Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Jesus, der mitleidsvolle Menschenfreund.
Joh. 11, 28-37.
Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin, und rief ihre Schwester Maria heimlich, und sprach: Der Meister ist da, und ruft dich. Dieselbige, als sie das hörte, stand sie eilend auf, und kam zu Ihm. Denn Jesus war noch nicht in den Flecken gekommen, sondern war noch an dem Orte, da Ihm Martha war entgegen kommen. Die Juden, die bei ihr im Hause waren, und trösteten sie, da sie sahen Mariam, dass sie eilend aufstand und hinaus ging, folgten sie ihr nach, und sprachen: Sie geht hin zum Grabe, dass sie daselbst weine. Als nun Maria kam, da Jesus war, und sah Ihn, fiel sie zu seinen Füßen, und sprach zu Ihm: Herr! wärst Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen, und die Juden auch weinten, die mit ihr kamen, ergrimmte Er im Geist, und betrübte sich selbst; und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu Ihm: HErr! komm', und siehe es. Und Jesu gingen die Augen über. Da „sprachen die Juden: Stehe, wie hat Er ihn so lieb gehabt. Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte der, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, dass auch dieser nicht stürbe?“
1.
Je weiter wir in Lazarus Geschichte fortrücken, desto mehr wird unsere teilnehmende Aufmerksamkeit auf den Gang und Ausgang derselben hingezogen. Mit jedem Schritt wird sie höher gestimmt, und entscheidender. Der verwickelte Knoten ist seiner Auflösung nahe und wie wird er aufgelöst werden? - Alles, was wir bisher sahen und hörten, war so groß und über den Alltagsgang menschlicher Schicksale erhaben, dass wir nichts anders als die herrlichste, überraschendste Entwicklung des Knotens erwarten dürfen. Schon die Menschen, die wir bisher nacheinander auftreten sahen, tragen ein erhabenes Gepräge an sich, das bei jedem auf eine eigentümliche Weise dem Auge des beobachtenden Lesers sich darstellt, und für sie interessiert. Jesus - Thomas - Maria - Martha - diese Alle treten über den gewöhnlichen Menschenkreis heraus; und obgleich Jesus als ein Stern erster Größe vor Allen hervorglänzt, und auf dem schönen Gemälde das Hauptlicht ausstrahlt, so werden doch durch seinen milden Schimmer die Andern, welche neben Ihm stehen, nicht verdunkelt. Er teilt Jedem etwas von seinem Lichte mit, das für sie einnimmt und Teilnahme weckt. Groß und geheimnisvoll hatte sich uns Jesus Christus bis jetzt gezeigt. Wir fühlten, dass Er einen Erfolg vorbereitete, der jedes teilnehmende Herz in Erstaunen setzen, und die vollkommenste Genugtuung verschaffen sollte. Von seinem stillen, langsamen, überlegten Gang ließ sich das Größte erwarten. Aber bis jetzt war uns noch Manches an seiner Handlungsweise dunkel - wir sahen in dem Hauptpunkt der Geschichte noch kein Licht; viel mehr schien es, als ob es nun um seinen Freund Lazarus geschehen, und Er zu spät gekommen sei, um von seiner erprobten Wundermacht auch an ihm einen auffallenden Beweis abzulegen. Nicht seine Macht, sondern sein guter Wille, den tiefbekümmerten Freunden zu rechter Zeit zu Hilfe zu eilen, konnte bei einem voreiligen Beurteiler seiner Handlungsweise in einigen Verdacht geraten. Allein jeder Schatte von Zweifel, der auf sein wohlwollendes Herz fallen könnte, wird vor unsern Augen verschwinden, wenn wir in der Betrachtung unsrer Geschichte noch ein paar Schritte weiter fortrücken. Wir werden gestehen müssen, dass Jesus Christus der mitleidsvollste Freund seiner hilfsbedürftigen Brüder sei.
2.
Auf einmal hatte sich durch die kraftvolle Äußerung Jesu Marthas Glaube auf eine Höhe empor geschwungen, auf der sie ganz unerwartet in der finstersten Nacht der Betrübnis und gänzlicher Hoffnungslosigkeit das entzückendste Licht erblickte. Der Ausspruch Jesu: „Ich bin die Auferstehung und das Leben;“ seine bedeutungsvolle Frage: „Glaubst du das?“ ließ sie Alles hoffen, was sie bisher für unmöglich geachtet hatte. Sorgenlos überließ sie sich dem Wonnegefühl der entzückendsten Hoffnungen, die Jesus Christus in ihr Herz gelegt hatte. Was durfte sie nicht Alles von dem erwarten, den sie nun mit der vollsten Herzens-Überzeugung Messias, Sohn Gottes, den verheißenen Retter ihres Volks nennen durfte? Sie eilt hin, den Überschwang ihrer Freuden mit ihrer Schwester zu teilen, der diese neue Sonne des erquickendsten Lichts noch nicht aufgegangen war. Ihr Herz war zu voll, um Alles das Große und Herrliche, was sie nun mit beruhigender Gewissheit ahnte, länger in sich zu verschließen. Maria, die Trauernde, sollte es so bald wie möglich wissen, dass die Zeit der Hilfe noch nicht verflossen sei. So machen's gute Seelen, die einander lieben. Kummer und Freude teilen sie redlich miteinander; und es wäre ihnen eine Bein, den Andern einen Augenblick länger trauern zu lassen, als Ursache zur Traurigkeit da ist. Jeder Funke von Hoffnung, der von ferne geahnt wird, muss in das trübe Herz des Bekümmerten ausgeschüttet, und seinem sinkenden Mut eine neue feste Stütze unterschoben werden. Dies heißt Teilnahme der Freundschaft, die für Leidende einen so großen Wert hat, dass sie sich durch Mit-Empfindung der Liebe und durch gegenseitigen Erguss der Empfindung um die Hälfte erleichtert fühlen. Gerne kettet Jesus die Herzen seiner Lieblinge durch dieses zarte Band teilnehmender Freundschafts-Liebe zusammen, um ihnen dadurch wohlzutun. Er lässt sie unter ihren Leiden eine teilnehmende Seele finden, die nicht bloß durch kalte Gaben, sondern durch reine Mit-Empfindung die Not erleichtern hilft, und neue Hoffnungen in die bekümmerte Seele des Leidenden ergießt. Nicht so bald war Martha mit beflügeltem Fuß in das Haus eingetreten, als sie ihrer Schwester Maria heimlich auf die Seite ruft, und sie mit der Nachricht überrascht: Der Meister ist da, und ruft dich. Es scheint, Maria habe es bis jetzt noch nicht gewusst, dass Jesus in der Nähe sei, und Martha sei auf die erste Nachricht, ohne ihrer Schwester etwas davon zu sagen, fortgeeilt. Dieses rasche Wesen lag ganz in ihrer Gemütsart; wo ein Hauptgedanke ihrer Seele sich hinrichtete, da mussten alle Nebengedanken weichen. - Aber nun konnte sie es kaum erwarten, bis sie ihrer Schwester Maria diese Freuden-Botschaft mitgeteilt hatte. Sie sollte vorerst nur unvermerkt von der lästigen Trauer-Gesellschaft entfernt werden, um allein und ungestört ihr volles Herz in das ihrige ergießen zu können. Waren doch die Andern, welche die Volks-Sitte zur Mitklage ins Haus gebannt hatte, der kühnen Hoffnungen nicht empfänglich, die mit unwiderstehlicher Gewalt in ihrer Seele erwachten. Nur einer Maria ließ sich so etwas im Vertrauen mitteilen, und das sollte auf dem einsamen Wege geschehen, der sie zu dem geliebten Meister je bälder je lieber hinführte. Martha hatte bei all' ihrer ungestümen Raschheit dennoch Empfindung genug, um dieses Heiligtum ihrer Hoffnungen nicht Jedem preiszugeben, bei dem sie vielleicht für diese zutrauliche Mitteilung den Ehren-Namen „einer überspannten Schwärmerin“ eingeerntet haben würde. Zugleich wusste sie von Jesu, dass Er seine größten Taten gerne in heiliger Stille verrichtete, und kein Aufsehen erregen will. Sie sah es auch gerne, wenn Jesus verborgen blieb, weil ihr die boshaften Anschläge seiner Feinde wohl bewusst waren. Verarge es den Freunden Jesu nicht, wenn ihre fromme Vertraulichkeit sich Manches gegenseitig mitteilt, das dir, wenn du es hörtest, gleichgültig oder vielleicht gar ein Gegenstand des Spottgelächters wäre. Die schönsten kühnsten Hoffnungen ihres Glaubens lassen sich nur im vertrauten Zirkel gleichgestimmter Seelen offen ergießen; sie sagen sich einander leise ins Ohr, was vielleicht später durch Tatsachen auf den Dächern gepredigt wird.
3.
Mit ungeduldiger Eile geht Maria mit ihrer Schwester aus dem Hause, um den sehnlichst herbeigewünschten HErrn und Meister so bald wie möglich außerhalb des Dorfes anzutreffen. Erwünschteres hätte ihr nichts gesagt werden können, als dass Jesus in der Nähe sei. Ob sie sich gleich zu den Hoffnungen einer Martha noch nicht aufgeschwungen hatte, so durfte sie doch zuversichtlich in der Gesellschaft ihres HErrn Trost und Herzens Erleichterung erwarten. Es war ihr schon genug, ihren Kummer in sein teilnehmendes Herz ausschütten zu dürfen. Hatte sie doch immer gedacht, dass sie Jesus in ihrer großen Not nicht ganz vergessen konnte. Freilich kam Er sehr spät - zu spät für Marias sinkende Hoffnung, aber nicht zu spät, um seine Gottes-Macht desto auffallender zu verherrlichen. Was Er ihr auch immer mitbringen mochte, es war ihr genug, Ihn in der Nähe zu wissen, und sich Ihm zu den Füßen niederwerfen zu können. Da, da war es ihrem bekümmerten Herzen wohl; an diesem Ort konnte sie ihre matte Seele beruhigen und stillen, und für die heiße Leidensglut, die ihr Inneres verzehrte, ein heilendes Öl finden. Sie eilt - o möchtest du auch, wie sie, zu Jesu eilen, Bekümmerter, und die ganze Last deines Herzens Ihm zu den Füßen niederlegen! Warum willst du dich so lange vergeblich grämen, und deine Seele im Kummer verzehren? - Warum Alles allein auf deine schwachen Schultern nehmen, und diesem teilnehmenden Freund nichts übergeben? Wirf dein Anliegen auf den HErrn, Er wird für dich sorgen, und dich, wenn du Ihm vertraust, nicht ewig in der Unruhe lassen. - Sie eilt, um ihrem gepressten Herzen Luft zu machen. Lange genug hatte es der bange Schmerz zerrissen, und sie in Finsternissen umhergetrieben. Ihr Freund soll nun in ihr Herz hineinsehen, und ihren Gram an ihrer Stirne lesen. Mache es auch also, Bekümmerter, schütte dein Herz vor Ihm aus; Gott sei deine Zuversicht! Kannst du den schweren Druck deines Herzens nicht aussprechen, deine Leiden nicht mit Namen nennen - du bedarfst es nicht. Auch dein schwaches Lallen gefällt Ihm wohl, wenn es gläubig ist. Komme nur zu Ihm mit Allem, was dich presst und kümmert; lege es zu seinen Füßen nieder. Deine Tränen werden lauter reden an sein mitleidsvolles Herz, als irgendeine Menschensprache reden kann. Mühseliger und Belasteter! Dir soll Ruhe werden! Er wird dich nicht ungetröstet von sich weggehen lassen. Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren; Er erhört ihr Schreien, und hilft ihnen. Maria eilt, und die Juden, welche bei ihr im Hause waren, um sie zu trösten, eilen ihr nach. Sie wissen nicht, dass sie dem holdseligsten Tröster in die Arme eilt, und meinen, sie gehe zum Grabe des geliebten Bruders, um daselbst ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Der Nicht-Christ weiß nicht, wo der Christ seinen Trost und seine Ruhe sucht und findet. Gehe hin an das Bet-Kämmerlein des Gläubigen, und siehe, mit welch' heiterer Miene er aus demselbigen heraustritt! Mit finsterem Blick und beunruhigtem Herzen hatte er sich in dasselbe verschlossen, und sein ganzes Herz vor Gott ausgeschüttet; und ihm war Trost und Frieden zugesprochen worden. Die finstern Wolken sind aus seinem Leidens Angesichte verdrängt; er lächelt wieder Ruhe und Heiterkeit. Löse dieses geheimnisvolle Rätsel, Nichtkenner Jesu, wenn du es lösen kannst! Es ist dir diese nie-versiegende Quelle des himmlischen Trostes verborgen, und wenn dich Zerstreuung und Erdentaumel nicht tröstet, so weißt du nirgends Ruhe vor dem nagenden Schmerz zu finden. Aber diese armseligen Trostmittel verschmäht der Christ, der Christum kennt. Nicht am finstern Grabe, nicht in zerstreuender Welt-Gesellschaft, zu den Füßen seines erbarmungsreichen Erlösers hat er seine Seelenruhe und neue Kraft zum Tragen und Dulden wieder gefunden. Alles andere ist Palliativ, das eine Zeitlang die blutende Wunde bedeckt, aber sie nicht heilt. Wirf dieses elende Blendwerk hinweg, und sorge besser für den Trost deines Herzens bei dem besten Tröster.
4.
Maria kam zu Jesu; und als sie Ihn erblickte, fiel sie zu seinen Füßen nieder, und sprach zu Ihm: „Herr! wärst Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Weiter konnte sie vor heftigem Tränenguss nicht reden, und sie blieb stumm zu seinen Füßen liegen. Und nun begann auch die Trauer-Gesellschaft, die ihr nachgefolgt war, ein neues Wehklagen, weil es die Sitte also mit sich brachte, in den Klageton der Hinterlassenen miteinzustimmen. Maria hatte ihre vorherige Achtung gegen ihren HErrn nicht aus ihrer Seele verloren; selbst die lästige Verwandtschaft, welche sie keinen Augenblick allein ließ, konnte sie nicht hindern, sich ehrfurchtsvoll zu Jesu Füßen hinzuwerfen, und Ihm ihre ausgezeichnete Huldigung zu bringen. Aber die dringende immer steigende Not hatte ihre Glaubenskraft geschwächt. Ihre Erwartungen von Jesu waren groß gewesen. Auch sie sie glaubte, wie ihre Schwester Martha, dass in Jesu Gegenwart ihr Bruder nicht gestorben, sondern von Ihm gesund gemacht worden wäre. Aber nun, seit dem er gestorben ist, hat sie ihre Hoffnung, ihn wieder unter den Lebendigen zu sehen, aufgegeben. So hoch hatte sich ihr Glaube noch nicht emporgeschwungen, dass sie der Allmacht Jesu Alles und auch das Unmöglichscheinende zugetraut hätte. Sie schränkte die Wunderkraft Jesu bloß aufs Kranken- und Sterbebett ein, und konnte nicht glauben, dass Er auch den toten Bruder auferwecken könne. Die Wunder-Beweise, welche der HErr auch an mehreren Toten schon abgelegt hatte, konnten ihr nicht unbekannt geblieben sein; aber in tiefer Traurigkeit vergisst das bange Herz so leicht, was man in ruhiger Gemütsstimmung nie vergessen hätte. Man gibt Alles verloren, wenn die Hilfe nicht gerade zu der Zeit und auf die Art, wie wir dachten, erscheint. O des kleingeistigen Kleinglaubens, der den frömmsten Seelen in mancher Versuchungsstande noch anhängt, und sie mit hoffnungsloser Bangigkeit erfüllt! Auch sie würden verzagen, wenn die allmächtige Hand des HErrn sie nicht festhielte.
Maria weinte, und die Juden weinten mit. Sie liegt in wehmütiger Glaubenslosigkeit zu Jesu Füßen, und was bei ihr innerste Empfindung war, war bei den Andern nachgemachte Sitte. Das jammernde Wehklagen durchdrang das Herz Jesu; ein heiliger Unwille und eine wehmutsvolle Betrübnis ergriff sein Innerstes.
Es musste für Ihn ein trauriger Anblick sein, seine sonst so vielfassende und vielversprechende Schülerin Maria in dieser trostlosen und glaubensleeren Gemütsfassung sehen zu müssen. Schon das Wort, womit sie Ihn bewillkommnet, hatte die Schwäche ihres Glaubens verraten, und nun ihre Tränen - es waren nicht Tränen der Freude und der wiederkehrenden kühnen Hoffnung, sondern der finstern Niedergeschlagenheit, welche zu glauben aufgehört hat. Wie war es bei dem guten Vertrauen, das Er zu Maria hatte, anders zu erwarten, als dass Er Ungeduld und Betrübnis über sie in seiner Seele empfinden musste. „Auch meine vorzüglichsten Schüler und Schülerinnen,“ musste Er denken „wie schwach sind sie noch! Wie leicht werfen sie ihr Zutrauen zu mir weg, die Kleingläubigen!“ - Ein paar Tage der Prüfung und des Wartens haben sie schon erschüttert, und aus der Fassung gebracht. O die Unverständigen! Wie wenig haben die Lernbegierigsten unter ihnen gefasst! Wie schwach sind die Stärksten! Wie? Selbst eine Maria, die feinsinnige, aufmerksame, schnell fortschreitende Schülerin, selbst diese ist noch nicht so weit fortgerückt, es Mir zutrauen zu können, dass Ich auch Tote aufzuwecken vermag! Die trägen, vertrauenslosen Herzen! Wie lange muss Ich unter ihnen sein? Wie lange Mich mit ihnen gedulden?“ So dachte und fühlte das heilige Herz Jesu, das immer so rein-menschlich gefühlt hat. Und - o wohl uns, dass Er also fühlte, und sich über diese kleinmütige Schwäche seiner Angehörigen nicht wegsetzte! Durch solche, freilich für Ihn sehr bittere Erfahrungen, sollte Er ein erbarmungsreicher Hoherpriester werden, der mit unserer großen Schwachheit und Gebrechlichkeit Geduld haben könnte; und der versucht ist allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde. Er sollte sich in die ganze unergründliche Tiefe des Menschenherzens hineinfühlen, und unser Innerstes an sich selbst durchschauen! Nichts, nichts sollte Ihm verborgen bleiben, was Menschen-Elend und Menschen-Gebrechen heißt. Und wenn Er am grünen Holz solche Ausartungen und Schwächen wahrnahm, was durfte Er vom Dürren hoffen? Und dennoch gab Er für das grüne und dürre Holz der gesunkenen Menschheit die Hoffnung nicht auf; ließ seinen Mut durch solche bittere Erfahrungen nicht lähmen. Wenn Er auch mit seinen Heiligen zürnen muss, so ist sein Unwille und seine gerechte Ungeduld doch sogleich von erbarmungsvollem, teilnehmendem, hilfreichem Wohlwollen verschlungen. Seht - auf einen solchen Hohenpriester dürfen wir vertrauen!
5.
Nicht länger wollte Jesus bei der weinenden Maria stehen bleiben. Er konnte und wollte sie nicht anders trösten, als durch ein Wunder, das ihren Kleinglauben aufs tiefste beschämen, und ihr unbegrenztes Vertrauen auf Ihn unerschütterlich gründen musste. Jetzt war der Zeitpunkt da, wo entscheidend geholfen werden musste; und wer anders konnte. helfen, als Er, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist? „Wo habt ihr den Leichnam hingelegt?“ war seine Frage. Sie antworten Ihm mit der Wehmut des Trauernden, der am Orte seines Schmerzens gern verweilt: „HErr! komm' und siehe es!“ Und Jesu gingen die Augen über.
Marias und der Juden Benehmen hatte seine Seele tief betrübt; ein Unwille darüber in Ihm rege geworden; aber mit dem Schnellsprung der edelsten Liebe wendet Er sein Angesicht von ihrem Schwachglauben hinweg auf die Ursache desselben. Die Grundwurzel aller menschlichen Torheiten und Gebrechen stellte sich auf einmal vor sein erbarmendes Herz hin, und Er weint - weint Tränen des gerührten Mitleids über den tiefen Verfall der Menschen-Natur, und die verheerenden Zerrüttungen, welche die Sünde in dieser Welt hervorgebracht hatte. Boll huldreicher Teilnahme blickt Er die Anwesenden an, und Tränen des Erbarmens dringen sich Ihm in die Augen. Was durfte Er von so tief gesunkenen, millionenfacher Hilfe höchst bedürftigen Geschöpfen Besseres erwarten, als hoffnungslose Traurigkeit in der Not, und blödes Zagen in der Stunde des Kummers? Sein edles Herz hatte ihren Kleinglauben schon entschuldigt, und ihrer Vertrauenslosigkeit vergeben. Er hielt sie immer noch seiner mitleidsvollen Tränen würdig - der Sanftmütige und von Herzen Demütige!
Zärtlicher hat noch kein Freund geliebt, als Er liebt! Seine Liebe ist mild und freundlich; sie eifert nicht; sie lässt sich nicht erbittern, trachtet nicht nach Schaden. Sie verträgt Alles, sie glaubt Alles, sie hofft Alles, sie duldet Alles! Weißt du für die Schwachheit deines Glaubens keine Entschuldigungs-Gründe mehr - seine Liebe weiß neue zu finden, um Geduld mit dir zu haben. Kannst du nichts anders, als dich vor Ihm anklagen, und dein kaltes, totes, träges Herz vor Ihm verurteilen - Er ist größer, als dein Herz. So lange noch irgendetwas an dir ist, das Er anfassen, und wodurch Er sich deinem Herzen nähern kann, so lange wirft Er dich nicht hinweg. Er hat unendlich mehr Geduld und Langmut mit dir, als du mit dir selbst und mit Andern hast. So leicht tritt Er von einem bedürftigen Sünderherzen nicht zurück. Er fühlt sich mit der teilnehmendsten Liebe ganz in deine Lage und in deinen bitteren Kummer hinein, und überschaut deinen ganzen Jammer. Wo du deine Hoffnung aufgegeben hast, da fängt Er aufs Neue zu hoffen an, und kommt deiner Schwachheit zu Hilfe.
Und Jesu gingen die Augen über! Heilige Tränen Jesu, wie kostbar seid ihr mir! Welch' ein linderndes Labsal reicht ihr jedem Leidenden in seiner heißen Leidensglut! Dein Schmerz ist Ihm auch ein Schmerz; du weinest nicht allein, Schwerbeladener! Jesus weint mit dir. Was dich drückt, drückt auch sein Herz. Jedes Seufzen des Elendes, jedes Angstgeschrei der Not wiederhallt in seiner mitleidsvollen Seele! Dir soll geholfen werden, denn du bist wert in seinen Augen, wenn dein Herz an Ihm sich festhält. Jede Mitleidsträne, die Er hienieden im Jammertale geweint hat, ist ein Segen für dich und für die Welt. Sein Vater sah sie, und freute sich derselben. Schmerzhafter kannst du sein Herz nicht verwunden, als wenn du Ihn hart und empfindungslos glaubst. Fürwahr! Du kennst Ihn noch nicht recht, wenn seine unveränderliche Liebe und unermüdete Teilnahme dir noch einen Augenblick ungewiss ist. Siehe Ihm getrost in die Augen; sie gehen über deinem Elend über, und Alles bewegt sich in Ihm, dich aus Liebe warten zu lassen, und dir aus Liebe zu helfen. Behalte Ihn unverrückt im Gesichte, und schütte dein Herz vor Ihm aus; du klagst deine Not keinem Empfindungslosen, keinem Unerfahrenen in Menschen-Not und Menschen-Bedürftigkeit.
6.
„Seht, sprach ein Teil der Umstehenden - wie Er um ihn weint, wie Er ihn geliebt haben muss!“ So deutet das gute Herz gern die Tränen der Liebe. Nenne es nicht Schwäche, mit den Weinenden zu weinen; Jesus hat es ja auch getan. Wie stark war sein Herz, wie mächtig aller seiner Empfindungen! Er wusste immer, was Er tat und tun soll; und hielt es nicht für Selbst-Erniedrigung, in die Wehmut der Betrübten seine Mitleidsträne miteinzumischen. Des Lachens schämst du dich nicht, aber wohl des Weinens. Man hat Ihn nie lachen, öfters aber weinen gesehen. Werde ein Mensch, wie Er war, dann bist du vollkommen. Er wusste wohl, was dem Menschen geziemt und nicht geziemt, und eben darum mussten selbst die, welche Ihn nur von ferne kannten, seine Tränen als Zeichen der Liebe deuten.
So dachten freilich nicht alle Anwesenden; Manche legten den Tränen Jesu einen andern Sinn unter, und meinten, auch Er gebe nun alle Hilfe verloren. Mit kalter Seele urteilten sie: „Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, dass auch dieser nicht stürbe?“ Dies war für das tiefbewegte Herz Jesu ein neuer Dolchstich. Diese blinden Urteile der Blinden mussten Ihn immer tiefer verwunden. Sein ganzes Ansehen war in diesem Augenblick aufs Spiel gesetzt, und die Hartherzigkeit und Kälte dieser Menschen machte aufs Neue seinen Unwillen rege. Wie konnten sie doch so bald Alles vergessen haben, was Er tat? Wie aus den Wundertaten, die Er vor ihren Augen verrichtet hat, gerade den allerverkehrtesten Schluss ziehen? Statt zu sagen: Der dem Blinden die Augen aufgetan hat, wird nun auch dem Toten das Leben geben können. Was lässt sich nicht Alles von einem Wundertäter, wie Er sich schon gezeigt hat, erwarten? Seine Macht und seine „Liebe kennen keine Grenzen“- statt zu sagen: „Kommt, wir wollen teilnehmende Zeugen seiner Gottes-Macht sein, und uns mit den Erfreuten freuen - hat die Blindheit ihres Herzens aus der einzigen Trostquelle Trostlosigkeit gezogen. So wurden dem hilfreichsten Freunde stets die Hände zum Helfen gebunden. Nur der Unglaube ist Schuld daran, dass dem armen Menschengeschlechte nicht ganz geholfen werden kann. Ach! Möchtest du dies einsehen, Leidender! und dich jeder kleinen Spur desselben von Herzen schämen! Was Gott Bereits an dir getan hat, sei dir Unterpfand und Siegel für das, was Er ferner tun wird. Urteile immer also: Aus sechs Trübsalen hat mir der HErr geholfen, und in der siebenten wird Er mich nicht verlassen so gehst du niemals irre. Du sollst immer größere, herrlichere Beweise seiner Macht und Liebe erfahren; und am Ende wirst du nach vollendetem Leidenskampfe rühmen können:
Der HErr hat Alles wohl bedacht,
Und Alles, Alles recht gemacht;
Gebt unserm Gott die Ehre! Amen.