Kunel, Christian Klaus - Er ist bei uns wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch!
Amen!
Text: Joh. 8, 31-32.
„Da sprach Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger. Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
„Ein feste Burg ist unser Gott“, so, Geliebte in dem Herrn, klang es eben durch diese heiligen Hallen; und wie hätten wir diesen heutigen Tag besser begrüßen können, den heutigen Tag, an dem die Hirten und Vertreter unserer Gemeinden zusammentreten, um unter Gottes Beistand das Wohl derselben nach Kräften zu beraten und zu fördern? In diesem Liede, das mit unserer Kirche geboren wurde, hat ja eben ihr innerster Lebensodem, all' ihr Glauben, Verlangen und Hoffen Ausdruck und Gestalt gewonnen; und dies Lied hat sie herausbegleitet auf allen ihren Wegen, durch all' ihr Tun und Leiden, durch all' ihre Kämpfe und Siege. Ja - „Ein feste Burg ist unser Gott“, das ist der Text und die Überschrift zu dem ganzen Leben und der ganzen Geschichte unserer Kirche; und das wird ihre Wehr und ihre Waffe, ihr Schutz und ihr Trutz bleiben bis an den jüngsten Tag; damit wird sie ihre Wege sich bahnen, und ihre Schlachten schlagen, und ihre Siege gewinnen, bis einst mit ihrem letzten Siegeslied sich die Siegeslieder vom Himmel herab vermischen werden, wenn der König der Ehren kommen wird mit großer Kraft und Herrlichkeit.
Aber ist's denn recht so? Sind uns denn Siegesgedanken und Siegeslieder erlaubt zu dieser unserer Zeit? Jetzt ist's ja Mode und guter Ton geworden, unsere Kirche für verloren zu geben, und man sinnt schon darüber, ihr das Grablied anzustimmen. Von drüben über den Bergen her frohlockt man : „Aus ist's mit der evangelischen Kirche! Sie reibt sich selber auf, und kämpft schon den letzten zersetzenden Vernichtungskampf mit sich selber.“ Der Unglaube triumphiert: „Aus ist's mit der evangelischen Kirche! Sie lebt nur noch von der Gnade und der Trägheit der großen Massen; aber ein einziger frischer Windstoß, ein einziges energisches Aufwallen des Volksgeistes kann in einer Nacht ihr ganzes Gebäude über den Haufen werfen.“ „Aus ist's mit unserer Kirche!“ So rufen auch Viele von denen, die in ihr eine liebende Mutter gefunden haben, die an ihren Brüsten gesäugt und genährt wurden, die aber, weil sie in ihr ihre Gedanken und ihre Pläne nicht verwirklichen können, nur noch nach einem Pella sich umschauen, wohin sie fliehen wollen, wenn der Feind Zions Mauern ersteigen wird. Unsere Kirche ist verloren gegeben von außen und von innen; und schon rüstet man sich, wenn sie zerfällt, von der herrenlosen Beute so viel als möglich ins eigene Lager herüberzuziehen.
Was sagen denn nun wir dazu? O wir wissen es so gut, als es irgendwer uns sagen kann, wie es in unseren Gemeinden steht, und wie viel Betrübendes zu beklagen ist; aber das weiß ich auch, dass wir nicht einer verlorenen Sache dienen, denn sonst müsste redlicher Weise meine heutige Predigt auch meine letzte Predigt sein; und das weiß ich auch, dass wir um der Untreue mancher ihrer Kinder willen unserer Mutter, unserer Kirche nicht mit Fäusten ins Angesicht schlagen dürfen. Nein, mit unserer Kirche ist's nicht aus; sie ist noch so reich und noch so herrlich, wie sie war von Anfang an; und selbst die, denen sie nun zu arm dünkt, sie haben doch, was sie wahrhaft Belebendes gefunden haben, nur in ihrem Schoß gefunden und aus ihren Schätzen genommen. Nein, mit unserer Kirche ist's nicht aus; sie bekennt sich noch zu demselben Herrn, zu dem sie sich einst bekannte, und der Herr bekennt sich noch zu ihr, wie er sich einst zu ihr bekannte, und immer klingt ihr noch sein Wort durch Herz und Seele:
„Meine Treu' bleibt gegen Dir,
Zion, o Du meine Zier;
Mein Herz hast Du mir besessen,
Deiner kann ich nicht vergessen.“
Ja, der Herr hat seiner Gemeinde nicht vergessen, und eben die Gegenwart ruft es uns mit tausend Stimmen zu, dass er ihrer nicht vergessen hat. Eine bange Nacht begann sich über sie zu lagern, und er hat sie durch die Nacht wieder dem Tage entgegengeführt; eine kalte Erstarrung wollte ihr Herz und Mund und alle Glieder lähmen; aber ein Frühlingshauch von oben hat sie wieder aufgeweckt, und hat ihr Herz und Mund wieder jung gemacht, und lässt sie sich fröhlich regen im warmen Sonnenschein der Gnade. Nein, mit unserer Kirche ist's nicht aus; sie ist nicht eine alternde Greisin; sondern ihre ewige Lebenskraft wogt noch voll und warm durch ihre Adern, und sie rüstet sich eben, in neuer jugendlicher Freudigkeit ihre Wege zu wallen.
Und darum dürfen wir auch dankend und frohlockend unsere Siegeslieder anstimmen; denn es ist ja so, wie Luther singt: „Er ist bei uns wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben.“ Und dieser Siegesgedanke, dieser Freudenpsalm ist es auch, den uns unser Text in Herz und Mund legen will. Wenn der Herr spricht: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger“, was heißt das anders als: Unsere Kirche, die Kirche, die an seiner Rede bleibt, ist seine rechte Kirche; was heißt das anders als: Er ist bei uns wohl auf dem Plan? Und wenn er sagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen“, was heißt das anders als: Er ist bei uns mit seinem Geist? Und wenn er weiter spricht: „Und die Wahrheit wird euch frei machen“, was heißt das anders als: Er ist bei uns mit seinen Gaben? Ja
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit seinem Geist und Gaben
so lesen wir es aus unserem Texte heraus, und so möge es mit unserer Predigt der Herr jetzt selbst uns ins Herz hinein predigen.
1.
Er ist bei uns wohl auf dem Plan. - „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger.“ Das ist das oberste Reichsgesetz, der oberste Verfassungsparagraph zwischen dem ewigen König und seiner Gemeinde. „So ihr bleiben werdet an meiner Rede“ das heißt die Türe weit auftun, das heißt Platz machen für jeden, der nur bleiben will. „So ihr bleiben werdet an meiner Rede“ es heißt in der Tat nicht anders; er verlangt nichts weiter, nichts drüber. Er hält nicht erst Musterung an der Pforte seines Reichs; er fragt nicht, ob einer Petrus oder Paulus, Luther oder Melanchthon heißt; er fragt nicht, ob einer ein Pharisäer oder ein Zöllner ist; er fragt nach keinen Gaben und Vorzügen, nach keiner Tugend und nach keiner Gerechtigkeit. Er will von keinem etwas vorweg haben, es soll ihm keiner ein Pfand und Drangeld bringen; sein Tun und Handeln ist vom Anfang bis zum Ende Gnade um Gnade. Man soll nur auf ihn hören und auf ihn merken; alles andere ist seine Sache, alles andere will er ausführen und ausrichten. Seine Sache ist's nicht, Bedingungen zu stellen; sondern seine Lust und seine Freude ist es, zu geben und zu spenden ohne Maß und ohne Ende.
Und wie die Einladung unbedingt und allgemein ist, so ist auch die Annahme und Aufnahme unbeschränkt. „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger.“ Seine rechten Jünger. Er nimmt Niemanden nur zur Probe auf, um ihn erst nachher als seinen rechten Jünger gelten zu lassen; er hat neben seinen rechten Jüngern keine anderen, die nur so nebenher gehen, die nur zum Viertel oder zur Hälfte seine Jünger sind; die seine Jünger sind, die sind auch seine rechten Jünger. Bei Christo steht nichts auf Schrauben, ist nichts in der Schwebe und im Schwanken; bei ihm ist Alles klar und entschieden; bei ihm ist's immer ein Entweder - Oder; man ist entweder ein rechter Jünger, oder man ist gar kein Jünger; man hat entweder Alles oder nichts. Und wer da bleibt an seiner Rede, der ist sein rechter Jünger; so ist's sein eigener Gnadenwille, und Niemand wird es ihm verwehren, Niemand wird's anders machen können.
Bleiben also an seiner Rede, das heißt sein Jünger sein. Und es kann ja wohl nicht anders sein. So wir bleiben an seiner Rede, so bleiben wir ja bei und an ihm selber; so ist er ja, was er uns sein will, unser Herr und Meister. Es kann uns seine Rede nichts gelten, wenn er uns selber nichts gilt, seine Rede uns nichts sein, wenn er uns selber nichts ist. Seine Rede kann uns nur so viel bedeuten, so viel er selbst uns bedeutet; und so wir bleiben an seiner Rede - wenn wir nicht mehr loskommen können von seiner Rede, wenn sein Wort es, ist, das alle unsere Gedanken bewegt und unser ganzes Leben lenkt und befruchtet: so muss er selbst unser Eins und unser Alles sein; er selbst muss der Mittelpunkt all unseres Denkens und Lebens geworden sein. Und das ist es ja, was seine Rede will; seine Rede will nichts weiter, als dass sie uns auf ihn selbst hinweist; seine Rede hat keinen anderen Gegenstand und keinen anderen Inhalt als ihn selbst. Seine Rede will weiter nichts offenbaren als das kündlich große Geheimnis der göttlichen Liebe, das in ihm selbst offenbart ist; seine Rede will uns weiter nichts offenbaren als den ewigen Gottessohn, den der Vater in seiner Liebe uns gesendet hat, und der in Liebe für uns gehorsam geworden ist bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum spricht auch dort Petrus: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Man kann seine Worte des ewigen Lebens nicht haben und behalten, ohne in ihm zugleich den Sohn des lebendigen Gottes, den Quell des Lebens, zu haben und zu halten. In Christi Wort findet man immer ihn selber; und es gibt gar keinen anderen Weg, ihn zu finden. Man kann nur an Christo bleiben, wenn man an seinem Worte bleibt; denn es gibt keine Offenbarung über Christum als sein Wort, mit dem er von sich selber zeugt; und nur wer ihn aufnimmt als den, wie er sich selber gibt in seinem Worte, der hat ihn aufgenommen als den wahren Christus, wie er ist in alle Ewigkeit. Und so kommen wir denn buchstäblich auf unseren Text zurück, von dem wir ausgegangen sind: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger.“
Man hat schon oft, wenn man ohne Christum nicht auskommen konnte, doch mit einem Christus ohne sein Wort auskommen wollen. Und da kann man ihn tausend Gestalten annehmen lassen; aber wie er sich auch ansehen mag, es ist nie Christus, der Gottessohn und Menschensohn, an dem wir haben die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden.
Und man hat schon oft, wenn man ohne sein Wort nicht auskommen konnte, doch mit seinem Wort ohne ihn auskommen wollen. Aber mag man's wenden, wie man's will, man hat ohne Christum auch nichts mehr von seinem Wort; man übt dann an seinem Wort nur noch die traurige Kunst, das Himmelsmanna sich in Träbern, und den süßen Wein vom ewigen Hochzeitmahle des Sohnes sich in schales Wasser zu verwandeln, und was übrigbleibt, dazu braucht man keinen Christus und keine Bibel mehr; das kann man bei dem ersten besten Chinesen, Inder oder Griechen ebenso gut erfragen.
Wer am Wort des Herrn bleiben will, der muss auch an Christo bleiben; und wer an Christo bleiben will, der muss auch an seinem Worte bleiben. „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger.“
Und haben wir nun nicht recht, wenn wir sagen, mit diesem Wort bekenne der Herr sich zu unserer Kirche als zu seiner rechten Kirche; haben wir nicht das Recht, im Angesicht dieses Wortes zu frohlocken: „Er ist bei uns wohl auf dem Plan?“ Mag man von unserer Kirche denken, was man will, mag man von Luther und seinen Nachfolgern und von seinem und ihrem Wirken reden, was man will: das Eine müssen uns selbst die bittersten Gegner unserer Kirche bezeugen, dass sie bleiben will an dem Wort des Herrn. Ja, sie will bleiben an dem Wort des Herrn, an dem ganzen Wort des Herren; sie will sich weder den Blick abwenden lassen von der ganzen Tiefe des menschlichen Elendes, noch von der ganzen Tiefe der göttlichen Gnade. Sie, will das ganze Wort des Herrn, weil sie den ganzen Christus haben will, den ewigen Gottessohn, in dem der Vater sich ewig selber schaut und selber liebt, und den armen Menschensohn, der uns gleich geworden ist, und vor uns nichts voraus haben wollte, den König in der Dornenkrone und im befleckten Purpurmantel und den König zur Rechten der Majestät, den guten Hirten, der seine Herde weidet, und das verirrte Schaf auf seinen Armen heimträgt, und den Weltenrichter, vor dem alle Geschlechter der Erde offenbar werden und ihr Urteil empfangen müssen. Das ganze Wort Christi will unsere Kirche, sein ganzes Wort über ihn selbst, über seine Gaben und über die Seinen: und so den ganzen Christus, den ganzen Christus in seinem Wort, den ganzen Christus in seiner Taufe, den ganzen Christus in seinem Abendmahl, den ganzen Christus in seiner Kirche. Und so hat sie ihn, wie sie ihn will. Er ist ihr nicht abhandengekommen; er hat sich nicht von ihr gewendet, und ihr nur ein Reliquienstück, nur ein Erinnerungszeichen zurückgelassen, dass er einmal da war; sondern er ist noch bei ihr drinnen; sie hat ihn noch ganz und ungeteilt; denn sie bleibt an seinem Wort, an seinem ganzen Wort. Ja, er ist bei uns wohl auf dem Plan, er selber, und er ganz, er mit Allem, was er hat, mit seinem Geist und mit seinen Gaben.
2.
Mit seinem Geist. - „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen.“ Wo ein Schüler seinem Meister demütig zu Füßen sitzt, und an seinen Lippen hängt, da strömt im Wort des Meisters das Licht seines Geistes und Lebens mehr und mehr über in die Seele des Schülers. Wo vorher noch Alles verworren durcheinander lag, und kaum eine dunkle Ahnung sich hervor wagte, da wird's lichter und heller, und Alles gewinnt Form und Gestaltung und Ordnung und Zusammenklang, und eine neue Welt baut sich auf in der Seele des Schülers. So wirkt das Wort eines Meisters. Und Christus ist selber mit seinem Geist in seinem Wort; in seinem Wort strömt sein Geist über in die Seele des Menschen; mit seinem Wort macht sein Geist Wohnung in der Seele des Menschen. Und sein Geist lässt nicht bloß ein Stückwerk erkennen; sondern der Geist dessen, der Alles in Allem ist, lässt auch Alles in Allem erkennen, die Wahrheit, die volle Wahrheit, wie sie in ihm selber lebt, und in ihm selber sich gründet.
Und das ahnt auch die Welt, und möchte, wenn es anginge, auch gerne mit dabei sein. Es will ja doch nicht gehen, dass man mit dem, was so oben auf der Woge des Lebens daher flutet, sich immer unbefangen beschäftigen kann. Dazu ist der Mensch nicht angelegt. Aber was ist's, wenn er es auch noch so hoch treiben will? Was ist's, wenn er heute mit einem Naturkundigen bis in die geheimste Werkstätte der Schöpfung hinab steigen, und morgen mit einem Sternkundigen die Sternenweiten von Sonne zu Sonne messen will? Was ist's, wenn er heute das Wunder anstaunt, wie der Mensch mit der Macht und mit der Schnelligkeit des Blitzes seine Befehle über Länder und Meere hinweg sendet, und morgen in fernen Nebelflecken des Himmels neue Millionen von Sonnen sich entfalten sieht? Was ist das Alles für ihn? Das Alles ist die Wahrheit nicht, die sein Herz braucht, und wonach sein Herz sich ewig sehnen muss. Im Wechsel und im Stückwerk des Lebens muss er nach dem Bleibenden und nach einem sicheren Ziel für sich selbst fragen. Und da hört er denn aus dem Wort des Herrn die Klänge und die Stichwörter heraus, über die er mit seinem Herzen nicht hinwegkommen kann. Wenn von der Schuld der Sünde geredet wird, so ist das ja eben die Last, die auf seinem Herzen drückt; und wenn von Gottes Liebe geredet wird, so ist das ja eben das Friedenswort, nach dem seine Seele sich sehnt. Und da will es ihn denn manchmal gemahnen, als ob er sich mit all seiner Sünde und mit all seiner Schuld in die offenen Liebesarme Gottes hineinstürzen müsste. Aber solange man das nur mit sich selber und für sich selber abmachen will, so lange bleibt das ohne allen Wert und ohne alle Wirkung. Es ist ja nichts, wenn der Mensch sich selber seine Sünde vorwägen und abschätzen will, und wenn er im Angesicht einer erträumten göttlichen Liebe sich selber von seinen Sünden ledig sprechen will. Da ist in dem Einen so viel Täuschung als in dem Andern, und der innere Zwiespalt und die innere Unlauterkeit wird damit nur völlig großgezogen.
Nur im Wort des Herrn öffnet uns der Geist des Herrn das Auge für die Wahrheit. Wer an diesem Worte bleibt, der erkennt die Wahrheit. Wohl es schneidet wie ein Schwert durch unsere Seele, wenn wir unter dem Kreuz auf Golgatha im Angesicht des Gerichtes über unsere Sünde in das volle Grauen und in das volle Verderben unserer Sünde hineinschauen müssen. Es schneidet wie ein Schwert durch die Seele, und man kann nicht loskommen; denn Gottes Geist selbst schreibt uns unter diesem Kreuze das Urteil über unsere Sünde ins Herz hinein. Aber man will auch nicht loskommen; denn derselbe Geist, der mit dem Feueratem des göttlichen Zornes uns Mark und Bein durchschauert, derselbe Geist durchweht zugleich mit dem Odem der Alles versöhnenden und Alles vergebenden Liebe unser Herz, und gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Er lässt uns ja nicht bloß ein Stück der Wahrheit, sondern die ganze Wahrheit erkennen, den vollen richtenden Ernst des heiligen Gottes und den ganzen Reichtum seiner Liebe, und das Alles in Einem, das Alles in Christo. Gerichtet muss werden, aber der Richter selbst hat das Gericht getragen, gerichtet muss werden, aber die Liebe hat gerichtet, und aus dem Todesspruch ist ein Gnadenbrief, und aus dem Gericht die Quelle des Lebens geworden. Und so ist nun in Christo, der Gott und Mensch, des Vaters ewiges Wohlgefallen und das Opferlamm für die Sünden in Einem ist, Alles rein und richtig, Alles wahr und klar zwischen Gott und dem Menschen geworden; in ihm hat Gott, was ihm gebührt und er zu fordern hat, und in Christo haben wir Alles, was wir bedürfen vor Gott. Ja, in Christo ist Gott unser, und wir sind Gottes, und er ist die Wahrheit, die ewige Wahrheit, wie sie ewig in Gott lebt, und ewig aus Gott geboren ist, die Wahrheit, die ewig den heiligen Gott der Liebe verklärt, und Alles zu ihm und in ihn verklärt. Und er ist bei uns wohl auf dem Plan; er ist bei uns mit seinem Geist, der uns ihn erfassen und erkennen lässt, wie der Freund den Freund und die Braut den Bräutigam erkennt und im Herzen festhält; und er ist bei uns
3.
mit seinen Gaben, mit dem ganzen Reichtum seiner Gaben. Dieser ganze Reichtum seiner Gaben wird umfasst mit dem Wort: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Wenn die Freiheit nicht seine Gabe und der Inbegriff aller seiner Gaben wäre, dann wären alle seine Gaben nur eine Täuschung, denn wir würden doch mit ihnen nur einem Fremden dienen müssen. Und wenn es nicht die Wahrheit ist, die uns frei macht, dann ist es wieder keine Freiheit, denn die Freiheit der Lüge, das ist nur die Knechtschaft der Lüge. Aber der Reichtum seiner Gaben, das ist die Freiheit, und die Wahrheit ist's, die uns frei macht. Ja, die Wahrheit ist's, die uns frei macht, die Wahrheit, die er selber ist, und die aus ihm selber redet, und die sein Geist mit dem warmen Odem seiner Liebe uns ins Herz schreibt, die Wahrheit, dass wir Gottes Kinder sind.
In dieser Wahrheit haben wir Freiheit, die eine wahre Freiheit, die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Gott hat uns erwählt in Christo, und so hat denn Niemand mehr ein Recht an uns als er allein und seine Liebe. Mag uns die Sünde verklagen, was will ihr Klagen? Christus hat unsere Sünde gesühnt; die Strafe liegt auf ihm, und wir haben Frieden mit Gott. Mitten im Jammer über unsere Untüchtigkeit und unsere Schwachheit dürfen wir aufjauchzen in voller Freude an Gottes Barmherzigkeit, die uns tröstet, wie eine Mutter ihr Kind tröstet. Mag der Tod uns drohen, uns, die wir unter dem Flügel der göttlichen Liebe wohnen, uns muss Alles zum Besten dienen, uns muss auch der Tod ein Friedensbote werden, der uns heim ruft aus der Fremde in die Heimat, aus dem Stückwerk zum Vollkommenen, aus dem Glauben, Sehnen und Hoffen zum Schauen und zur Erfüllung.
Wohl lockt die Sünde uns noch, und sucht uns wieder zu verwirren und unseren Blick zu trüben, und wir bleiben schwache und gebrechliche Menschen, solange wir diesen Leib des Todes an uns trügen. Aber als Glieder an Christo, der uns erkauft hat mit seinem Blute, und mit seinem Geiste in uns wohnt, wissen wir auch, dass wir mit der Sünde nichts mehr gemein haben, bleibt uns nur noch die Aufgabe, uns ihm hinzugeben, wie er sich uns hingegeben hat; und er ist mit seiner Kraft in den Schwachen mächtig und führt von Sieg zu Sieg. Freilich die Sünde wird uns noch gar oft überlisten, und wir werden immer wieder straucheln, aber uns zu umgarnen, uns vom Neuem zu beugen unter ihr Joch, kann ihr nicht gelingen. Die Begnadigte des Herrn sind‘s, die werden keine fremden Fesseln mehr tragen; sie werden jede Freude an der Sünde auch sogleich wieder kreuzigen und begraben unter den Seufzern und Tränen der Buße, und sie werden keine Ruhe finden, bis sie endlich voller Schmerzen und doch voller Vertrauen und voll stiller seliger Hoffnung wie Petrus dem Herrn bekennen können: „Herr, Du weißt alle Dinge, Du weißt meine Sünde, aber Du weißt auch, dass ich Dich lieb habe.“
Ja, frei sind die Kinder Gottes, frei auf jedem Gebiete, frei auch gegen die Brüder. Das ist ihre Freiheit, dass die Liebe sie frei gemacht hat, und dass sie nun auch überall und in Allem den wieder lieben dürfen, der sie zuerst geliebt hat. Die Welt träumt immer von Freiheit, aber alle ihre Freiheitsträume führen nur zu neuer Knechtschaft. Das allein ist Freiheit, wenn man's gewonnen hat, sich in aufopfernder Liebe an die Brüder hinzugeben und ihnen allen wohlzutun um des Herrn willen, der in ihnen von uns geliebt sein will. Das ist Freiheit, eine Freiheit, bei der Niemand verliert und Jeder gewinnt, der Gebende und der Nehmende; und wenn einst diese Freiheitsfahne lustig in den Lüften flattert, wenn diese Freiheitslieder endlich hell und laut über die Erde hin tönen, dann wird's keine Herren und keine Knechte, keine Unterdrücker und keine Unterdrückten mehr geben, dann sind Alle Ein Brudervolk in dem Herrn, und der Größte ist, wer Aller Knecht wird.
Ja, der Herr macht frei, und führt Alles zur göttlichen Harmonie.
„So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger. Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das bleibt sein ewiges Gesetz und seine ewige Verheißung.
Und so lasst uns denn daran bleiben, und dabei einen frohen Mut und ein gutes Gewissen haben. Wir sind nicht auf allerlei Fündlein und auf ein Experimentieren im Ungewissen hingewiesen; wir haben es, was wir brauchen, das ganze Wort Gottes. Das lasst nur gelten und seinen Weg laufen, und es wird sich schon seine Bahn brechen, und die Herzen finden, und ihnen Christum bringen, und mit ihm die Wahrheit, und in ihm die Freiheit. Aber aller Weg hienieden geht. nur aus Nacht zum Licht und aus Niedrigkeit zur Herrlichkeit; und wir sind nicht berufen, schon jetzt unsere Kirche in ihrem vollen Brautschmuck zu sehen. Ihre Heiligen werden nicht mit dem Heiligenscheine um die Stirne prangen, sondern ihr Schmuck wird still verborgen sein; ihr Schmuck werden Tränen der Buße im stillen Kämmerlein sein, und Seufzen und Sehnen nach Heiligung, und milde Werke der Liebe, bei denen die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Christus hat auf Erden nur eine Dornenkrone getragen, und unsere Kirche wird, bis der Herr selber ihr die Krone der Herrlichkeit aufs Haupt setzt, auch keine andere tragen, und an Schmach wird es ihr nie fehlen. Aber wer ihre Schmach nicht will, der weiß auch nichts von ihrer Herrlichkeit. Und so lasst uns denn ihre Schmach nicht scheuen, und dabei stille sein im Glauben, eifrig in der Liebe, freudig in der Hoffnung, und dann werden wir's immer mehr erfahren, und immer fröhlicher und seliger wird's klingen:
„Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit seinem Geist und Gaben.“
Amen!