Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Lazari Auferweckung.

Blumhardt, Christian Gottlieb - Lazarus, der Kranke, Sterbende und Auferweckte - Lazari Auferweckung.

Joh. 11, 38-44.
Jesus aber ergrimmte abermals in Ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab. Spricht zu Ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: HErr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen. Jesus spricht zu ihr: „Habe Ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hub seine Augen empor, und sprach: „Vater! Ich danke Dir, dass Du Mich erhört hast! Doch Ich weiß, dass Du Mich allezeit hörst; sondern um des Volks willen, das umhersteht, sage Ich's, dass sie glauben, Du hast Mich gesandt.“ Da Er das gesagt hatte, rief Er mit lauter Stimme: „Lazare, komm' heraus!“ Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst ihn auf, und lasst ihn gehen.

1.

Jesus Christus ist unumschränkter HErr der Natur. Was Er tun will, das kann Er auch; und nichts ist, das der Vater seiner Macht nicht unterworfen hätte. Er ist niemals einen Augenblick verlegen, durch Natur-Gesetze oder auch ohne Naturgesetze die auffallendsten Wirkungen hervorzubringen, sobald es Ihm darum zu tun ist, einem Bedrängten aus seiner Not zu helfen, und einen Trauernden durch unerwartete Hilfe zu trösten. Was kein Mensch und kein Engel vermag, das vermag Der, durch welchen im Anfang alle Dinge gemacht sind, und ohne welchen nichts, was ist, gemacht ist. (Joh. 1, 3.) Einen solchen allmächtigen Helfer bedurfte die arme Menschheit, wenn ihren großen vielfachen Bedürfnissen ganz abgeholfen, und sie in ihre ursprüngliche Gottes-Kindschafts-Würde wieder eingesetzt werden sollte. Ihren Schaden konnte Niemand anders, als ein allmächtiger Gott, wieder gutmachen. Die Propheten und Gottes-Männer des alten Bundes wurden gleichfalls dem erkrankten Sünder-Geschlechte zu Hilfe geschickt; aber ihr Tun, so wohltätig es auch war, war doch nur Stückwerk, nur Vorbereitung auf den kommenden allmächtigen Helfer, in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnen sollte. Nicht auf sich und ihre Hilfe, sondern auf Ihn und seine Macht wiesen sie die hilfsbedürftigen Menschen hin. Sie waren nach der Absicht Gottes die Wegzeiger auf der mühevollen Lebensstraße der Frommen, welche Alle gleichsam mit Einem Finger auf den großen verheißenen Retter hindeuteten. Und dieser große Eine, in dem sich Alles vereinigt, was der Mensch zu seiner Rettung und Beseligung bedarf, ist und bleibt Jesus Christus, der Gott der Menschen, und der allmächtige Helfer der Elenden. Vor seinem preiswürdigen Namen sollen sich alle Knie im Himmel, auf Erden und unter der Erde beugen; alle Zungen sollen es laut bekennen, dass Er der HErr ist zur Ehre Gottes des Vaters. Wer sollte sich und seinen leidenden Mitmenschen nicht Glück wünschen, einen Retter zu haben, wie Er ist? Nennt uns die ganze Menschen-Geschichte von Adam an bis auf diese Stunde herab einen Einzigen seines Gleichen? Welche Weisheit, Macht und Liebe kann und darf mit der Seinigen in Vergleichung gesetzt werden? - Noch habe ich in den Urkunden der großen Weltgeschichte keinen Ähnlichen gefunden. Darum freut euch, Christen, dass euerm Christus keiner seines Gleichen an die Seite gesetzt werden kann! Fasst guten Mut, Leidende, ihr könnt in Ihm einen allmächtigen Retter finden, der Alles zu tun vermag, was Er will, und Alles von ganzem Herzen will, was euch gut und heilsam ist. Ihr seid die nächsten und willkommenen Gegenstände seiner allmächtigen Hilfsbegierde. Zu Ihm, zu Ihm nehmt eure Zuflucht! Lasst euch seine ewig-merkwürdige Lebensgeschichte auf jeder Seite sagen, wer Er ist, und was Er kann, und wie sein Herz liebt. Auch der Grabhügel seines verstorbenen Freundes soll es euch aufs Neue recht laut verkündigen, dass seiner Macht und Liebe nichts unmöglich ist. Findet euch auf diesem herrlichen Schauplatz seiner göttlichen Wundermacht mit euerm gesammelten Nachdenken ein und blickt mit wonnevollem Herzen Hinauf zu einem allmächtigen Freunde, der noch heute ist, was Er gestern war, und es in Ewigkeit bleiben wird. Sein großer Name sei ewig hochgelobt! Amen.

2.

Jesus ergrimmte abermals in Ihm selbst, und kam zum Grabe. Der Unglaube und Schwachglaube der Umstehenden zieht aufs Neue sein weites mit Gottes-Gefühl und allmächtiger Helfers-Kraft erfülltes Herz schmerzhaft zusammen; Er atmet in einer drückenden Atmosphäre unter Menschen, welche sich so schwer zu großen Glaubens, Hoffnungen hinaufstimmen lassen. Hatten sie ja doch schon so manches Wunder von Ihm verrichten sehen, an dessen Wahrheit sie selbst nicht zweifeln konnten und dennoch machen sie durch ihren Unglauben seinem liebenden, Alles nur auf ihr Wohl berechnenden Herzen, diese neue Wundertat so schwer. Das bereits Geschehene hatte noch nicht stark genug auf sie gewirkt, um ihre geschwächte Glaubenskraft zu einem unerschütterlichen Zutrauen zu Ihm zu erheben. Noch sah Er durch all' den großen Aufwand seiner lehrenden Weisheit und seiner göttlichen Wunderkraft so wenig unter dem nächsten Menschenkreise, in welchem Er seit drei Jahren mit unermüdeter Treue gewirkt hatte, ausgerichtet. Und doch war es nun hohe Zeit, dem Glauben an seine göttliche Würde eine bleibende Grundlage zu geben, wenn sein Reich auf dieser Erde gestiftet werden sollte. Das Ende seines Lebens und seiner unmittelbaren, persönlich sichtbaren Wirksamkeit auf die Menschen, war näher gerückt, als irgendeiner der Umstehenden vermuten mochte. Diese traurige Wahrnehmung musste seine liebende Seele tief schmerzen - lange genug hatte Er sich mit der Torheit und dem Unglauben der Menschen geduldet; und noch war diese prüfende Schule seiner Geduld nicht zu Ende. Aber Er wollte unter dieser Plage seines Herzens ausharren, und sich an der Vollendung seines göttlichen Werks durch die Schwachheiten der Menschen nicht stören lassen. Er kommt zum Grabe, um sich hier aufs Neue als den HErrn der Herrlichkeit zu rechtfertigen. Der Unglaube seiner Begleiter soll durch einen neuen Herz und Sinn erschütternden Beweis seiner göttlichen Wundermacht beschämt werden. Wie Vieles hast auch du schon dem Besten, vertrauenswürdigsten HErrn zu leiden gemacht, schwacher Verehrer Jesu! Wie oft schon nach tausend erfahrenen Proben seiner gnädigen Durchhilfe seine Geduld auf neue Proben gesetzt! Kannst du gleichgültig dagegen sein, wenn Jesus über die Schwachheit deines Vertrauens zu Ihm immer aufs Neue im Geiste sich betrüben muss? Soll denn immer jeder kleine Windstoß der Widerwärtigkeit deinen Glauben zu Boden werfen? Sollen die vielen Wunder seiner allesvermögenden Liebe nicht einmal deiner Überzeugung von seiner gnädigen Vorsorge für dich eine feste und bleibende Grundlage geben? An deiner furchtsamen Niedergeschlagenheit in jeder neuen Not kann sein Herz fürwahr keine Freude haben. Er will die Beweise seiner Macht und Liebe nicht an dir verschwenden, und am Ende dich doch immer wieder in dem Rachen des ängstlichen Unglaubens erblicken. Zwar ist seine Geduld unaussprechlich groß, und dieser allein hast du deine Seligkeit zu verdanken; aber seine Geduld soll dich auch einmal zu einem männlichen Glaubensmut erheben, und dir in jeder Ratlosigkeit den Weg der Hilfe öffnen. Du darfst wohl einmal lernen, im Glauben dir auf deinen allmächtigen Christus etwas zu gut zu tun. Die Kinder der Welt sollen an deinem Betragen sehen, dass du in der Stunde der Not einen allesvermögenden Helfer kennst, und eine immer frohmachende Stütze in dem Glauben an Ihn findest. Sie sollen dadurch gereizt werden, in Ihm dasselbe Glück zu finden, das du bei diesem guten HErrn genießest. Aber durch deinen furchtsamen Kleinmut und deine Niedergeschlagenheit unter Leiden machst du diesen allerbesten HErrn und den Christenglauben zu Schanden, und gibst den Kindern dieser Welt zu dem Christusbeschimpfenden Vorurteil Anlass: „Die Christen sind in der Stunde der Not nicht glücklicher und gefasster, als wir es sind.“

3.

Jesus kommt zur Totengruft seines Freundes Lazarus, welche ein großer Stein bedeckt. Alle Umstehende sind voll der gespanntesten Erwartungen, was jetzt geschehen werde. „Hebt den Stein ab,“ spricht Jesus Christus. Die Erwartung steigt noch höher, und erschütternde Todesstille herrscht in der ganzen großen Versammlung. Auf jedem Gesicht liest Jesus die Frage: „Was will das werden?“ Die Umstehenden sollen zu dem großen Auftritt, der jetzt vor ihren Augen beginnt, das Ihrige beitragen. Mehr vermögen sie nicht, als den Grabstein abzuheben, der den modernden Freund verbirgt; doch sie sollen Ihm das kleine Geschäft verrichten, das sie können; und Jesus Christus will tun, was sie nicht vermögen. So ist von jeher seine Handlungsweise gewesen. Der Leidende, der nicht tun will, was er kann, wird auch niemals ausführen, was Jesus vermag. Er lässt sich gerne in die Hände arbeiten nicht, als ob Er das Kleine nicht ebenso wie das Große, das Menschliche ebenso wie das Göttliche vermöchte, sondern weil Er aus Liebe nichts ohne den Menschen tun mag. Vergeblich hofft der Kranke auf übernatürliche Hilfe, wenn er die natürliche verschmäht. Nicht seiner Trägheit, seinem Eigensinn, seinem Aberglauben, sondern seinem wahren Bedürfnis will Jesus zu Hilfe kommen. Darum erwartet und fordert Er, dass der Mensch das Seinige tue, und dann Ihm das kindlich überlasse, was Jesu Christi ist. Diese Pflicht übersehen so manche Leidende, und stehen eben darum der Hilfe Jesu Christi im Wege. Was Er durch Andere tun kann, das tut Er nicht selbst. Wer Ihm in seiner Not nicht die Hände bieten mag, der ist seiner Hilfe unwürdig. Darum soll das Menschliche vom Menschen nach seinem Gebot getan werden, damit sich das Göttliche von dem Menschlichen umso sichtbarer unterscheide. Der Befehl Jesu wird befolgt, und der Grabstein abgehoben. Ein furchtbarer Toten-Anblick wird dem begierigen Auge immer sichtbarer; ein heftiger Schauer durchdringt alle umstehenden; Martha ist die nächste, welche der Verwesungsduft des modernden Bruders erschüttert. Der Anblick des Leichnams und der heftige Totengeruch stürzt mit einmal ihren kühnen Glauben zu Boden. „Es ist zu spät mit der Hilfe“, dies ist ihre erste Empfindung, „die Verwesung hat ihn schon angegriffen. HErr, er riecht schon, ruft sie, denn schon vier Tage liegt er im Grabe! Lass ihn ruhen - der Verwesung kann er doch nicht mehr entrissen werden!“ So tief kann auf einmal die glaubendste Seele herabsinken, wenn sie in der Natur kein Hilfsmittel ihrer Rettung mehr erblickt. Wer kann auch nur eine Stunde für seinen heiteren Glaubensmut gutstehen? O wer steht, der sehe wohl zu, dass er nicht falle! Bälder, als wir vermuten, kann die Stunde herbeirücken, wo der Glaubendste glaubensschwach erfunden wird. So wenig kann sich unser himmlische Erzieher auch auf seine besten Zöglinge verlassen. Er muss jeden Tag ihrem Glauben nachhelfen, wenn er sich nicht an den nächsten Hindernissen stoßen, und zu Boden sinken soll. Von dieser Seite kennt Er die Seinigen, und darum kommt Er jeden Tag ihrem Glauben zu Hilfe. Und wenn sie sich selbst von dieser schwachen Seite kennen lernen, so wird es ihnen immer mehr zum dringenden Bedürfnis, Ihn nie aus dem Auge zu verlieren.

4.

„Habe Ich dir nicht gesagt“ antwortet ihr der liebevollste Meister, „so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Was das mutlose Herz so bald wieder vergessen hat, das bringt der huldreichste Erzieher wieder in Erinnerung. Er stellt sich in Marthas schwere Lage mit dem teilnehmendsten Herzen hinein, und, ohne ihr über ihre große Vergesslichkeit Vorwürfe zu machen, ruft Er ihr mit zärtlicher Schonung die bereits ausgesprochenen Glaubensworte wieder in die Seele zurück. Der Verwesungs-Duft des modernden Bruders hatte sie aus der Fassung gebracht; Jesus bemerkt es, und kommt ihrem sinkenden Mut zu Hilfe. Glaube, Glaube ist nötig! so spricht Er ihr zu, wenn du eine herrliche Wundertat Gottes sehen sollst. Harre aus, bald ist der Sieg errungen, und der Glaube ins Schauen übergegangen. Traue meinen Worten, sie bleiben Wahrheit, wenn auch Tod und Grab sich ihnen entgegen stellen wollten. meinen Worten nicht glauben kann, kann auch nie meine herrliche Hilfe erfahren. Wer lange geglaubt hat, und nicht bis zum Ende im Glauben beharrt, kann den Siegespreis des Schauens nicht davon tragen. Wer auch dann noch meinen Worten glaubt, wenn Alles Nacht und dunkel um ihn wird, und Er nicht die geringste Spur des erfreulichen Ausgangs bemerkt, der hat ein Meisterstück im Glauben abgelegt. Nur durch schwere Glaubens-Proben kann der Christ diese Geisteshöhe erreichen - erst am Rande des Abgrunds wird dieser unerschütterliche Glaube ausgeboren. Merke dir das, Leidender! wenn du an deinen Erfahrungen und den sich täglich häufenden Glaubens-Schwierigkeiten irre werden willst. Das scheinbarste Hindernis des Glaubens muss in der Schule Jesu das wirksamste Beförderungsmittel desselben werden. Werden die Proben schwer, so ist es darauf angelegt, das Herz glaubender zu machen; aber Torheit ist es, sehen zu wollen, wo man noch nicht geglaubt hat. Dies ist Verkehrung der allgemeinsten Regel im Reiche Gottes. Ein Herz, das nicht zuvor glauben kann, wird niemals die Herrlichkeit Gottes sehen können. Ohne Glauben kann die Sehkraft des Göttlichen niemals ausgebildet werden. O dass wir diese Wahrheit in ihrer vollen Klarheit stets vor Augen behalten möchten, wie viel zufriedener würde unser Fuß durch dieses Erdenleben wandeln! Ist es nicht schändliche Herzens-Torheit, durch unsere anmaßende Ungeduld die weisheitsvollen Regeln Jesu Christi umzukehren, und zuvor sehen zu wollen, ehe man recht geglaubt hat. Kommt es nicht eben daher, dass so Viele die Herrlichkeit Gottes nicht sehen, und an ihrem Christentum Schiffbruch leiden? Sie wollen im Reiche Jesu Christi Meisterrechte genießen, ehe sie rechte Glaubensschüler geworden sind. Aber auf diesem Wege gelangt man nimmermehr zum schönen Kleinod, das uns die himmlische Berufung in Christo Jesu vorhält. Daher kann Jesus Christus mit den Weisen und Klugen dieser Welt so lange nicht zurechtkommen, bis sie Glaubenskinder geworden sind. Sein Erziehungs-Gang lässt sich nicht ändern, denn es liegt ihm himmlische Weisheit zum Grunde. Eben darum bezeichnet Er dem Klügsten wie dem Einfältigsten denselben Glaubensweg zum Schauen seiner Herrlichkeit. Je Größeres wir auf sein Wort glauben, desto Größeres sollen wir einmal mit Augen sehen. Wir glauben, lieber HErr! Hilf unserm Unglauben!

5.

Nun ist der Stein vom Grabe hinweggehoben, und der Verstorbene liegt da vor den Augen aller Zuschauer. Entsetzen ergreift die Herzen der Umstehenden - ihre Aufmerksamkeit hat den höchsten Grad erreicht. Gerne lässt sie der allmächtige Toten-Erwecker den Toten erst ins Auge fassen, um von dem Wunder seiner Auferweckungs-Kraft desto tiefer durchdrungen und zweifelloser überzeugt zu werden. Jesus Christus erblickt in dem Toten bereits den auferweckten Lebendigen. Seine ganze Seele ist Dank und Anbetung gegen seinen himmlischen Vater.

Von dem Grabe, in dem sein Freund modert, hebt Er seine Augen empor, und spricht mit himmlischem Frohsinn: „Vater! Ich danke Dir, dass Du Mich erhört hast!“ In der Entfernung hatte Er seines sterbenden Freundes in seinem Gebet zu seinem Vater gedacht schon zum Voraus um das neue Leben des Sterbenden gebeten - und nun ist Er am Grabe des Gestorbenen seiner Erhörung so gewiss, als ob Er den modernden Leichnam schon im Leben erblickte. Seine ganze Seele kann keinen Augenblick daran zweifeln, dass Lazarus durch seinen Machtruf aus dem Grabe auferstehen werde. Schon dankt Er für die väterliche Erhörung seines Gebets, das Er in der Stille in den Schoß seines Vaters ausgeschüttet hatte. Auch dieses Worts hätte es um Seiner selbst willen nicht bedürft; schon zum Voraus war Er über diese Wundertat mit seinem Vater vollkommen einverstanden. Er wusste, dass Ihn der Vater allezeit höre und erhöre. Aber um das umstehende Volk war es Ihm dabei zu tun, damit sie durch dieses Wunder fest überzeugt werden möchten: der Vater habe Ihn in diese Welt gesandt. Wer erkennt nicht in dieser vertraulichen Sprache den geliebten Sohn des himmlischen Vaters? - Wer so mit Gott sprechen kann und darf, vermag Alles im Glauben zu überwinden. So konnte und durfte es Jesus Christus, der eingeborne Sohn des Vaters. Die ernsten Gedanken der bestürzten Zuschauer sollten von dem düstern Grabe hinweg auf den Vater gerichtet werden; darum war es dem liebenden Sohne vor Allem zu tun. Die Herrlichkeit Gottes sollten sie in der großen Wundertat erblicken, welche nun vor ihren Augen verrichtet werden sollte. Der Vater sollte in dem Sohn geehrt werden - dies war die Seele aller Reden und Handlungen Jesu Christi. Wo Er diesen großen Endzweck nicht erreichen konnte, da zog Er sich zurück. Und auch jetzt war es nicht um Befriedigung der gespannten Neugierde der Zuschauer, sondern allein um die Befestigung ihres Glaubens an den Vater und an den Sohn zu tun. Er wusste, dass nur auf diesem Wege das Heil der Menschen zu Stande gebracht werden kann. Darum konnte Er auch in diesem vertraulichen Tone mit seinem Vater reden, und immerdar der Erhörung seines Gebets gewiss sein. Wer diesen Sinn Jesu Christi fasst, wird auch, wie Er, stets erhörlich beten lernen. Der lebendige Wunsch des Herzens, durch Wort und Tat in jeder Lage des Lebens nur Gott und Jesum Christum zu verherrlichen, ist die einzig gültige Grundlage eines echt christlichen Gebets. So lange es dir nur um dich selbst, und um die Befriedigung deines Willens zu tun ist, so lange wird dich um dein selbst willen der Gebeterhörende Gott nicht erhören können. Vergeblich wirst du es versuchen, mit deinem Angstgeschrei den Himmel zu erstürmen - vergeblich die Verheißungen des Wortes Gottes zu Hilfe nehmen, um dadurch das Herz deines himmlischen Vaters zur Erhörung zu bewegen; ist sein Wille nicht der Deinige, und seine Verherrlichung nicht das letzte Ziel deiner Wünsche, so flieht der Segen deines Gebets von dir, und die Erhörung ist ferne. Aber welch' ein Labsal ist dem leidenden Christen das Gebet, das Er im Sinne Jesu Christi dem Vater vorträgt! Wie manche trübe Stunde der Not wird durch seinen stillen Gebetsumgang mit seinem himmlischen Freunde aufgeheitert und geheiligt? Er ist es gewiss, dass Ihn der Vater allezeit hört, weil er allezeit im Sinne und Namen Jesu Christi betet. Diese allesvermögende Stütze wird auch unter den schwersten Leiden seinen Glauben niemals sinken lassen. In der geduldigen Unterwerfung unter den Willen seines himmlischen Vaters findet er immer Willigkeit und Kraft genug, das aufgelegte Joch zu tragen, und für die zurückgelegten Glaubensproben zu loben. Anbetung und Dank strömt aus seinem Herzen und Munde, wenn er sich an das zurückerinnert, was der HErr bereits an Ihm getan hat; und diese dankbare Erinnerung waffnet ihn mit neuem Vertrauen auf die Hilfe Gottes gegen die Widerwärtigkeiten der Gegenwart und Zukunft.

6.

Das kurze aber unaussprechlich kraftvolle Dankgebet Jesu war ausgesprochen - und die Gemüter der Umstehenden sind zum Anschauen des größten Wunders vor. bereitet. Jesus durfte bei Manchen derselben einen segensreichen Erfolg des nahen Wunders hoffen. Und nun war Alles geschehen, was zuvor geschehen musste, ehe Lazarus der Verstorbene aus dem Grabe hervorgerufen werden konnte. Nun bedurfte es nur noch eines göttlichen Machtworts, um dem modernden Freunde das Leben wieder. zugeben. Dieses erfolgt. „Lazarus, komm' heraus!“ ruft Jesus mit allmächtiger Stimme, welche die toten Gebeine des Verstorbenen und die Gemüter der Umstehenden mit unwiderstehlicher Kraft durchdringt. Und siehe! Kaum war das Machtwort des Toten-Erweckers ausgesprochen, so tritt der lebendiggewordene Freund im Sterbgewand aus der Totengruft hervor. Welch' ein erschütternder Anblick! Die ganze Versammlung ist in sprachloses Entsetzen versunken; nur Jesus unterbricht die stumme Todesstille mit dem ruhigen, frohmütigen Aufruf der freundlichen Vorsorge: „Löst ihn auf, und lasst ihn gehen!“

Seht welch' ein Mensch, welch' ein Gott ist Jesus Christus! Vor Dir beugen wir unsere Knie, allmächtiger Toten-Erwecker! Wer ist Dir gleich im Himmel und auf Erden? So Du sprichst, so geschieht's; so Du gebietest, so steht es da. Das Grab muss seine Toten wiedergeben, wenn dein allmächtiger Ruf die Gruft durchdringt; und die Verwesung muss fliehen vor deinem Angesicht. Was ist im Himmel und auf Erden, das deine Allmacht nicht vermag? Weil Du lebst, so sollen die Deinigen auch leben. Wohl uns, dass unser zeitliches und ewiges Schicksal deinen treuen Händen anvertraut ist! Was dürfen wir fürchten, wenn Du uns liebst? Wer kann wider uns sein, wenn Du für uns bist? Selbst der Tod und das Grab darf uns nicht mehr schrecken, wenn wir zu der schönen Zahl der Deinigen gehören. Zwar werden wir sterben, und verwesen; aber gewiss kommt auch uns einst die Stunde, in der dein allmächtiger Ruf unsere Totengräber durchdringen, und uns zu einem neuen ewigseligen Leben in deine Friedenswohnungen hervorrufen wird. Wir vertrauen Dir, und lobsingen deinem Namen, Du unser Oberhaupt und König! Dir gebührt Majestät und Gewalt, Herrlichkeit, Sieg und Dank! Denn Alles, was im Himmel und auf Erden ist, das ist Dein! Dein ist das Reich, und Du bist über Alles erhöht zum Obersten! Dein ist Reichtum und Ehre vor Dir; Du herrschst über Alles! In deiner Hand steht Kraft und Macht; in deiner Hand steht es, Jedermann groß und stark zu machen! - Ewig sei von uns Allen dein Name hochgelobt!

Welch' ein Augenblick, meine Teuersten! Wenn einst auch zu unsern Ohren das allbelebende Machtwort Jesu erschallen wird: „Kommt hervor aus euern Gräbern!“ Welch' ein Erwachen am großen Tage der Vergeltung! Und dieser Tag steht uns Allen bevor; wir Alle, wer wir auch sein mögen, der Große wie der Kleine, der Reiche wie der Arme, der König wie der Bettler - wir Alle werden einst weckt werden aus unsern Gräbern durch den Ruf eben des Sohnes Gottes, der hier durch seine Allmacht seinen modernden Freund aus der Totengruft hervorrief. Was werden, was müssen wir für diesen uns Alle erwartenden Augenblick uns und Andern wünschen? - Was anders, als dass dieser allmächtige Toten-Erwecker unser gnädiger Freund sein möge! Aber dieser Wunsch ist vergeblich, wenn wir nicht in diesem Leben seiner segnenden Freundschaft gewiss sind, und gesinnt zu werden suchen, wie Er gesinnt war. Sollte dieser Gedanke uns nicht aus dem Schlafe der Sicherheit und törichter Welt-Zerstreuung erwecken, und uns zum ernstlichsten Streben nach der Erreichung unserer hohen Bestimmung in Christo Jesu antreiben? Wer hier schon mit Ihm aus dem Tode der Sünde aufersteht, trägt eben durch dieses neue Leben seines Geistes das zuverlässigste Unterpfand in sich, dass einst auch sein Leib aus der düsteren Todesgruft durch die Allmacht Jesu Christi zu einem seligen neuen seligen Leben werde erweckt werden. Hoffnung für die, deren Wandel schon hier im Himmel ist! Von Dannen warten sie des Heilandes Jesu Christi, des HErrn; welcher ihren nichtigen Leib verklären wird, dass er ähnlich werde seinem verklärten Leibe nach der Hoffnung, damit Er kann auch alle Dinge Ihm untertänig machen.

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