das Herz weich werden bei den Tönen eines rührenden Passionslieds, bei der Betrachtung der heiligen Passionsgeschichte, der ergreifendsten, die je geschrieben ward. Und eine andächtige Christenseele singt's von Herzen mit und fühlt's von Herzen mit, wenn eins unserer Passionslieder sagt:

Ich will jetzt mit dir gehen
Den Weg nach Golgatha;
Lass mich im Geiste sehen,
Was da für mich geschah.
Mit innig zartem Sehnen
Begleite dich mein Herz,
Und meine Augen tränen
Um dich vor Liebesschmerz.1)

Auch solche Tränen der sanften Rührung, der dankbaren Liebe, der innigen Bewunderung können einen Segen mit sich bringen, können gleich einem milden Frühlingsregen das Herz erweichen und befruchten, damit der Same der göttlichen Wahrheit desto eher Boden darin finde, damit frische Triebe frommer Liebe und heilige Vorsätze eines neuen Gehorsams sich darin entwickeln.

Aber diese wehmütige Rührung über das Leiden des Herrn, dieses natürliche Mitleid mit dem Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, ist doch noch nicht alles, was in diesen heiligen Tagen in uns wach werden soll, ist bei weitem noch nicht das Wichtigste, was diese große Woche in uns wirken muss, wenn wir sie recht begehen. Und wenn Eins unter uns meinen würde, mit einer solch' äußerlichen Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu, seiner Dornenkrone und seiner Wundmale, habe es schon den rechten Passionssegen davongetragen; mit einer weichen Rührung, die das Herz durchwallt, mit einer flüchtigen Träne, die im Auge blinkt, habe es schon das rechte Dankopfer seinem Erlöser dargebracht, dem gilt die Mahnung des Herrn: Weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder!

Wie alles, was uns Merkwürdiges begegnet im Worte Gottes und in unsrem eigenen Lebensgang, uns hineinführen soll in unser eigen Herz und zu einem Gewinn werden soll für unser inneres Leben, so auch das Größte, das Heiligste, das Erschütterndste, was die Schrift uns vor Augen führt: das Leiden und Sterben Jesu. Darum schon jenes alte Passionslied bittet:

Aber lass mich nicht allein
Deine Marter sehen,
Lass mich auch die Ursach sein
Und die Frucht verstehen;
Ach, die Ursach war auch ich,
Ich und meine Sünde,
Diese hat gemartert dich,
Dass ich Gnade finde!2)

Ach, die Ursach' war auch ich, ich und meine Sünde! Seht da, meine Lieben, warum der Herr auch uns heute zuruft: Weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst! Das ist die göttliche Traurigkeit, die in diesen Tagen in uns Allen geweckt werden soll, die wir als den rechten Karfreitagsschmuck morgen mitbringen sollen zum Kreuz Jesu und zum Tisch des Herrn. Weint über euch selbst! Traget Leid über eure Sünde. das, meine Lieben, ist die Mahnung aus dem heiligen Munde des Herrn, der sich keines von uns Allen in diesen Tagen ganz entziehen kann.

Weint über euch selber; tragt Leid über eure Sünde. Oder ist ein Einziges hier unter uns, das da sagen kann: Ich bin ohne Sünde? Ich kann mit aufrechtem Haupt dem Gekreuzigten ins Auge schauen? Ich kann mit reinem Gewissen an diesen Altar treten vors Angesicht des heiligen und allwissenden Gottes? O, mein lieber Freund, wenn du mit allen Menschen um dich her getrost dich messen könntest und sagen: Ich bin nicht schlechter als Andere auch, ja ich bin besser als tausend Andere dem heiligen Gottessohn, dem unschuldigen Lamm Gottes gegenüber, das du hier am Kreuze dulden, bluten, sterben siehst, da muss auch der Beste unter uns sich beugen und bekennen: Du Herr bist gerecht, wir aber müssen uns schämen. Und wenn du das ganze Jahr könntest hingehen, ohne einen ernsten Blick der Selbstprüfung zu tun in dein eigen Herz und Leben hinein in dieser stillen Woche wenigstens, da muss es stiller werden, um dich und in dir, da findet ja wohl auch der Geschäftsvollste einen Tag der Ruhe, auch der Zerstreuteste eine Stunde der Sammlung, auch der Sorgloseste einen Augenblick ernsten Nachdenkens, um hineinzublicken in sein eigen Herz und zu fragen: Wie steht es da drin? um zurückzublicken in sein vergangenes Leben und sich zu prüfen: Wie hab ich's angewendet? um hinauszublicken in seine ewige Zukunft und sich zu besinnen: Wo geh ich hin? Und gewiss, wenn wir das tun mit rechtem Ernst und heiliger Andacht, wenn wir's tun als vor dem Angesichte Gottes, wenn wir's tun als vor dem Kreuze Jesu, da wird aus mancher Brust ein Seufzer steigen, aus manchem Auge sich eine Träne stehlen. Da werden wir Alle, Alle es verstehen, was der Herr meint, wenn er uns zuruft: Weint nicht über mich, sondern weint über euch selber!

Heil diesen Tränen, denn von ihnen gilt's: Selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Gesegnet sei diese Traurigkeit, denn das ist die göttliche Traurigkeit, von welcher der Apostel sagt, sie wirkt zur Seligkeit eine Reue, die Niemand gereut. Der Herr segne dazu uns Allen diese stille Woche und das morgige Fest und diesen seinen Abendmahlstisch. Er wolle uns göttlich betrüben, damit Er uns auch himmlisch trösten könne; Er wolle uns zeigen unterm Kreuz Christi unsre Sünde, damit Er uns auch seine Gnade könne offenbaren und uns Kraft geben zum neuen Leben.

Ja zeuch uns alle recht zu dir,
Holdsel'ger Heiland aller Sünder;
Erfüll mit heiliger Begier
Uns, die von Gott gewich'nen Kinder;
Zeig uns bei unsrem Seelenschmerz
Dein aufgeschloss'nes Liebesherz:
Und wenn wir unser Elend sehen,
So lass uns ja nicht stille stehen,
Bis dass ein jedes sagen kann:
Gottlob! auch mich nimmt Jesus an! Amen! 3)

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