Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 2, 5-18. - Die Herrlichkeit Jesu in seiner Erniedrigung.

Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 2, 5-18. - Die Herrlichkeit Jesu in seiner Erniedrigung.

Der erste Abschnitt hat uns in Christo die Majestät Gottes gezeigt. Aber wie verschieden ist hievon das, was die Gemeinde an ihm gesehen hat. Jene Herrlichkeit Christi nahm kein irdisches Auge wahr; von ihr spricht nur das Wort der Weissagung und der apostolischen Lehre. Die Matten und Müden seufzen: „sähen wir doch etwas von seiner Macht und Herrlichkeit! wie wüchse uns damit der Glaubensmut und wie viel leichter wäre uns die Christenstellung, während wir jetzt nur den dienenden und gekreuzigten Jesus sehen“. Aber ist denn wirklich die irdische Erscheinung Jesu ein dunkles Rätsel? Steht sie seiner königlichen Majestät als ein Widerspruch entgegen? Leuchtet nicht auch in seiner irdischen Niedrigkeit eine anbetungswürdige Herrlichkeit? Darum richtet nun der Brief unser Auge auf den sterbenden Jesus hin, damit wir auch in ihm die Größe Gottes sehen und dadurch die Einrede unsers Herzens überwinden, welchem der Weg der Niedrigkeit, den Jesus ging, nicht wohlgefällt. Damit macht er uns das Bild der Herrlichkeit Christi, das uns der erste Abschnitt gab, vollends fest und gewiss. Aber noch in einer andern Richtung bedarf das bisher Gesagte einer Ergänzung. Von jener Majestät Christi geht eine tiefe Furcht aus. Aber wir sollen uns nicht bloß seinetwegen fürchten lernen, sondern auch mit herzlichem Vertrauen und völliger Zuversicht zu ihm herzutreten. Dies gewinnen wir nicht dadurch, dass wir ihn in derjenigen Gestalt sehen, durch welche er hoch über uns erhaben und weit von uns geschieden ist, sondern wir müssen ihn betrachten, wie er sich uns gleichstellt, sich zu uns hält, unser Bruder sein will, und eben darum alles mit uns teilt, was wir haben. Das gibt das ganze, freudige Vertrauen zu ihm.

Von der zukünftigen Welt, sagt der Brief, reden wir, V. 5. Aber wieso? Es war ja davon die Rede, dass Jesus größer als alle Engel sei. Allein eben diese seine Herrlichkeit findet ihre Offenbarung erst in einer zukünftigen Welt. Und dahin deuteten die vorangehenden Worte beständig. Wenn der Brief Christus den Erben aller Dinge nannte, wenn er ihn den Erstgeborenen hieß, den Gott wieder in die Welt einführen werde, wobei ihn nun auch die Anbetung der Engel umgibt, wenn er seinen Thron als ewig pries und sein Regiment als die Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit, wenn er von der Wandlung des Himmels sprach, bei der Christus unerschütterlich derselbe bleibt, wenn er uns auf die Stunde verwies, da Gott alle seine Feinde vor ihm darnieder beugt, und wenn er von der wunderbar großen Errettung und Beseligung sprach, von der Jesus uns geredet hat, so sprach er hier überall nicht von dieser, sondern von einer zukünftigen Welt. Damit ist uns eine neue Wohnstätte und Heimat in Aussicht gestellt von andrer und höherer Art als diese irdische Natur, in der wir jetzt zu Hause sind. Das ist aber auch der Grund, warum mit der Erscheinung Christi in dieser unserer jetzigen Heimat seine Macht und Herrlichkeit noch nicht offenbar geworden ist. Dieselbe tritt erst in der zukünftigen Welt ans Licht.

Diese zukünftige Welt hat Gott nicht den Engeln untergeben, sondern für uns Menschen bestimmt, V. 5. Sie sind damit nicht unter uns herabgesetzt und ärmer als wir gemacht, sondern werden auch ihr Reich haben, das ihnen als Eigentum gehört, in den himmlischen Wohnungen. Jene zukünftige Welt dagegen, von der die Verheißung spricht, wird für die Menschen gebaut. Das beweist der achte Psalm, welcher die Güte Gottes darum preist, weil sie gerade den Menschen so hoch erhebt und so reich begabt, V. 6-8. Auf ihn, dieses nichtige Wesen, das in Ohnmacht und Kleinheit verschwindet, wenn sich das Auge zum Himmel erhebt, zielt Gottes Blick, Gottes Güte und Gabe. Ihn hebt er bis nahe an die Engel heran, ihm unterwarf er die Natur. Der Psalm schaut auf die Schöpfung zurück und hält uns die Fülle und Größe der Güte vor, die der Schöpfungsrat Gottes für uns enthält. Eben dadurch wird er auch zur Weissagung, welche uns die Herrlichkeit unseres Ziels erkennen lässt und uns die vollkommene Gabe zeigt, die unserer wartet. Wir sind ja das noch nicht, wozu wir geschaffen sind. Unser jetziges Leben ist voll von Störungen, mit Elend und Jammer belastet und tief erniedrigt. Wir sind aber nicht zur Knechtschaft und zum Schmerz und zur Ohnmacht geschaffen, sondern Gott hat uns eine Existenz bereitet, die derjenigen der Engel gleicht, und uns mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, und uns alles untertan gemacht. So bezeugt uns der Psalm, dass die künftige Welt unser Reich sein wird, das uns untergeben ist. Damit erklärt uns der Psalm auch, warum Christus zu uns Menschen gekommen ist und uns jene große Erlösung verkündigt hat, die Gott uns verschaffen wird. Diesem Rat Gottes, der auf die Verherrlichung des Menschen zielt, hat Jesus gedient. Darum trat er in unsere Reihe und ward ein Glied unsers Geschlechts, weil dasselbe von Gott so hoch geadelt und zu so herrlichem Ziele berufen ist. Statt uns zu ärgern, dass Jesus war wie wir, sollen wir vielmehr hierin mit dem Psalm dankbar die Güte Gottes erkennen, die sich des Menschen so wunderbar angenommen und ihn so hoch erhoben hat.

Aber der Psalm beweist zugleich, dass es erst eine zukünftige Welt ist, zu deren Herrn und Besitzer der Mensch bestimmt ist. Denn im Blick auf das, was wir jetzt sind, ruft er aus: wie nichtig ist der Mensch! Unsere Stellung ist jetzt noch weit davon entfernt, dass uns alles untergeben wäre. „Alles,“ auch dies Wort fasst unser Brief mit unbegrenzter Zuversicht und vollem Vertrauen. Da zieht er nichts davon ab, sondern lässt es stehen in seiner ganzen Höhe und Weite und schaut den unermesslichen Reichtum der Gabe Gottes darin. So reicht dieselbe jedoch über das hinaus, was wir jetzt haben. Wir machen uns allerdings die Natur jetzt schon dienstbar, aber nur dadurch, dass wir uns ihr unterwerfen. Sie zwingt uns auch ihrerseits in ihren Dienst, und wird uns nur durch harte Anstrengung brauchbar, in einem Kampf mit ihr, bei dem wir uns aufreiben. Da ist das, was das Psalmwort sagt, noch nicht sichtbar, noch nicht erlebt als Gegenwart und Wirklichkeit.

Aber eins sehen wir, und das steht mit dem Psalm in Übereinstimmung und bringt ihn teilweise zur Erfüllung: Jesus. Ihn sehen wir ein wenig unter die Engel erniedrigt, wie der Psalm es sagt, und mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, wie der Psalm es sagt, 2, 9. Er ist niedriger als die Engel gestellt, dadurch dass er in die irdischen Verhältnisse unseres Lebens eingegangen ist. Wir sind ja noch nicht die Herrn über alles, und er war es auch noch nicht, als er in dieser Welt in unserer Mitte stand. Damit trat er in eine Enge, unter einen Druck und in ein Leiden, das den himmlischen Geistern nicht auferlegt ist. Er wurde der Ordnung unseres Lebens untertan und diente wie wir gehorsam der Natur und trug den Druck der Dinge und fügte sich ins Leiden bis zum Tod. Da war er freilich schwächer und geringer als die Engel, die Gott, wie wir 1, 7 lasen, zu Sturm und Blitzen macht. Allein wir sehen nicht bloß das an ihm, sondern eben diesen Erniedrigten sehen wir zugleich mit Ehre gekrönt, da er ja auferstanden und in den Himmel erhoben ist. So ist in ihm das Psalmwort, das von der Hoheit und Würde des Menschen spricht, erfüllt, und die Erfüllung desselben, die ihm zunächst für seine Person widerfahren ist, zeigt und verbürgt, dass sie auch uns zuteilwerden wird.

Freilich erhält für ihn die Erniedrigung unter die Engel einen andern Sinn, als wenn sich der Blick auf uns, die Irdischen, richtet. Für uns ist es Hoheit, dass wir an Gottes Bild in einer Weise teil haben, dass wir etwas Verwandtes besitzen mit der Himmelswelt. Aber für ihn, den Erben aller Dinge, durch den Gott alles gemacht hat, ist es Erniedrigung, wenn er unter die Engel gestellt wird. Doch auch für ihn handelt es sich nur um ein kleines. Denn es ist nur eine kurze Frist, nur die Spanne seiner irdischen Lebenszeit, in der er entbehren muss, was der Engel hat.

Nun sehen wir aber an Jesus nicht bloß Erniedrigung und Erhöhung aufeinander folgen, sondern wir sehen auch den inneren Zusammenhang zwischen beiden. Weil er den Tod erlitten hat, darum ist er mit seiner unvergänglichen Herrlichkeit gekrönt. Jene Erniedrigung war für ihn der Weg zur Erhebung. Gerade weil er sich so tief beugte, strömte ihm auch die Fülle der Ehre und Erhebung zu. Das ist der erste und nächste Gedanke, mit dem der Brief, den über die Knechtsgestalt Jesu unwilligen Sinn zurechtweist. Seht ihr denn nicht, dass dies für ihn der Weg zur Herrlichkeit war? Wollt ihr über das Kreuz murren, wenn ihr an den Ausgang und das Ende desselben denkt?

Dazu kommt jedoch sofort noch ein zweites Wort. Nicht nur er, nein, wir empfangen aus seinem Sterben die kostbare Frucht. Warum führte ihn Gott diesen Weg? Warum stellte er ihn zuerst unter die Engel hinab und erhob ihn erst aus dem Todesleiden in die Herrlichkeit? Damit er durch Gottes Gnade für alle den Tod koste, V. 9. Gnade ist es, gebende Güte, die das so geordnet hat. Gnade errichtet das Kreuz, die an uns denkt, uns begabt, Jesus um unsertwillen sterben lässt.

Der Brief macht große Schritte. Eben noch war er bei der Herrlichkeit, die Jesus für sich selbst wegen seines Leidens empfangen hat, und nun ist er schon bei der umfassenden Bedeutung seines Todes, die ihn für uns alle zum Erweis der göttlichen Gnade macht. Aber groß erscheinen uns diese Schritte doch nur darum, weil wir mit unsern Gedanken außerhalb des Evangeliums stehen und uns erst in dasselbe hineinfinden und hineinleben müssen. Die apostolischen Männer standen drin; darum ist es ihnen so einfach, so durchsichtig, so fest und gewiss: er starb für alle. Das hängt schon an dem, was sein Christusname sagt. Soll ein Glied des Hauses zweifeln, dass, was der Hausvater tut, alle umfasst und für alle getan ist? Oder soll ein Genosse des Volks zweifeln, dass Beschluss und Tat der Obrigkeit für alle gilt und an aller statt geschehen ist? Ebenso wenig zweifelt ein apostolischer Mann daran, dass das, was Christus tut, der zum Herrn und Haupt aller gesetzt ist, alle umfasst. Was er hat, ist aller Habe; was er tut, ist für alle getan. Redet er, so redet er für uns; leidet er, so leidet er für uns; lebt er, so lebt er für uns. Er scheidet sich nicht von uns, so sollen wir uns auch nicht scheiden und trennen von ihm, sondern in seinem Sterben die Tat der Gnade erkennen, die für alle geschehen ist.

Damit ist nun der Hauptpunkt ausgesprochen, der alles Murren über Jesu irdische Erscheinung zum Schweigen bringt. Ist er für uns gestorben, dann können wir ihm nur danken, dass er als der Demütige und Dienende, als der Leidende und Sterbende gekommen ist. An dieser Stelle verweilt darum der Brief und betrachtet Jesu Tod nacheinander unter drei Gesichtspunkten.

Zuerst blickt er auf zu Gott und seinem Rat. War es für Gott geziemend, Jesu Lebensgang so zu ordnen, wie es geschehen ist? Fällt nicht das Kreuz wie ein Flecken auf Gott? Wird es nicht zu einer Art Vorwurf gegen ihn, dass jene Klage: warum hast du mich verlassen? laut wurde? Wie steht dies mit Gottes königlicher Obmacht über allem Tun der Menschen in Einklang? Das Kreuz erscheint ja fast wie ein Zurückweichen Gottes vor der menschlichen Sünde, wie Vereitelung und Durchkreuzung seines Gnadenrats. Nein, antwortet der Brief: Jesu Tod offenbart Gottes Majestät und vollführt seinen herrlichen Rat, V. 10.

Sodann fasst er den Beweggrund ins Auge, der Christus ins Leiden führte. Was trieb ihn, frei mit eigenem festem Willen das Kreuz als seines Lebens Ziel zu wählen? Was bewog ihn, nicht mehr sein zu wollen, als wir, und kein anderes Los zu suchen als das, welches uns geordnet. ist? Achten wir auf Christi Ziel und Willen, dann sehen wir auch im Kreuz seine Herrlichkeit, V. 11-14.

Und endlich legt er uns aus, was der Tod Jesu uns einträgt und als Gut und Gabe in unsere Hand legt, und damit ist vollends aller Anstoß an Jesu Niedrigkeit ausgelöscht, V. 14-18.

Damit wir sehen, dass der Tod Jesu der Majestät und dem Regiment Gottes völlig entspricht, sollen wir zuerst erwägen, was es heißt, dass Gott Schöpfer ist. Seinetwegen und durch ihn sind alle Dinge, V. 10. Gott ist durch sich selbst bewogen zu allem, was er tut, und nimmt aus sich selbst die Kraft zu allem, was er schafft. An ihn sind alle Dinge gebunden nach ihrem Zweck und nach ihrem Grund. Ihren Zweck haben sie in ihm; ihm dienen sie. Ihren Grund haben sie in ihm, durch ihn entstehen sie. Will es uns scheinen, Christi Tod sei ja das Widerspiel seines Königtums und der Untergang oder doch das große Hemmnis seines Reichs: bedenken wir doch, wie wir Gott schon von der Schöpfung her kennen! Er schafft alles nach seinem eignen Sinn, mit seiner eignen Macht, und wählt seine Mittel nach seiner königlichen Freiheit, der alles dienen muss. Der Schöpfer kann auch durch den Tod zum Leben führen. Oder will uns die Liebe, die ihn diesen Weg gehen ließ und Jesus für alle in den Tod gegeben hat, befremdlich scheinen? Erwägen wir doch, welch ein Band mit Gott schon darin liegt, dass wir Geschöpfe Gottes sind, also um seinetwillen existieren und durch ihn! Wird ihn dies nicht zu jeglicher Hilfe und Gabe bewegen? Auf wen sind wir denn gewiesen und geworfen von Anbeginn an als eben auf den Gott, der uns durch sich selbst das Leben gab um seiner selbst willen? Auf dieselbe Weise hat er uns auch erlöst durch Jesu Tod seinetwegen und durch sich selbst.

Das Ärgernis am Kreuze Christi rührte für Israel nicht nur daher, dass es einen ganz andern Christus erwartete, einen Christus voller Macht und Herrlichkeit, dem Jesu Kreuzesgestalt gänzlich widersprach, sondern dieselbe strich auch alle ihre Gedanken durch, die sie sich über Gott und seine Offenbarung gebildet hatten. Eine Offenbarung Gottes konnte nach ihrer Meinung nur ein Schauspiel voll Glanz, Ehre und Majestät sein, aber wahrlich nimmermehr ein Kreuz! Seht euch nur, sagt ihnen unser Brief, Gottes Größe recht an; macht es euch klar, wie vollständig euer Leben an ihm hängt, dass ihr nichts seid ohne ihn. Dann werdet ihr Gottes Majestät auch über Jesu Kreuz erglänzen sehen. Es ist derselbe Gott, der allein alles wirkt, der euch dort entgegentritt, wie ihn euch schon das erste Blatt der Bibel zeigt, wenn es euch den Schöpfer enthüllt.

Wir sollen aber Gottes Rat noch bestimmter ins Auge fassen: er führt viele Söhne zur Herrlichkeit. Wir stehen vor Gott nicht bloß als das Gebilde seiner Macht und das Kunstwerk seiner Hand, das er nicht zerstören und zerfallen lassen will, weil es seiner Absicht dient und sein Vermögen sichtbar macht, sondern wir haben in Gottes Augen voll und ganz den Wert einer Person. Es handelt sich ihm um seine Söhne, um deren große Schar. Im Tode Jesu greift nicht nur der Schöpfer ein, der sein Werk vor dem Zerfallen schützt und restauriert, sondern der Vater, der seinen Söhnen hilft, weil er sie nicht verderben lassen will. Was sollte er nicht tun ihretwegen? Und was gibt er ihnen? Er führt sie zur Herrlichkeit. Hier handelt es sich nicht um eine Kleinigkeit, um eine nebensächliche Gabe, sondern um das allerhöchste Ziel und größte Gut, um die Öffnung der Herrlichkeit Gottes für seine Söhne. Welches Mittel wäre zu hoch, zu teuer für diesen Zweck? Was sollte Gott nicht tun dürfen zu diesem Ziel?

In die Reihe seiner Söhne stellte Gott Christum als Herzog und Heerführer ihrer Seligkeit, als ihren Vordermann, der als der erste die Hilfe ihnen erwarb, als den Bahnbrecher, der den Weg selbst ging und ihn dadurch für sie geöffnet hat. Das führte Christum ins Leiden. Denn eben durch sein Leiden wird er unser Herzog und Vordermann. Aber durch das Leiden hat ihn Gott vollkommen gemacht. Es ergab sich aus dem Leiden für ihn keine Schwächung seiner Kraft; vielmehr wurde er so vollendet in seiner Person und in seinem Werk. Er geht mit seiner eigenen Person durch das Leiden in die Vollkommenheit des ewigen Lebens ein und hat nun auch das vollkommene Recht und die vollkommene Macht, uns darzureichen, was wir zu unserer Seligkeit bedürfen. Wie läge denn in Christi Kreuz irgendwelche Verdunkelung der Macht und Güte Gottes, wenn uns durch dasselbe ein vollkommener Anfänger der Seligkeit gegeben ist? Da können wir nur dankbar sprechen: so geziemte es ihm; so zu handeln, das ist Gottes große Art.

Die Weise, wie Gott an uns handelt, leitet und erfüllt auch Jesu Sinn. Sieht Gott in uns seine Söhne, an deren Spitze er Christum stellt, weil er sie in die Herrlichkeit einführen will, so hält es auch Jesus uns gegenüber fest, dass er, der uns heiligt, und wir, die wir geheiligt werden, von Einem stammen, V. 11. Oben, wo von Gottes Rat die Rede war, beschrieb der Brief Gottes Gabe als unsere Einführung in die Herrlichkeit. Jetzt da er auf Jesu Werk blickt, hebt er das hervor, was es hierzu bedarf. Wie geht es zu, dass wir in die Herrlichkeit gelangen? Wir werden geheiligt. Es muss uns zuvörderst das gegeben werden, was uns Gott wohlgefällig macht, und das ist Heiligkeit. Nur dann haben wir in Gottes Herrlichkeit Raum und sie in uns.

Wir werden dadurch geheiligt, dass ein Heiliger, der es nicht erst wird, sondern ist, zu uns kommt und seine Heiligkeit über uns ausdehnt und auf uns überträgt. Das ist der tiefe Unterschied zwischen uns und Christus: er ist der, welcher heilig ist und heiligen kann, und wir sind die Unheiligen, die der Heiligung bedürfen. Aber wie Gott uns gegenüber nicht vergisst, dass er unser Schöpfer ist und wir das Werk seiner Hände sind, so fasst auch Christus nicht nur jenen Unterschied ins Auge und sieht nicht nur die Unheiligen in uns, die in sich selbst mit Gott zerfallen, von ihm abgekehrt und entweiht sind. Es ist noch etwas anderes an uns, worauf er achtet, darauf nämlich, dass beide, er, der Heilige, der Macht und Recht hat, auch anderes zu heiligen, und wir, die wir die Heiligung erst empfangen, vom einen und selben Gotte stammen. Da deckt uns der Brief den Grund der Liebe Jesu zu uns auf. Sieh da, was ihn zu dir zieht, und ihm liebenswürdig ist an dir. Er steht in dir seines Gottes Werk und Kind, er schätzt an dir den gemeinsamen Ursprung, deine Abkunft von dem Einen, aus dem auch er allen Reichtum seines Lebens hat und schöpft.

Darum schämt er sich nicht, uns Brüder zu heißen, V. 11. Er schreitet über die Kluft hinweg, die ihn von uns trennt. Was ist tiefer als die Scheidung zwischen dem Heiligen und den Unheiligen? Was scheint unmöglicher als der Umgang und Verkehr beider miteinander? Muss nicht der Heilige die Unheiligen meiden, wie diese jenen scheuen und fliehen? Und dennoch hält er sich mit ganzem Willen und voller Lust zu uns und will unser Bruder sein. Unser Ursprung aus Gott überwiegt in seinen Augen unsere Unheiligkeit. Der Brief erläutert seinen Sinn mit dem Schluss des 22. Psalms, den Jesus selbst in der Kreuzesstunde zum Gefäß seines Gebets gemacht hat. Der Psalm geht in Dank und Jubel aus, aber nicht so, dass der Betende denselben nur für sich allein abseits und einsam Gott darbringen möchte, sondern er hat und sucht Brüder, denen er den Namen Gottes zu verkünden begehrt, eine Gemeinde, in deren Mitte er Gott loben will. Das ist Jesu Sinn. Auch er will unter uns als seinen Brüdern stehen, um uns der Zeuge der Größe und Gnade Gottes zu sein. Auch er sucht eine Gemeinde, die durch ihn zum Lob und zur Anbetung Gottes bewogen sei. Darum weil Jesus den Schluss des Psalms mit ganzem vollem Verlangen ergriff, darum ließ er sich auch seinen Anfang wohlgefallen, und weigerte sich nicht, mit dem Psalmisten beten zu müssen: mein Gott, warum hast du mich verlassen? Darum erwählte er auch den Kreuzesweg.

Ich werde auf Gott trauen, sprach er mit Jesajas Wort, V. 13. Gott ein wahrhaftiges Vertrauen zu erweisen, das wäre unsere menschliche Aufgabe, das die Ehre, die wir Gott erweisen könnten. Aber wer ist willig, Gott zu trauen? Unser Herz, herumgeworfen zwischen Trotz und Verzagtheit, will nichts vom Vertrauen wissen. Aber wie der Prophet mitten in einem Geschlecht, das Gott missachtete und die Hilfe überall anderswo suchte, nur nicht im lebendigen Gott, dies als seine Aufgabe ergriff, dass doch er Gott traue, also ging auch Christus mit Freuden die Bahn, deren wir uns weigern. Dazu musste er aber heraustreten aus dem Licht des Sehens und der Seligkeit des Genießens und Besitzens. Denn das Trauen hebt erst dann an, wenn das Sehen uns nicht möglich und das Haben und Besitzen uns nicht zugänglich ist, wenn die Wolke zwischen uns und Gott steht, die ihn verbirgt, wenn die göttliche Güte unserm Empfinden und Genießen sich entzogen hat und das Herz klagen muss: warum verließest du mich? Dann an Gott sich halten, dann seiner Führung untergeben und seiner Güte gewiss bleiben, das heißt trauen auf ihn, und das wars, was Christus freudig auf sich nahm.

Noch in andrer Hinsicht wird Jesaja zu Christi Bild, V. 13. Der Prophet stellt seine Kindlein neben sich und tritt vereinigt mit ihnen vor das Volk als Gottes lebendige Wahrzeichen. So hat auch Jesus Kindlein vor sich, eben jene Söhne Gottes, die er zur Herrlichkeit führt, die in ihrer irdischen Gestalt noch Kindlein sind, klein und schwach. Aber Gott hat sie ihm gegeben, und ob er auch in ihrer Mitte wie ein Mann unter Kindlein steht, er nimmt sie als eine teuer werte Gabe aus Gottes Hand, wie er am letzten Abend betete: dein sind sie und du hast sie mir gegeben. Er scheidet sich nicht von ihnen und verleugnet sie nicht, sondern knüpft sein Los und ihr Los untrennbar zusammen und macht seinen Reichtum zur Gabe für sie, und tritt vereinigt mit ihnen vor Gott und vereinigt vor die Welt.

Was bringt nun Christi Wille, dass er zu uns gehören und uns verbunden sein will, für ihn selbst mit sich? Dies, dass er an dem Teil hat, was wir haben, nämlich an Fleisch und Blut, an unserer natürlichen Lebensgestalt. Wenn er das, was wir sind, von sich wiese und nicht an sich herankommen ließe, wo bliebe da der Brudername?

Derselbe wird dadurch zur Wahrheit, dass er in unsere Verhältnisse eintritt und sich uns gleichartig macht. Wenn er aber Fleisch und Blut annimmt, so geht er dem Tode entgegen. Denn Fleisch und Blut ist das Sterbliche und Verwesliche und kann Gottes Reich nicht ererben. Wer in unsere Art und Natur eingeht, hat sich zum Sterben willig gemacht.

Wie muss doch alle Unzufriedenheit gegen Christi Niedrigkeit schwinden, wenn wir auf die heilige Wurzel derselben sehen. Er tritt in dieselbe ein, weil ihn nach uns verlangt; sollen wir ihm antworten: so gefällst du uns nicht? Sollen wir uns deshalb seiner schämen, weil er sich unserer nicht schämte, und ihn darum verachten, weil er uns hochachtete als göttlichen Geschlechts? Was kann ihm die Gemeinde anderes bringen als tiefen Dank und innige Hingebung? Ist solche Liebe nicht Herrlichkeit?

Nun sollen wir auch die Gabe ansehen, die er uns durch sein Sterben erworben hat. Er stirbt, damit das Sterben für uns kein unheilvolles Erlebnis sei. Das Unselige am Tode besteht nicht im Schmerz des Sterbens; wir tragen im Leben leicht größere Schmerzen, als sie uns der Tag oder die Tage des Sterbens bringen werden. Es besteht auch nicht im Verlust dessen, was uns jetzt als Gut und Luft umgibt; dieser Verlust ließe sich verschmerzen, wenn ein höheres Gut dahinter stünde, aus dem ein neues Leben erblüht. Aber leer und öde starrt uns diese Zukunft an, und in diese Leere tönt die anklagende und verurteilende Stimme hinein, die jeder Mensch in sich trägt. Er hat außer sich sein Gutes, in sich Böses, und der Tod lässt ihn mit seiner Bosheit allein. Das weissagt schlimme Gesellschaft, unselige neue Beziehungen, Verknüpfung mit unheilvollen Genossen. Bosheit hebt nicht empor zu Gott, sondern macht sinken. Wohin? Zum Teufel und in sein Reich.

Der Teufel hat die Gewalt des Todes, V. 14, nicht so, als könnte er nach seiner Willkür bestimmen, wann und wie du sterben musst. Kein Sperling fällt tot zur Erde nieder ohne unsern Vater. Dieser ordnet und bestimmt den Gang der ganzen Kreatur. Aber das, was dem Tode Macht gibt und eine Kraft des Verderbens aus ihm macht, gegen die wir ohnmächtig sind, und ihm eine schädigende Gewalt verleiht, die zerstörend in die Person eingreift und Elend und Ruin in ihr wirkt, das ist des Teufels Sache dabei. Warum erleiden wir im Tod des Teufels Gewalt und tritt uns im Sterben satanische Macht nah? Deshalb, weil die Lüge und Bosheit in uns des Teufels Sache ist, und ein Band der Verwandtschaft und Gemeinschaft zwischen uns und ihm bildet. Der Stachel des Todes ist die Sünde; darum ist der, der des Todes Gewalt hat, der Teufel. Diese beiden Sätze der Schrift sind voneinander untrennbar. Um unserer Sünde willen dient der Tod dem Teufel und bringt ihm Vorteil und Mehrung seines Reichs. Fleisch und Blut mit der ganzen natürlichen Umgebung, in der wir stehen, bringt uns freilich auf der einen Seite versuchliche Reize und sündliche Befleckung; aber dies alles ist zugleich eine mächtige Schutzwehr, die uns vom teuflischen Wesen trennt. Wenn wir nun durch den Tod aus der Natur herausgeführt werden, und unsere Bahn sich nicht nach oben wenden kann, weil unsere Bosheit sie nach unten zieht, so wird sie zu einem Fall in das, was unter der Natur steht, ins Teuflische hinab. Wir haben durch die Sünde Gott verloren, und durch den Tod die Natur verloren; was bleibt uns noch? Des Teufels Reich.

Nun ist aber auch Christus gestorben, und was in des Teufels Hand das Mittel ist, uns zu verderben, ist bei ihm das Mittel, uns zu erlösen. Sein Tod bindet den, der uns verdirbt, in Ohnmacht und zerstört sein Werk. Christus tritt scheidend und schützend zwischen uns und das satanische Reich, und zerreißt mit seinem Tod die Ketten, die uns nach unten binden und eine Gemeinschaft und Verwandtschaft mit dem teuflischen Wesen in uns setzen. Durch seinen Tod hat er uns geheiligt; deshalb fahren wir im Tode nicht zum Teufel, sondern zu ihm. Dadurch hat Jesus das Zerstörende und Unselige am Tode für uns getilgt, das, was uns am Sterben billig in Angst und Schrecken setzt.

Was wäre es doch für eine Entlastung und Befreiung unseres ganzen Empfindens für unsere ganze Lebenszeit, wenn wir mit fester gläubiger Gewissheit das erfassen würden, dass wir durch Christum von allem teuflischen Wesen und Geschick gänzlich getrennt und abgeschieden sind! Wir sind unfrei und geknechtet, nicht nur durch die Schranken unserer natürlichen Macht, weil uns jetzt die Dinge um uns her noch nicht untergeben sind, sondern wir tragen auch innerlich eine schwere Kette: die Todesfurcht, V. 15. Sie spielt eine große Rolle in unserm Leben. Lastend und hemmend fällt vom Tode her ein Schatten auf unsere ganze Lebenszeit, und all unser Dichten und Trachten, Genießen und Hoffen hat ein Fragezeichen neben sich: wer weiß! vielleicht lauert hier der Tod auf dich. Was tut der Mensch nicht alles unter der Herrschaft dieser Furcht! Wie mächtig wirkt sie in seinen klugen Taten wie in seinen tollen Streichen! Sie bringt ihn zur Gottlosigkeit wie zur Frömmigkeit und treibt ihn zum Lachen und zum Weinen. Leben wollen wir, und zwar jetzt, denn das morgen ist nicht mehr unser! rasch, rasch! denn warten können wir nicht. Diese Furcht ist nicht der Verspottung wert. Unsere Stelle gibt ihr Recht, indem sie an das erinnert, was ihr als reelle Macht zu Grunde liegt. Aber wie sklavisch wird unsere Arbeit, wenn uns die Angst vor dem Sterben zu ihr treibt, und unser Genießen, wenn uns der Gedanke dabei hetzt: bald bist du tot, und unser Gottesdienst, wenn er aus der Furcht vor dem Grab entspringt! Was ist das für ein Leben, dessen Triebrad der Schatten des Todes ist? Was gäbe jeder Mensch, wenn er dieser Furcht ledig würde! Niemand wird es bestreiten, dass es eine unschätzbare Wohltat wäre, wenn sie uns jemand abnähme. Eben dies ist Christi Gabe; das ist das Ziel, das er in seinem eignen Sterben sucht. Er ist dazu gestorben, damit du furchtlos sterben und eben deshalb furchtlos leben kannst.

Die Wirkung des Todes Jesu erstreckt sich darum mit sieghafter Macht nach unten und bildet die Mauer, die uns vom Satan trennt, weil sie zugleich nach oben geht und unsere Stellung zu Gott neu gestaltet. Denn aus der Gewalt der Finsternis werden wir dadurch herausgenommen, dass wir in Gottes Reich versetzt werden, und vom Satan dadurch abgelöst, dass wir in Christo Gott zugeleitet werden. Darum sollen wir weiter ermessen, was uns Jesu Tod für unsern Verkehr mit ihm selbst und durch ihn mit Gott eingetragen hat, V. 16-18.

Es gilt zunächst ins Auge zu fassen, wem Christus die hilfreiche Hand bieten muss. Wir träumen uns wohl einen Christus, der in schmerzlosem Sieg über die Höhen der Erde dahinschritte als eine Gestalt voller Herrlichkeit, als handelte es sich um eine Erscheinung Gottes für die Engel, um einen Herrn und König nur für sie, und vergessen, was wir, die wir Menschen sind, nötig haben, was unser eignes Bedürfnis erfordert. Ein Christus, der uns helfen soll, darf sich des Leidens nicht weigern, sondern muss hinein in den Tod und hindurch durch den Tod.

Der Brief stellt den Engeln den Samen Abrahams gegenüber, V. 16, und er deutet damit auf das hin, was Christus zu den Menschen niederzieht. Über Abrahams Same steht eine Verheißung Gottes, welche der Erfüllung harrt, ein angefangenes Gotteswerk, das Vollendung erhalten soll. Oben ging er auf den Schöpfungsrat Gottes zurück, als auf das, was Christum uns verbunden hat. Hier weist er auf den Bund Gottes hin, den er auf die in der Schöpfung gegebene Grundlage hingestellt hat. Weil aber Menschen, Abraham und seinem Samen, die Verheißung Gottes widerfahren ist, darum können wir nicht eine Erscheinung Christi erwarten, wie sie etwa für Engel wertvoll wäre, um sie mit höherer Herrlichkeit zu begaben, sondern Christus muss kommen, wie er kam, mit Fleisch und Blut, und in unsere Lebensstufe eintreten und sich uns gleichstellen. Dann ist er so, wie wir ihn brauchen, dann ist das Band gestiftet zwischen ihm und uns, das uns mit ihm in Verkehr und Gemeinschaft setzt und ihn uns zum Heiland macht.

Was brauchen wir? Barmherzigkeit, V. 17. Wenn aber Jesus unser menschliches Los trug, unsere Last auf sich nahm, und es durchlebte, was Fleisch und Blut ist, was ist der Gewinn, den er aus all dem davon trug? Dies, dass er barmherzig wurde, eben das, was wir bedürfen, was allein zwischen ihm und uns ein Band stiften und erhalten kann. Und wenn er im höchsten Glanz der Himmelswelt erschienen wäre, so würde uns damit gerade das fehlen, was uns seine Kreuzesgestalt gegeben hat: der Erbarmer fehlte uns. Denn das Erbarmen ruht auf einem Mitleiden, und der hat es nicht, der selbst nicht leiden mag.

Nicht so wird Christus in seinem Leiden barmherzig, wie ein Unbarmherziger es wird, durch Umkehr und innere Wandlung aus der Härte ins Erbarmen, sondern er wird so barmherzig, wie es ein Barmherziger wird, nämlich dadurch, dass er Barmherzigkeit an uns übt. Dass er sich unserer nicht schämte und an Fleisch und Blut Anteil nahm und uns an seine Seite stellte als die Kindlein, die Gott ihm gegeben hat, was bewegt ihn dazu? Das war Barmherzigkeit. Dass er hierbei blieb bis zum letzten Schritt und alles, was der menschliche Lebenslauf in sich hat, auf sich nahm, dass er sich des Leidens nicht weigerte und sterben mochte, was bewog ihn dazu? Barmherzigkeit. Barmherzigkeit hat er geübt und dadurch erlangt; denn der wird barmherzig, der sie tut, und weil er es werden wollte und sollte, darum ging er den Todesweg. Nun ist er aber auch vollkommen zum Erbarmen ausgerüstet. Indem er selbst unsere Schwäche zu seinem eignen Erlebnis machte und selbst gelitten hat, hat er die Barmherzigkeit erlangt.

Warum bedürfen wir Barmherzigkeit? Der Sünder kennt hierauf die Antwort. So wie Jesus kam, ist er ein treuer Hoherpriester geworden vor Gott zur Sühnung unserer Sünden, V. 17. Das ist die Wirkung seines Todes nach oben hin vor Gott. „Priester“ - dieser Name Jesu ist dem Hebräerbrief eigentümlich und bildet ein wesentliches Stück seines besonderen Lehrgehalts. Solche Benennungen Christi, die sein Werk und seine Gabe mit einem Wort aussprechen, kamen den apostolischen Männern nicht von ungefähr, sondern fassen vielfältige, tiefgehende Eindrücke zusammen und beleuchten mit einem hellen Strahl ihre ganze innere Glaubensstellung. Wie der Ruf des Thomas: mein Herr und mein Gott! eine lange innere Geschichte zum Abschluss bringt, so ist auch das Bekenntnis des Hebräerbriefs: du bist unser Priester! sicherlich aus tiefgehenden innerlichen Erlebnissen heraus entstanden und die Frucht eines langen reichen Lebenslaufs.

Das Gemeinsame in aller apostolischen Predigt ist dies, dass sie uns Jesus als den Weg zum Vater zeigt, als unsern Mittler mit Gott, als den Sohn, der den Vater kennt und ihn uns offenbart und die Gabe seiner Gnade uns darreicht. Sie hält uns Jesus vor, damit wir in ihm Gottes gewiss werden und mit Gott in Frieden und Eintracht kommen und in sein Reich eingepflanzt werden. Diesen Kern des Evangeliums entfaltet das apostolische Wort in mancherlei Begriff und Bild, je nach der besonderen Inneren Stellung der Apostel und Gemeinden, je nach der eigentümlichen Art, wie sie die Scheidung und Trennung von Gott an sich selbst erlebten und die Hinzuleitung zu ihm durch Christus empfingen. Paulus hat das Gesetz als die Scheidewand zwischen sich und Gott erfahren. Er ruft aus: was richtet das Gesetz an? Übertretung, Tod, Zorn. Wie ergreift er darum Jesus? Als den, in welchem wir gerechtfertigt sind. Wer hat, fragt Johannes, Gott je gesehen? Die Welt kennt ihn nicht; sie liegt im Argen und ist leer von Gottes Licht und Leben. Aber Jesus hat es uns verkündigt und wer ihn sieht, der sieht den Vater. Wie heißt er ihn darum? Das Wort, das Fleisch geworden ist. Wer darf nahen zu Gott? fragt unser Brief, wer wohnen in seinem heiligen Zelt? Ohne Tor und Zugang steht der Himmel hoch über der Erde, und die Kluft zwischen Gottes Thron und dem Standort des Menschen, zwischen dem Heiligen und den Sündigenden füllt der Mensch nicht aus. Er mag sich dehnen, wie er will, so reicht er nicht heran an Gott zur Gemeinschaft mit ihm. Die Schwäche, in der er steht, und die Sünde und Verirrung, in die er sich verwickelt, halten ihn von Gott fern. Wie nennt er darum Jesus, der uns zu Gott herzu leitet und sein Heiligtum uns öffnet und unsere Entfernung von Gott überwindet, so dass wir in der Nähe des Heiligen und in der Hütte des Allmächtigen wohnen? Wie soll er den nennen, der uns solches tut? Unser Priester ist er!

Er spricht damit das tiefste Wissen und Empfinden eines Israeliten aus. Das Gesetz hatte es Israel mit höchstem Ernst eingeprägt, dass sein Herr und Gott über aller Welt stehe in einem Licht, zu dem niemand herzutreten kann. Das war der Unterschied der Juden von den Heiden. Der Heide zog seinen Gott in die Welt herab und machte ihn sich selber gleich. Darum trat er freilich dreist und kühn vor ihn, ja neben ihn und über ihn. Er behandelte seinen Gott als seinen Knecht. Es war ja in seinen Augen kein wesentlicher Unterschied zwischen ihm und seinem Gott, nur ein Unterschied der Macht. Israel dagegen wusste: unser Gott ist nicht wie wir. Der Schöpfer und das Geschöpf, der Heilige und der Sünder das sind nicht unbedeutende Unterschiede, die sich wegheben und überspringen lassen; das ist eine totale Differenz. Deshalb kam ihm die Frage mit Macht: wo ist der Priester, der uns zu ihm führt, zu ihm, der so hoch und ferne über uns erhaben ist?

Es ist auch hier die Schrift, welche unserem Brief das Mittel darbietet, durch welches er Christi Sinn und Werk erfasst und sich verständlich macht. Das Gesetz setzte in Israel ein Priestertum ein und ordnete mit großer Sorgfalt dessen ganzen Dienst. Unser Brief blickt forschend in diesen Teil der Schrift: was bedeutete das? Gerade die Errichtung des Priestertums bezeugte und bestätigte die Scheidung zwischen dem Volk und Gott. Aber sie zeigte Israel zugleich, dass Gott ihm dennoch sein Heiligtum öffne und es vor sein Angesicht herzurufen. Nun war Christus gekommen und der verborgene Gott ließ sich in ihm finden und der Unnahbare sich als Vater anrufen und der Heilige tat die Schätze seiner Gnade in ihm auf. Was war denn nun Jesus? Der Priester, wie ihn der Mensch bedarf. Und was waren jene Ordnungen des Gesetzes? Eine Weissagung auf Christum hin.

Damit Jesus unser Priester werde, dazu ist er gestorben. Ein wahrhaftiger Priester muss Macht haben, und zwar allerhöchste Macht, Macht vor Gott, Macht, Gottes Verzeihung uns zu verschaffen, Gottes Gnade uns zuzuwenden, Gottes Gaben uns auszuteilen. Diese priesterliche Macht vor Gott für uns hat Jesus in seinem Tode gesucht. Dazu trieb ihn seine Barmherzigkeit. Und er hat sie erlangt und erworben durch denselben. Um seines Todes willen hat ihm Gott Vergebung und allen Reichtum seiner Gnade in seine Hand gelegt, dass er sie uns darreichen darf. Und weil er solche Macht für uns vor Gott hat, hat er auch die Macht wider den Satan, an welcher dieser ohnmächtig wird.

Jesus starb, um in seinem priesterlichen Werke treu zu sein, treu gegen Gott, indem er seinen Willen bis zum letzten Schritt vollführte, treu gegen uns, da er uns nicht fahren und fallen lässt, ob er auch für uns sterben muss. Diese Treue macht ihn Gott lieb und wert und uns glaubhaft und zuverlässig. Damit hat er uns seinen priesterlichen Sinn so bewährt und erwiesen, dass ein herzliches Vertrauen zu ihm in uns entspringen kann.

Was uns von Gott ferne hält, das sind unsere Sünden. Darum ist es vor allem des Priesters Geschäft, die Sünden zu sühnen. Das tut nun Christus beständig für uns. Um seinetwillen verzeiht uns Gott. Für all das, was uns unserer Sünden wegen vor Gott verloren geht, ist Christus der Ersatz. Um unserer Sünden willen sind wir von Gott getrennt, um Christi willen ihm verbunden. Um unserer Sünden willen wird uns Gott zum verzehrenden Feuer, um Christi willen zur lebendig machenden Gnade. Unsre Sünden entweihen und schänden uns, Christus ist unsere Heiligkeit und Ehre. Durch ihn sind wir in Gottes Güte und Liebe eingeschlossen trotz unserer Sündhaftigkeit. Er ist die Decke, welche sie beseitigt und verschwinden macht. Das ist der Gewinn, den sein Tod uns eingetragen hat.

Unsere Stelle spricht zunächst von den Sünden des Volks, d. h. Israels. Er schaut auf den alttestamentlichen Priester zurück, der mit seinem Opferdienst dem Volke die Vergebung darbot und bezeugte. An seine Stelle ist nun Christus getreten als der rechte Erbarmer, der für Israels Sünde die wahrhaftige Sühnung hat. Dasjenige Israel, das ihm widerstrebt und ihn verwirft, genießt freilich den Segen seines Priestertums nicht. Unser Brief hat das wahre Israel im Auge, die Gemeinde, die sich gläubig zu Jesus als dem Herrn und König Israels bekennt. Diese heißt er „das Volk“; denn außer und neben ihr gibt es kein andres Israel mehr.

Das letzte Wort, V. 18, nennt den tiefsten Punkt in Jesu Erniedrigung und zugleich das Innerlichste an der Hilfe, die wir bedürfen. Das Tiefste an seiner Erniedrigung besteht darin, dass sie ihn in die Versuchung führt und ihm die Sünde nahe bringt, nicht so, dass sie ihn zu erfassen und zu unterwerfen vermöchte, aber so, dass es für ihn einer Inneren Entscheidung bedarf, mit der er ihr sein Herz verschließt und den Gehorsam gegen Gott erwählt. Das Leiden mit seiner schmerzlichen Kraft, vor der das Herz unwillkürlich zurückbebt und erschrickt, bringt ihn in eine Lage, in welcher er sich selbst verleugnen und sprechen muss: nicht wie ich will. Nicht die Lust der Erde lockt ihn so, dass es für ihn der Selbstüberwindung bedurfte, um gehorsam zu bleiben. Er hat darin, dass er den Vater kennt, volles Genüge. Aber damit, dass ihn der Vater ins Leiden führt, ist er vor die Wahl gestellt, ob er ihm auch dorthin folgen will. Da geht sein Gehorsam durch die Erprobung hindurch und wird in der Versuchung bewährt.

Und so bedürfen wir ihn, da auch wir in der Versuchung stehen, und dazu seine Hilfe brauchen, damit wir in ihr bestehen. Wir sind soeben daran erinnert worden, dass wir in Jesus volle und ganze Vergebung finden, weil sein Tod unserer Sünde als deren Sühnung entgegensteht. Aber damit ist die Hilfe, die wir suchen müssen, noch nicht vollständig umschrieben. Wir können und dürfen nicht beten: vergib uns unsere Schulden, ohne fortzufahren: und führe uns nicht in Versuchung. Auch können wir nicht glauben, dass er unsere Sünden wegnimmt, ohne dass wir in ihm auch in der Versuchung den Helfer suchen und ergreifen. Es handelt sich für uns nicht nur darum, dass unsere Sünden fort und fort dahinfallen an der Größe der göttlichen Gnade, sondern um Sieg wider die Reize, die uns abziehen von Gott, um Überwindung im Inneren Kampf unserer Begehrungen, die teils zu Gott hin teils von ihm wegstreben, um Bewährung in der Erprobung, die uns das Leben stellt. Jesus kennt nicht nur unsern Kampf, sondern er hat in demselben überwunden. Darum hat er die Macht uns zu helfen. Er ist der rechte Mann, um uns zum Siege zu leiten, weil er selbst den Sieg errungen hat.

So kehrt der Brief die Gedanken der Leser völlig um und leitet sie in eine neue Bahn. Sie meinen: wenn wir die Herrlichkeit Christi sähen, dann könnten wir uns an ihn halten; nun sehen wir aber nur seine Erniedrigung und das macht uns das Vertrauen zu ihm schwer. Nein! wenn ihr an die Herrlichkeit Christi denkt, muss euch das Herz in tiefer Furcht erbeben; aber wenn ihr die Erniedrigung Christi anseht, dann könnt ihr ein herzliches Vertrauen zu ihm fassen; da findet ihr das, was einen wahrhaftigen und festen Glauben in euch begründet und erhält. Euch mit eurer Todesfurcht, euch mit euern Sünden, euch mit euern Versuchungen hilft keine Erscheinung im Glanze himmlischer Herrlichkeit. Was wolltet ihr mit ihr machen? Ihr flöhet vor ihr in Angst und Schrecken, und wäret von ihr geschieden durch eine unüberwindliche Kluft. Ihr braucht den, der zu euch als Bruder tritt, der für euch stirbt, eure Sünden sühnt und in der Versuchung aufrecht bleibt. Der hat die Gaben, die ihr nötig habt; dem könnt ihr glauben. Zu dem ist euch der Zugang aufgetan und in ihm der Weg zu Gott euch gegeben. Begreift ihr nun, warum von seiner Erhabenheit über die Engel nur das Wort der Schrift und Weissagung spricht, während er, als er in unserer Mitte stand, unter die Engel erniedrigt war?

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