Lobstein, Friedrich - Die letzten Worte - XII. Johannes der Täufer in seiner Größe und Kleinheit.
Matth. 11, 11.
Johannes der Täufer nimmt eine ganz besondere Stellung ein. Wie hoch erhebt nicht Jesus Christus selbst den Sohn des Zacharias! „Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei, denn Johannes der Täufer.“ Das jüdische Volk konnte diese Größe nicht verkennen, ohne genau sagen zu können, worin sie bestand. Haufenweise zog man hinaus, um den Prediger in der Wüste zu hören; der Charakter, die geistliche Macht des Mannes machten Eindruck; auch diejenigen, welche sich der Stimme der Wahrheit nicht unterwarfen, trugen in ihrem Gewissen den Stachel davon, und der blutdürstige Herodes hätte nicht so lange gezaudert, den Johannes aus dem Weg zu räumen, hätte er nicht das Volk und das Ansehen, in welchem Johannes bei demselben stand, zu fürchten gehabt. Und doch, wie hoch auch das Zeugnis Jesu Christi den Täufer stellt, derselbe Vers enthält etwas, das das begonnene Lob wieder sehr herabstimmt. Johannes der Täufer, „unter allen, die von Weibern geboren sind, der Größte,“ ist dennoch „kleiner, als der Kleinste im Himmelreich.“ Dieser etwas dunkle Ausspruch des Herrn muss näher untersucht werden. So wollen wir denn von der „Größe und Kleinheit Johannis des Täufers“ zusammen sprechen und so uns auf die Weihnachtfeier vorbereiten.
„Worin besteht die Größe Johannes des Täufers?“ Zuerst treten uns die persönlichen Eigenschaften entgegen. Es ist schwer, zu einer Zeit des Verfalls und der Auflösung, wie diejenige des damaligen jüdischen Volkes war, festzustehen und nicht mit dem Strome zu schwimmen. Schon hierin ist Johannes bewundernswert. Er wusste sich von der Krankheit seines Zeitalters unberührt zu erhalten. Zwischen der toten Frömmigkeit der Pharisäer und dem ungläubigen Materialismus der Sadduzäer, umgeben von einem Volk, das bereit war, sich „jedem Wind der Lehre“ hinzugeben, wusste Johannes der Täufer, was er wollte, und begriff, dass Gott das Herz ansieht. Auferzogen in der Schule der alten Propheten, ihres Ernstes und Mutes voll, predigte der Täufer, noch eh' er die Lippen öffnete, durch seine bloße persönliche Erscheinung. Seine Selbstverleugnung im äußern Leben drückte seine innere Gesinnung aus; ist man vom Ernst des Lebens durchdrungen, sieht man Tausende von Menschen um sich, welche in ihrer Unbußfertigkeit, ihrem Unglauben dem Abgrund zustürzen, da braucht es keines Prophetenamtes, noch eines ledernen Gürtels, um seine Augen wo anders hin als auf die Genüsse der Welt zu richten. Eine Seele, wie die des Täufers, ein Herz so voll heiligen Patriotismus entsagte leicht den materiellen Genüssen des Lebens; sein Schatz war anderswo.
Ein solcher Mann, so ganz und gar durchdrungen vom Göttlichen, hatte natürlich den Mut, kräftig zu zeugen von der Wahrheit. Der Täufer wusste nichts von Menschenfurcht; was er dem Volke in der Wüste verkündete, das sagte er einem Herodes ins Antlitz in dem Saale seines Palastes. Mit der Ewigkeit im Auge, für uns wie für unsere Nebenmenschen; mit dem Blick auf „die Axt, die an die Wurzel der Bäume gelegt ist,“ fühlen wir uns von einer Macht beherrscht, die alle menschengefälligen Rücksichten beseitigt. Das einzige Übel, das uns die Menschen zufügen können, ist die Entziehung ihrer Gunst. Was aber ist Menschengunst? Wer kann sich darauf verlassen? Wie sonderbar wankend ist doch der Menschen Meinung? Und „halten wir die Wahrheit gefangen“ aus Menschengefälligkeit, kann uns wohl der Beifall von außen für die Gewissensqualen entschädigen? Johannes kannte nur die Wahrheit, bekannte nur sie und gewann durch diese einzige Rücksicht und durch diesen Mut einen mächtigen sittlichen Einfluss.
Der herrschende Zug aber im Charakter des Johannes war seine Demut. Es ist schwer, die rücksichtsloseste Festigkeit mit der Demut zu vereinigen. So leicht mischt sich in die Unerschrockenheit etwas Herbes, das dem Fleisch und Blut angehört. Indem man die Gewissen der Andern straft, vergisst man sich leicht selbst und gibt dem Hochmut Raum. Der Täufer aber kannte seine Natur; er wollte nicht „das Hohe eben machen,“ um hierauf sich selbst zu erhöhen. Er hätte mögen das Haupt einer Partei, oder Hofprediger werden; er aber wollte es nicht; der Erfolg blendete ihn nicht über sich selbst. Er kannte einen Andern, der größer war als er, und wie gerne setzte er sich zu dessen Füßen. „Er war nicht das Licht,“ „er zeugte nur von dem Licht.“ Er sieht Jünger sich sammeln um Jesum Christum und weist seine eigenen zu dem Heiland der Welt, mit den Worten: „Er muss wachsen und ich abnehmen.“ Johannes kannte die Eifersucht nicht; die Pharisäer durchzogen die Meere, um einen Proselyten zu machen, Johannes nahm nur Die auf, welche zu ihm kamen, und sein Amt war nur, nach seinen eigenen Worten, ein Amt der Vorbereitung. Er versprach seinen Jüngern nicht eine wunderbare Wissenschaft oder den Eingang in das Paradies, sondern wiederholte ihnen: „Ich taufe euch mit Wasser zur Buße: der aber nach mir kommt, ist stärker denn ich, dem ich auch nicht genug bin, seine Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.“ Dies führt uns zur wahren Größe des Täufers. Wir haben bisher von seinen persönlichen Eigenschaften gesprochen, die wahre Größe aber liegt in unserer Beziehung zu Jesu Christo. Wir haben, ein Jedes, in der Welt nicht nur unsere Stellung als einzelnes Individuum, wir gehören einem Leibe an, dessen Glied wir sind, der Geschichte, davon wir ein Element sind. In dieser Hinsicht war die Stellung Johannis eine ganz hervorragende. In seiner Person berührten sich die Grenzen des alten und des neuen Bundes. Die Stimme der Propheten hatte fünf Jahrhunderte hindurch geschwiegen; Johannes der Täufer sollte diese verklungenen Stimmen wieder ertönen lassen, aber zum letzten Mal; die Zeiten der Erfüllung waren angebrochen und die Weissagung sollte aufhören. Die wahre Größe des Johannes lag in seinem Amt als Vorläufer Jesu Christi. Er selbst gehörte zur alten Ordnung der Weissagung, denn an ihn wendet der Heiland die Worte des Maleachi an: „Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der den Weg vor dir bereiten soll.“ Durch die Taufe zur Buße sollte Johannes der Täufer den Boden für Jesum Christum vorbereiten. Eh' man sät, muss man pflügen und Johannes führte den Pflug. Nicht für sich selbst arbeitete er; seine große Gestalt sollte einer noch größeren weichen; aber das ist eben die rechte Größe des Menschen, verschwinden zu können, um nur Jesum Christum zur Erscheinung zu bringen.
Hierin liegt eine Belehrung für uns Alle. Um den sittlichen Wert eines Menschen zu beurteilen, darf man nur fragen, nicht sowohl was er ist oder getan hat, als was er für den Herrn ist, für Christum getan hat? Unsere besten Eigenschaften, von Christo losgetrennt, sind nichts; dagegen erhalten unsere geringsten Eigenschaften einen besonderen Glanz, wenn sie für Jesum gebraucht werden. Groß ist nur, was dem Herrn dient; unsere schönsten Talente, sobald sie nur unserer eignen Größe dienen, sind bloße Fallstricke für uns und machen aus uns Diebe. Unsere Aufgabe ist bloß: „den Weg zu bereiten dem Herrn, seine Steige eben zu machen“; Propheten oder nicht, wir gehören uns nicht selbst an; „wir sind teuer erkauft“; unser wahrer Ruhm besteht darin, dem anzugehören, der uns geliebt hat, und das „Volk und die Herde seiner Weide“ zu sein. Längst schon wäre es aus mit dem Ruhme Johannis des Täufers, hätte er nur eine persönliche Verherrlichung angestrebt. Was würde aus dem Efeu, wenn er nicht um die Eiche sich schlingen könnte? Was würde aus dem Menschen, der nur ein Windhauch ist, könnte er nicht sein flüchtig Dasein auf „Den“ stützen, „dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden?“
Haben wir die „Größe des Johannes“ gesehen, so wollen wir auch seine „Kleinheit“ betrachten. Das glänzende Lob des Heilandes ist gemildert, es verschwindet beinahe vor der andern Bemerkung: „Der Kleinste im Himmelreich ist größer denn Johannes.“ Der ärmste Christ, als Christ, ist größer als Johannes, als der Vorläufer Christi. „Im Himmelreich sein“ ist mehr, als dem Himmelreich nahe sein. Johannes bildete die Brücke, die vom alten zum neuen Bunde überleitet; er stellt auch „das Gesetz“ dar; „das Gesetz als den Zuchtmeister auf Christum,“ nicht aber Christum selbst. Was der Mensch Hohes haben kann, erscheint uns in Johannes, aber zwischen der vollkommensten Gesetzlichkeit und der Gnade Gottes liegt noch ein Abgrund. Gott bleibt nicht stehen, wo der Mensch seinen Gipfelpunkt erreicht hat; „die Engel selbst sind nicht rein vor ihm“; die Sonne hat Flecken, der Mond kann „rot werden wie Blut“ und was soll man vom Menschen sagen, der „die Ungerechtigkeit säuft wie Wasser?“ „Alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein befleckter Lappen,“ und der größte Sünder, wenn er mit der Gerechtigkeit Christi überkleidet ist, steht höher als der „Größte von Allen, die von Weibern geboren sind“ und als der nur seine eigene Gerechtigkeit hätte. Johannes hat zwar nicht den Charakter eines Selbstgerechten, aber doch zeigt uns in ihm die Schrift nicht einen Jünger Jesu Christi. Johannes sollte in vorbildlicher Weise das Gesetz und die Propheten in sich darstellen, doch so, wie sie an und für sich ohnmächtig sind, wenn nicht Jesus Christus hinzu kommt, um sie zu erfüllen. Es gilt von Johannes, was von Moses gesagt ist: „Das Gesetz ist gegeben durch ihn, aber die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesum Christum gekommen.“
Der Kleinste im Himmelreich ist größer als Johannes der Täufer. Der Schächer am Kreuz, welcher nach einem verbrecherischen Leben, eine Stunde vor seinem Tode, noch glaubt an Den, „der die Sünder gerecht macht“, ist größer als Johannes und dessen ganzes tugendreiches, selbstverleugnendes Leben. Diese Lehre hat etwas Empörendes, denn sie demütigt. Einen Mörder höher zu stellen als einen tadellosen Menschen! Von diesem Mörder zu behaupten, dass er durch seinen Glauben an Christum, durch seine Überkleidung mit Christi Gerechtigkeit ins Himmelreich eingehe und größer sei vor Gott als der Tugendhafteste unter den gewöhnlichen Menschen! Solche Lehre kann wütend machen, aber du kannst nichts gegen die Wahrheit, welche der Heiland selbst in den Worten niedergelegt hat: „Der Kleinste im Himmelreich ist größer denn Johannes.“ Ich habe den Schächer am Kreuz angeführt; ich kann ein anderes Beispiel nennen. Nimm den Hiob, den heiligsten Mann des Alten Testamentes; den Mann schlicht und recht, „den Mann, der Gott fürchtet und das Böse meidet.“ Der Herr selbst sagte von diesem Diener: „Er hat seines Gleichen nicht auf Erden.“ Die Erinnerung an seine Tugenden hat Jahrhunderte überlebt und Jakobus führt in seiner Epistel die Geduld Hiobs als ein Beispiel an. Wo sind die Menschen zu finden, die in dem Schicksal, das Hiob traf, sprechen würden: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ Auch Hiob war ein großer Mann, und doch ist, der Kleinste im Himmelreich größer als Hiob. Was wurde aus Hiobs Gerechtigkeit am Ende seiner Prüfungen? Was blieb ihm von all' seinen Tugenden? Er sagt es selbst: „Ich verdamme mich und tue Buße im Staub und in der Asche.“ Der Mensch muss, was sein ist, hingeben, soll Gott ihm mitteilen, was Gottes ist. Ein Heiland, den vierzig Jahrhunderte geweissagt haben, muss wohl ein unentbehrlicher Heiland sein. Und da gilt keine Ausnahme weder für einen Hiob, noch für einen Johannes, auch nicht einmal für die Mutter Jesu, denn es steht geschrieben: „Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer; sie sind Alle abgewichen, und allesamt untüchtig geworden; da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer.“ Aber „wenn kein Unterschied ist, wenn Alle gesündigt haben und des Ruhms ermangeln, den sie vor Gott haben sollten“, so ist's, auf dass „sie aus Gnaden gerecht werden durch die Erlösung in Christo Jesu“. „Selig sind die geistlich Armen, denn das Himmelreich ist ihnen. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Worin besteht das Weihnachtsfest? In dem „Menschensohn, der gekommen ist zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“
Ich habe von der „Größe und Kleinheit Johannes des Täufers“ gesprochen, um den Unterschied zwischen dem Amt des Gesetzes und dem Amt der Gnade hervorzuheben. Bist du unter dem Gesetz oder unter der Gnade? Untersuche die herrschende Richtung deines Lebens und den Grund deines Heils. Die meisten Menschen, wenn man sie fragt: Wie hofft ihr selig zu werden? antworten: Ich tue, was ich vermag, und Gott wird mir das Übrige nachsehen. Sie bilden sich ein, dass, wenn sie täglich ein Weniges mehr tun, so werden sie zuletzt auf einen Punkt gelangen, wo Gott zufrieden mit ihnen sein wird, und so werden sie dann ruhig sterben können. Es dreht sich Alles um ihr eignes Tun; sie bringen sich selbst vorwärts, vervollkommnen sich selbst; da hat Jesus Christus weiter nichts zu schaffen, er ist überflüssig. Unbegreiflich aber ist's, wie Tausende von Christen, die an Jesum Christum glauben, nicht mehr in der Gnade leben als jene Selbsthelfer. Sie fügen ihr eignes Wirken zu den Werken Jesu Christi; sie glauben, dass Jesus Christus „gekommen ist die Sünder selig zu machen,“ unterdessen aber gründen sie doch ihr Heil auf sich selbst. Von sich gehen sie aus, in sich setzen sie ihre Hoffnung, auf sie selbst kommt zuletzt wieder Alles zurück; was Gnade ist, davon haben sie kaum eine Ahnung. Ist man aber auf sich selbst beschränkt, so kann kein Fortschritt stattfinden, es ist ein eitles Abmühen; man macht zwei Schritte vorwärts, drei zurück; man mag sich noch so sehr antreiben, zuletzt endet man doch bei der Mutlosigkeit. Ein solches Leben ist eine Selbstquälerei; würdest du hundert Jahre lang nur mit Heuschrecken und wildem Honig dich nähren, würdest du in einer Wüste leben und darin unaufhörlich beten, du würdest nicht um ein Haarbreit weiterkommen. Glaubst du an Jesum Christum, so lass ihn dir auch dienlich sein; lass seine Fülle deine Leere decken. Gedenke der Namen, die er trägt und die ebenso viele Kräfte in sich tragen. Er ist das „Brot des Lebens“; geh' zu ihm und „dich wird nimmermehr hungern“; „glaube an ihn und dich wird nimmermehr dürsten.“ Er ist der Weg“; wende dich zu ihm und bleib' nicht weiter mit dir selbst allein. Er ist „die Wahrheit“; ihm musst du dein Ohr leihen, nicht deiner Furcht, deiner Traurigkeit. Er ist „das Leben“; nimm es aus seinen Händen und versuche nicht, dir's selbst zu geben. Er ist „der gute Hirte“; lass dich leiten und führen und „dich wird nicht hungern.“ Er ist „die Türe“; klopfe an und sie wird dir aufgetan, wenn sich sonst keine mehr für dich öffnete. Er ist „das Licht der Welt“; lass es scheinen auf deinen Pfad und du wirst nicht im Finsteren wandeln. Er ist „der rechte Weinstock“; einige dich mit ihm im Glauben und „er wird dich in sich bleiben“ und an ihm wachsen lassen. Was an ihm ist, ist „angenehm,“ lass ihn nicht dir nahen, ohne mit beiden Händen, „die Freude, die allem Volk widerfahren ist,“ zu ergreifen. Du bist nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade; dafür bürgt das Weihnachtsfest. Hier ist mehr als Johannes der Täufer, hier ist „die Hoffnung der Völker, der Durchbrecher, der Friedefürst.“ Du hast so manche Weihnachten fruchtlos vorübergehen lassen; willst du nicht inmitten der Kinderfreuden auch deinen Teil vom „Lebensbaum“ ergreifen, „dessen Blätter“ dir „Heilung“ gewähren? „Der Schwache“ bekenne endlich, dass „er stark ist“; der „Arme,“ „dass er reich ist“; der „Betrübte,“ dass er „immer fröhlich ist.“ „Der Kleinste im Himmelreich ist größer als Johannes der Täufer.“ Es gibt eine Größe und eine Kleinheit, welche alle menschlichen Größen, alle irdischen Hoffnungen, alle Familienfreuden übersteigt; nämlich das Bewusstsein, „Den“ gefunden zu haben, „von dem Moses und die Propheten gesprochen,“ und die Gewissheit, dass Er bei mir ist alle Tage bis an der Welt Ende.“ Amen.