Theremin, Franz - Es ist Euch gut, daß ich hingehe.

Theremin, Franz - Es ist Euch gut, daß ich hingehe.

Bei der Gedächtnißfeier der Verstorbenen.

Evangelium Johannes, K. 16. V. 5 -7.
Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und Niemand unter Euch fraget mich: Wo gehest du hin? Sondern dieweil ich solches zu Euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauerns geworden. Aber ich sage Euch die Wahrheit: Es ist Euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu Euch. So ich aber hingehe, will ich ihn Euch senden.

Unter denen, die sich hier versammelt haben, das Andenken der Entschlafenen zu feiern, sind gewiß Manche, die nicht Belebung dieses Andenkens bedürfen - denn es lebt ja in ihnen! - sondern Trost bei dem tiefen Schmerze, der sie erfüllt. Und dieß sind wohl nicht ab lein Solche, die in diesem Jahre oder in den letzten Monaten desselben einen geliebten Todten zur Erde bestattet haben, sondern es mögen auch Manche darunter seyn, die seit dem Augenblicke des bittern Verlustes schon mehrere Jahre zählen. Dieser Trost, den sie bedürfen, möchte er ihnen zu Theil werden, nicht wie die Welt, sondern wie das Evangelium ihn gibt; nicht durch Befreiung von ihrem Schmerze, sondern durch Heiligung desselben; nicht durch Rückkehr auf die Wege des irdischen Lebens, sondern durch den Eintritt in eine neue und höhere Lebensbahn; möchte der Herr ihnen diesen Trost auch heute durch meinen Dienst bereiten!

Soll mir dieß aber gelingen, theure Brüder, so dürfen wir nicht stehn bleiben bei euren Verstorbenen, sondern wir müssen hinaufgehn durch die Jahrhunderte bis zu dem Größten unter denen, die gelebt haben, und die gestorben sind; so müssen wir aus seinem Munde vernehmen, wie er seine Jünger wegen seines bevorstehenden Heimgangs getröstet hat, um uns eben so wegen des Todes der Unsrigen zu trösten. Ich habe Euch einige von diesen herzdurchdringenden Worten vorgelesen; hört sie noch einmal: Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat, und Niemand unter Euch fraget mich: Wo gehest du hin? Sondern dieweil ich solches zu Euch geredet habe, ist Euer Herz voll Trauerns geworden. Aber ich sage Euch die Wahrheit. Es ist Euch gut, daß ich hingehe. Ich verweile bei dieser auffallenden Versicherung: Es ist Euch gut, daß ich hingehe. Wenn es gut war, daß Jesus, durch den lauter Segen auf die Jünger strömte, von ihnen ging, o meine Brüder, wie sollte es nicht auch gut gewesen seyn, daß die Eurigen von Euch gingen? Warum aber gut? Welcher Grund läßt sich dafür angeben? Derselbe, weshalb das Scheiden Christi gut war; damit nämlich offenbart und aufgedeckt würde, erstlich das Elend des natürlichen Lebens; zweitens die Herrlichkeit des höheren Lebens. Dieß sollte der Trost der Jünger seyn bei dem Heimgange des Herrn; dieß soll Euer Trost seyn bei dem Scheiden von denen, die Ihr liebt.

So lange es Menschen gibt, sind wohl keine glücklicher, seliger gewesen, als die Jünger es seyn mußten, während der Herr in ihrer Mitte wandelte. Es erging ihnen, wie es Allen ergeht, die ein neues, schönes Verhältniß der Freundschaft und Liebe angeknüpft haben: das alte Leben scheint aufzuhören, und ein neues, besseres zu beginnen. Mit welcher wunderbar anziehenden und erhebenden Kraft die Gegenwart und die Worte Jesu auf sie wirkten, das sind wir, so sehr wir sie auch vielleicht wegen seiner sichtbaren Nähe beneiden, doch kaum im Stande uns vorzustellen. Die lieblichen Ufer des Sees von Genesareth, immer ihnen theuer als ihr Vaterland, als der Schauplatz ihrer gewöhnlichen Beschäftigung, in welchem ganz andern Glanze erschienen sie ihnen jetzt, wo er ihre irdische Arbeit segnete, wo Wind und Wellen seiner Stimme gehorchten, wo er vor vielen staunenden Zuhörern predigte? Und wenn sie nun mit ihm nach Jerusalem zogen und in dem Tempel standen an der Seite Dessen, der mehr war als der Tempel, und sahen, wie die Menschen theils in Verehrung und Liebe zu ihm hingezogen wurden, theils sich in ohnmächtigem Haß um ihn bewegten - welche freudige, stolze Empfindungen mußten da nicht ihr Herz erfüllen! Schon klopfte es vor Erwartung des Augenblicks, wo der gewaltige Herrscher über die geistige und körperliche Natur die Huldigung aller Völker erzwingen, und seine Jünger zu seiner Rechten stellen würde in seinem irdischen Reiche!

Wir wollen sie nicht verdammen: an ihrer Stelle hätten wir wohl eben so gefühlt. Wir wollen auch nicht verkennen, daß in diesen Gefühlen sehr viel Schönes lag, denn ihr Grund war doch Liebe und Verehrung für den Herrn. Aber wir dürfen nicht leugnen, daß sich viel natürlich Menschliches darein gemischt hatte; daß trotz der Erscheinung Jesu, der gekommen war die Herzen vom Irdischen loszureißen, ja daß eben durch diese Erscheinung das Herz der Jünger die Richtung auf das Irdische genommen hatte, und daß sie, bei dem Verlangen, hienieden Hütten zu bauen, gänzlich das himmlische Vaterland vergessen konnten. War es nicht gut, daß sie enttäuscht, und eines Bessern belehrt; war es nicht gut, daß die reinen Gefühle für Jesum von den Schlacken, die sich daran gehängt hatten, gesondert wurden?

Diese Sonderung geschah denn auch, und zwar auf eine furchtbare Weise, als Christus durch den Kreuzestod zum Vater ging: aber es war ihnen gut, daß sie geschah. Konnten sie jetzt noch irdische Hoffnungen hegen, nachdem der, auf den sie gegründet waren, einen schmachvollen Tod gefunden hatte? Konnten sie jetzt noch die Erde als ihr Vaterland betrachten, nachdem der, welcher auf sie als in sein Eigenthum hernieder kam, von ihr war verstoßen worden? Konnten sie jetzt noch Freude, Glanz und Herrlichkeit erwarten, nachdem ihr Herr aus der Freude, dem Glanze und der Herrlichkeit des Himmels, nur um zu leiden, zu kämpfen, zu sterben, hienieden erschienen war? Dulden, kämpfen, sterben - sie wußten es nun - das sey auch das Loos des Menschen auf Erden; das einzige, das Gott ihm beschieden; das einzige, das er sich wünschen soll.

Auch wir, meine Brüder, wir haben es niemals glauben wollen, so oft es uns auch gesagt worden ist, daß diese Erde nicht unser wahres Vaterland sey, baß auf ihr kein dauerndes Glück gefunden werde; wir haben, beharrlich in unserm Irrthum, sie stets für unsre Heimath gehalten, und auf ihr die Befriedigung aller unserer Wünsche erwartet. Bestärkt wurden wir in diesem Wahn, als wir die Verhältnisse geschlossen hatten, die hienieden für die schönsten gelten; nun schien uns erst unser Glück fest gegründet; nun glaubten wir uns erst berechtigt, nach allen Gütern zu streben; wir begehrten sie ja nicht so wohl für uns selbst, als um Andere, die wir liebten, damit zu schmücken und damit zu erfreuen; und selbst in der geistigen Neigung lag ein Reiz zu irdischem Verlangen. Der Herr ließ es uns zwar nicht an Erinnerungen und Warnungen fehlen; oft erhoben sich Stürme und Ungewitter; aber in unserm Hause hatten wir eine Zuflucht, wo wir dieselben bald wieder vergaßen. Oft schien auch diesen nächsten Verhältnissen eine Gefahr zu drohn; aber sie ward abgewendet, und indem wir dem Herrn dafür dankten, schlossen wir das, was er uns gelassen hatte, und Alles, was damit zusammen hing, nur immer fester an unser Herz.

Aber ein Augenblick kam, wo dieser Wahn zerstört, und wo die Vergänglichkeit der irdischen Dinge uns aufgedeckt werden sollte: das war der, wo der Tod in den Kreis der Unsrigen trat, und Einen von denen, die uns am nächsten standen, hinwegriß. Nein, ich behaupte, daß von Allem, was auf Erden geschieht, nichts als nur dieß allein uns eine nachdrückliche, eindringliche Belehrung von dem Elend des gegenwärtigen Lebens zu ertheilen vermag! Wir hatten oft gehört: Dieser, Jener sey gestorben; aber sie standen uns zu fern. Wir hatten wohl manche tief Betrübte nach einem solchen Verluste gesehn, und hatten versucht sie zu trösten: aber ihr Schmerz war doch nie ganz der unsere geworden, und das, was sie empfanden, hatten wir nie ganz nachempfinden können. Oft waren wir auf einen Leichenzug gestoßen, und hatten ihn vorüberziehn lassen, ohne zu ahnden, wie denen, die der Leiche folgten, zu Muthe seyn mochte. Der Krieger hatte Unzählige an seiner Seite fallen sehn; er war über ein von Todten bedecktes Schlachtfeld gegangen; dieß furchtbare Schauspiel erschien ihm nur, als eine seltene Ausnahme von der gewöhnlichen Regel, und belehrte ihn nicht über die eigentliche Beschaffenheit unserer Natur. Doch nun, im Schooße des Friedens und der Ruhe, nun, wo Alles sonst am glücklichsten für uns steht, nun erkrankt der Vater, der Gefährte des Lebens, das aufblühende Kind, und ehe man noch im Stande gewesen war, sich den Tod und dieß Wesen zusammen zu denken - ist es gestorben. Von Dem, dessen Einfluß unser Herz und unser Leben erfüllte, der sich so wohlthuend, beglückend, segensreich in unserer Nähe, unserem Hause bewegte, ist hienieden nichts übrig geblieben, als eine Leiche, kalt wie Eis, die aus der Aehnlichkeit mit der lebenden Gestalt sich immer mehr verwandelt in ein unbekanntes, seltsames Etwas, das auch die innigste Liebe nicht mehr auf der Oberfläche der Erde zurückhält, sondern ungezwungen ins Grab versenken läßt. Was erwartet Ihr jetzt von dem Leben? Glück? Das hieße mit Blindheit geschlagen seyn! Seht Ihr nicht, daß das Glück kaum errungen ist, als auch der, welcher es genießen, oder Einer von denen, mit welchen er es genießen will, verschwindet? Nein, thut einmal die Augen auf! Beherzigt die große Lehre, die Euch ertheilt wird! Ein Leben, wo das geschehen konnte, was Ihr so eben erfahren habt, das ist Euch nicht gegeben, um glücklich zu seyn, sondern um Euch zu einem künftigen Glücke vorzubereiten; nicht um zu genießen, sondern um zu entbehren; nicht um Euch zu freuen, sondern um Euch zu heiligen! Alle Plane, Anschläge, die sich mit dem Willen Gottes und eurem jetzigen Zustande nicht vertragen, gebet sie einmal auf, und fangt an, nach dem zu streben, ausschließlich zu streben, was sich hienieden erringen läßt! Es ist dieß etwas Großes, und wenn Ihr es genau anseht, etwas Größeres als das, worauf Ihr Verzicht leisten müßt. Und nun sagt selbst, ob es nicht gut und heilsam war, daß Ihr diese nachdrückliche Belehrung über die Nichtigkeit der irdischen Dinge erhieltet, und diese mächtige Aufforderung, eurem Verlangen eine andere Richtung zu geben?

Wenn dieß gut ist, wendet Ihr ein, so war es ja nicht gut, daß wir eine Zeitlang diese Belehrung entbehrten, eine Zeitlang besaßen was wir nun verloren haben, eine Zeitlang glücklich waren? Beides war gut, meine Brüder! Es war den Jüngern gut, daß der Herr unter ihnen lebte, aber auch, daß er von ihnen ging. Es war Euch gut, das Beste, was es hier auf Erden gibt, kennen zu lernen, aber auch es zu verlieren. Das Verschiedenste, sobald es von Gott kommt, ist gut, ein jegliches gerade zu der Zeit, wo er es sendet.

Doch die Tiefen des menschlichen Elends wurden den Jüngern durch den Tod des Herrn noch von einer andern Seite geöffnet. Warum ging er von ihnen? Hing es nicht von ihm ab, zu gehn oder zu bleiben? Und wenn er zum Vater zurückkehren wollte, von dem er gekommen war, weshalb kehrte er gerade mittelst des Kreuzes zu ihm zurück? Was lag hier für ein schauervolles, entsetzliches Geheimniß verborgen? Das Geheimnis! der Sünde! Nein, niemals hätten die Apostel, niemals hätten wir nach ihnen, erkannt, wie es um uns sieht, wenn nicht Christus gestorben wäre! Niemals wären sie und wir, ohne dieß furchtbare Heilmittel, inne geworden, wie furchtbar das Uebel sey, an welchem wir krank liegen! Wie nahe mußten wir dem ewigen Tode gebracht seyn, da wir nur durch den Tod Dessen gerettet werden konnten, der frei vom Tode war! Nun fassen wir erst, wie elend wir sind. Daß kein vollkommnes Glück hienieden zu finden ist, daß auch das Beste und Theuerste so schnell verschwindet, dieß ist noch nicht das Schlimmste in unserm gegenwärtigen Zustande; denn man könnte ja denken, daß dieser Wechsel uns unverschuldet träfe, und daß wir besser wären, als unser Schicksal. Aber nun sind wir eines Andern belehrt. Es ist nicht nur hier kein Glück zu finden, sondern daß keins zu finden ist, das ist unsre Schuld! Es gibt nicht nur Trübsale, sondern die Trübsale sind verdiente Strafen, und wir hätten noch viel größere verdient. War es nicht gut, daß die Jünger, und daß wir dieß erführen? Um uns aus dem Elend und dem Jammer, worin wir versunken sind, zu erretten, ist dieß der erste nothwendige Schritt, dieß das erste unerläßliche Mittel: dieses Elend, diesen Jammer, und seinen Ursprung recht zu kennen. Er ward den Jüngern aufgedeckt durch den martervollen Hingang des Herrn; und darum war es ihnen gut, daß er hinging.

Diese große Lehre, welche sie selbst durch das Kreuz Jesu Christi, und durch die Wirkung seines Geistes empfingen, sie haben sie uns an unzähligen Stellen in ihren Schriften hinterlassen, und die Kirche, in der wir geboren sind, hat uns dem gemäß von unsrer Jugend an verkündet, daß wir allzumal Sünder sind, die des Ruhms ermangeln, den sie an Gott haben sollten, und die größten Strafen hier und jenseits verdienen. Dieß hören wir, so früh wir nur fähig sind, etwas zu hören; aber wir glauben es nicht. Es wird uns gepredigt, aber es geht an uns vorüber, wie ein leerer Schall. Wir predigen es wohl selbst; aber haben es dennoch nicht begriffen, nicht gefühlt. Wir haben wohl selbst den Tod der Sünden Sold genannt, und haben nicht gewußt, was mit Tod und mit Sünde gemeint sey. Da wird uns denn der Sinn und die Bedeutung des Todes Jesu Christi durch den Tod der Unsrigen enthüllt. Ein Mensch, den wir über Alles ehrten und liebten, ist gestorben. Er - und die Sünde, das schien uns so weit aus einander zu liegen. Er hatte es uns vielleicht selber gelehrt, daß alle Menschen Sünder sind, aber wir hatten immer stillschweigend ihn von der Regel ausgenommen. Was hat nun dem Tode Macht gegeben, ihm zu nahen und diesen Tempel Gottes zu verwüsten? Die Sünde allein; und wir, und andre Menschen wären von ihr frei, da dieser es nicht gewesen ist? Wenn man sich nicht abstumpfte gegen den natürlichen Eindruck des Todes, wenn man nicht absichtlich die Blicke wegwendete von den Tiefen, die sich dann öffnen, so würde man einsehn, daß dieß Brechen der Augen, dieß Erstarren der Glieder, diese eisige Kälte, die sie durchzieht, diese Schrecken der Verwesung, dieß Grab, worein man vergräbt und dem Auge entzieht, was kein Auge mehr sehen mag - daß dieß nichts Anders ist, nichts Anders seyn kann, als Strafe der Sünde. Und um diesen Todten, dieses Grab sieht dann auch wohl Einer oder der Andere und denkt: Warum trifft nun mich gerade dieser Schlag? Warum muß ich mit diesem Einen Schlag Alles, was ich Glück nannte, zusammenstürzen sehn? Warum? Ich frage? Habe ich es etwa nicht verdient? Ruft mir nicht mein Gewissen zu, daß ich schuldig bin? Und wenn ich von hier herab, wo ich siehe versunken in meinen Gram, gestürzt würde in immer tiefere, bodenlosere Schmerzen, von einem Abgrund in den andern, dürfte ich mich beschweren? - Solche Gedanken, meint Ihr vielleicht, wenn sie zum Grame hinzu kommen, die erträgt man nicht, die müssen den Geist verwirren! Ich habe noch nie gesehn, meine Brüder, daß man die Wahrheit nicht ertragen, oder daß die Wahrheit den Geist verwirrt hätte. Diese Vorwürfe sind Wahrheit, sind eine für das Heil unsrer Seele unentbehrliche Erkenntniß; und also war es auch gut, daß wir dazu gelangten; und also war es auch gut, daß die Unsrigen starben, denn ohne ihren Tod hätten wir wohl niemals, was wir jetzt erkennen und fühlen, so erkannt und so gefühlt.

Du hast uns Trost versprochen, sagt hier vielleicht Jemand, und statt dessen steigerst Du unsern Schmerz. Das thue ich freilich, weil ohne diese Steigerung der Schmerz nicht zu heben ist, wie die Wunde oft noch tiefer geschnitten werden muß, ehe der lindernde Balsam darauf gelegt werden kann. In dem Einen Unfall, der uns getroffen hat, müssen wir das ganze Elend unsers gegenwärtigen Zustandes, die ganze, tiefe Verderbtheit unsers Herzens beklagen und beweinen: dann sind wir auf dem Wege, einen wahrhaft segensreichen Trost zu finden. Ihr thut also nicht wohl, mir vorzuwerfen, daß ich euren Schmerz zu steigern suche; ich hingegen kann Euch mit Recht vorwerfen, daß Ihr mit dem Schmerze eine zu leichte Abkunft trefft. Es ist doch nun einmal nicht anders, denken Manche unter Euch in solchen Fällen, der Herr hat es in seiner Gnade gethan, man muß sich freuen und nicht weinen. Darauf trocknen sie die Augen; gehen hin, als wenn nichts begegnet wäre, und bleiben was sie gewesen sind. Alle diese Trostgründe sind wahr, aber nur an der rechten Stelle, nur für den, welcher alle Tiefen des Schmerzes ergründet, und in denselben den Segen der Selbsterkenntnis! gefunden hat. Darum sollen wir ihn nicht aufgeben, ehe er uns nicht zu diesem Ziele geführt hat; dann ist er unter allen göttlichen Gaben für uns die heilsamste hienieden, und in dem Schmerze selbst liegt ein Trost für den Schmerz.

Doch nicht nur das Elend des natürlichen Lebens soll durch den Tod Christi und der Unsrigen uns offenbart und aufgedeckt werden, sondern auch die Herrlichkeit des neuen höheren Lebens.

Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und Niemand unter Euch fraget: Wo gehest du hin? Sondern dieweil ich solches zu Euch geredet habe, ist Euer Herz voll Trauerns geworden. Voll Trauerns: wie sollte es nicht? Ich, den Ihr liebt, gehe hin, und durch meinen Tod werdet Ihr in alle Tiefen des Schmerzes geführt. Aber Ihr habt Unrecht, daß Ihr immer in diesen Tiefen verweilt. Habe ich Euch nicht gesagt, daß ich zu Dem hingehe, der mich gesandt hat? Und Niemand unter Euch fraget: Wo gehest du hin? Niemand faßt das Ziel meines Heimgangs in's Auge? Ich gehe hin zwar durch das Kreuz und den Tod, aber dadurch zum Himmel, zu meinem Vater! Hättet Ihr mich lieb, so würdet Ihr Euch freuen, daß ich gesagt habe, ich gehe zum Vater; denn bei dem Vater ist es besser, als hier.

Auch Euer Herz ist voll Trauerns, meine Brüder. Schon als Ihr kamt, dachtet Ihr derer, die Ihr vor kurzer oder längerer Zeit verloren habt; die herzzerreißenden Umstände ihres Todes, ihrer Bestattung gingen an Euch vorüber. Ihr erwartetet Trost von mir; aber ich habe bisher nichts Anders gethan, als Euch noch mehr in die Tiefen des Schmerzes hineinzuführen, indem ich Euch die Tiefen des menschlichen Elends aufdeckte. Der Herr will jedoch nicht, daß wir hierbei stehn bleiben. Ich habe es Euch gesagt, spricht er, daß eure Verstorbenen zum Vater gehn und zu mir; und Niemand unter Euch fragt: Wo sie hingegangen sind? Niemand unter Euch vergißt, was er verlor, um das ins Auge zu fassen, was sie gewonnen haben! Von dem Sterbebett, wo Ihr sie umringtet, wo Ihr die größten Erdenschmerzen empfandet, und wo sie die letzten fühlten, wo ihre Seele sich losriß von dem Leibe, der nun kalt und starr zurücksank, - von dort sind sie gegangen durch das dunkle Thal des Todes, doch an der Hand eines sicheren Führers, und dann höher und immer höher hinauf zu der Stätte, die er ihnen bereitet hat. Ach! das begreift und ermißt Niemand, wie gnädig er gegen diejenigen seyn will, die hier für seine Gnade empfänglich waren, durch welche Liebeserweise er ihre Liebe gegen ihn vergelten will! Ihr waret gern und froh um den alten Vater versammelt, und er hat durch Euch noch in den letzten Jahren seines Lebens viele Freude gehabt: aber was war es gegen das, was ihm jetzt zu Theil geworden ist, wo die Seele, ungehindert durch die alternde Hülle, denkt und empfindet, und wo der Herr selbst, der Allmächtige, statt Eurer die Sorge ihn zu erfreun und zu erquicken übernommen hat! Was ist alle häusliche Glückseligkeit, die Ihr dem Lebensgefährten bereiten, was sind alle Kränze der Freundschaft und Liebe, die Ihr ihm darbieten konntet, gegen die Seligkeit, die er im Hause des ewigen Vaters genießt, und gegen die Krone des ewigen Lebens, die er trägt? Und euer Kind - ach! Ihr denkt Euch wohl nicht, wenn Ihr es so bitter beweint, und Euch in unaufhörlicher Angst und Unruhe quält, Ihr denkt Euch wohl nicht, wo es hingegangen ist? Fort von hier, wo so viel Versuchungen seine Unschuld bedrohten, wo seine Erziehung nicht immer von treuen, oder doch nicht immer von einsichtsvollen Händen wäre geleitet worden - hin zu seinem Heiland, der gesprochen hat: Laßt dieß Kind zu mir kommen, daß ich es behüte und bewahre, und meinen Engeln den Auftrag gebe, es für das Leben des Himmels auszubilden. Dächtet Ihr daran, fragtet Ihr danach, so würdet Ihr plötzlich emporgetragen werden aus Kummer und Gram zu Freude und Wonne; emporgetragen aus einem Sterbegemach zum Himmel, und neben dem Elend eures natürlichen Lebens empfändet Ihr schon die Herrlichkeit des neuen Lebens, das Jene zu führen angefangen haben.

Aber auch Ihr sollt ein neues und herrliches Leben zu führen anfangen; es soll Euch aufgedeckt werden nicht nur an jenen, indem Ihr es von fern im Geiste schaut, sondern an Euch selbst und durch eigene Erfahrung. An uns, fragt Ihr seufzend, wie wäre das möglich? Die Schönheit unseres Lebens, des äußern wie des innern, ist verschwunden mit jenen, die seine Stützen waren. Es war ja nicht allein Erheiterung und Freude, was wir aus ihrem Umgang schöpften; wir fanden ja auch Erbauung in ihrem Beispiel, Bereicherung unseres Innern in der Mittheilung ihrer Gedanken, sichere Anleitung zur Führung eines gottseligen Lebens in ihrem Rathe. Das ist nun Alles dahin, und wir dürfen nicht erwarten, uns zu erheben, sondern müssen fürchten zu sinken.

Es ist Euch gut, daß ich hingehe, sprach Jesus zu seinen Jüngern. War jemals ein Mensch im Stande, durch seine Gegenwart und durch sein Beispiel segensreich auf Andere einzuwirken, so war Er es. Und dennoch versicherter: es sey gut, daß er hingehe, es sey den Jüngern heilsam, diese Anleitung, die Ermunterung, der nie eine andere auf Erden gleich gekommen ist - zu verlieren. Warum? Aus folgendem Grunde: Der Mensch muß einmal lernen, ohne sichtbaren Beistand auf dem Wege des Lebens zu wandeln; ist er dazu reif und fähig, so müssen ihm die bisherigen Stützen genommen werden; denn sie würden ihm, wenn er sie behielte, mehr schaden als nützen. Die Jünger sahen mit ihrem Auge den Helfer, dessen der Mensch zwar immer bedarf, den er aber nicht mit dem leiblichen, sondern mit dem Glaubensauge schauen soll. Er verließ sie, und nun gewöhnten sie sich einherzugehen auf den Wogen und im Sturmwind, wo ihnen keine sichtbare Hand entgegengestreckt ward, wo aber eine unsichtbare Hand, welcher sie vertrauten, sie hielt und beschützte.

So lange wir der Stützen und der sichtbaren Hülfe bedurften, hat es der Herr in seiner Gnade auch uns nicht daran fehlen lassen. Wir hatten verehrte Eltern, und der Wunsch sie zu erfreuen, war für uns ein mächtiger Antrieb zur Entwickelung unserer Kräfte, zur Thätigkeit; wir knüpften andere Verbindungen, in denen eine Fülle geistiger Bedürfnisse ihre Befriedigung fand. Wenn Sorge und Kummer uns drückte: wie bald verschwanden sie im vertrauten Gespräche! Wenn wir von der Arbeit unsers Berufes zurückkehrten, wenn wir die Kälte und die Kränkungen der Menschen, wenn wir die geistlosen aber unvermeidlichen Zerstreuungen der Welt ertragen hatten: welche Entschädigung fanden wir in unserm Hause; welche Ruhe und Freude in unserm Familienleben! Unser Gefühl von der Nähe des Herrn, von seiner Gnade und Liebe, wie ward es erhöht, wenn wir mit Andern gemeinschaftlich ihm für seine Wohlthaten danken konnten! Dieß Alles war gut; es war gut, daß wir es besaßen; aber es ist auch gut, daß es uns entzogen ward. Wir muffen einmal lernen, Alles, was wir bedürfen, ohne Werkzeuge, ohne Vermittelung, allein aus der Gnade des Herrn und aus seiner unsichtbaren Gegenwart zu schöpfen; unsern Kummer und unsere Sorgen, wenn wir sie in kein anderes Herz ausschütten dürfen, ihm allein darzubringen, und sie zu verscheuchen allein durch die Unterredung mit ihm. Wir müssen lernen, wenn wir aus der leeren und öden Welt zurückkehren in unser leeres und ödes Haus - dort keinen andern Umgang zu begehren, als den Umgang mit dem Herrn, der dem Einsamen entgegenkommt. Wir müssen lernen, wenn alle andere Ermunterung uns fehlt, uns an seiner Gnade genügen zu lassen, und uns allein durch sein Vorbild zu stärken.

Es fällt mir hier ein Gleichniß ein, wodurch ich das, was ich meine, vielleicht deutlicher machen kann. Das Kind soll gehen lernen, weil es sonst zur Thätigkeit des irdischen Lebens unfähig und ungeschickt bleiben würde. Es werden dazu mancherlei Vorübungen mit mancherlei Hülfsmitteln angestellt. Wenn es einigermaßen auf seinen Füßen stehen kann, so faßt die Mutter es bei der Hand, und auf diese gestützt, muß es die ersten Schritte wagen. Es gelingt, und nun kann man schon etwas Schwereres von ihm verlangen. Die Mutter stellt es hin, und sie selbst kniet in geringer Entfernung mit ausgestreckten Armen nieder. Nur diese kleine Strecke soll es durchlaufen, zwar ohne die gewohnte Hülfe, aber doch immer bewacht von der Mutter, die es durch ihre ausgebreiteten schützenden Arme vor dem Fallen bewahret. Sie fordert es auf, zu kommen; bald ist der Lauf vollendet und es liegt wieder an ihrer Brust. Unsre theuren Angehörigen und Freunde sind die Arme der Mutter, oder vielmehr die Gnadenwerkzeuge des himmlischen Vaters, unsre ersten wankenden Schritte auf der Bahn des ewigen Lebens zu unterstützen. Können wir sie entbehren, so werden sie uns genommen; aber unsichtbar bleiben um uns ausgespannt die Arme des himmlischen Vaters. Wohlan! Nur ein kurzer Weg muß noch zurückgelegt werden - dann liegen wir an seiner Brust, dann empfangen uns die Arme der Unsrigen, die bei ihm sind.

Die Apostel zeigten, nach der Heimkehr Jesu, daß sie gehen gelernt hatten auf dem Wege, der zum Himmel führt, und der Jesus selber ist. Und wenn auch der Herr den Petrus nicht mehr bei der Hand ergriff, dennoch schritt er daher unter gefahrvolleren Stürmen als damals, ohne zu fliehen, ohne zu verleugnen, ohne sich vor Ketten und Banden, ja ohne sich vor dem Kreuzestode zu fürchten. Und wenn auch der Herr den Johannes nicht mehr erinnerte: Ihr wißt nicht, weß Geistes Kinder ihr seyd; und wenn er auch nicht mehr als Muster der Demuth ein Kind unter sie hinstellte: Johannes lehrte Liebe und Demuth durch Wort und durch That. Man kann, nein wahrlich man kann es nicht beklagen, daß Er von ihnen geschieden war; denn bei ihrem freimüthigen Bekenntniß, bei ihrer Liebe zu ihm, in welcher sie leben und sterben; bei den Leiden, die sie um seinetwillen so gern übernehmen, so freudig dulden, war Er ihnen näher, gegenwärtiger als sonst, da er noch unter ihnen wandelte. Das Leben, das sie führten ohne ihn, war höher als das, welches sie mit ihm führten.

Wir haben es ausgesprochen! Und was da galt von den Jüngern in Beziehung auf Christum, möchte es auch von uns in Beziehung auf unsre Verstorbenen gelten; möchten auch wir ein höheres Leben ohne sie, als mit ihnen, führen! Das Leben mit ihnen, es war um eine Stufe höher, als das frühere; und das jetzige, es sey wieder ein Fortschritt zu einer höhern Stufe! Das Leben der Entbehrung und des Verlustes ist überhaupt dem himmlischen näher, als das Leben des Genusses und des Besitzes. Der Glückliche hängt durch sein Glück, und wenn es auch das reinste und schönste ist, doch mit der ganzen übrigen Welt zusammen, und seine Gefühle werden gar leicht in die Richtung geleitet, welche die Gefühle der Menschen zu nehmen pflegen. Ist dasjenige dahin, wodurch alles Uebrige seinen Werth erhielt, nun so fahre denn auch die ganze Welt dahin, und nichts, gar nichts stelle sich mehr zwischen uns und den Herrn. Hinein in die tiefsten Tiefen der Selbstkenntniß, der Entsagung und des geistigen Todes; hinauf zur höchsten Höhe der geistigen Gemeinschaft mit Jesu! Wer das erfahren hat, was wir erführen, der darf vor keiner Tiefe und vor keiner Höhe mehr zagen! Und unser Beispiel mache Alles, was man von der Trennung spricht, die der Tod bewirken soll, zur Fabel und zur Lüge, indem es zeigt, daß die, welche wir verloren haben, stets die Gehülfen unsers Glaubens und unserer Frömmigkeit, und in diesem höchsten und besten Sinne, uns näher sind als sonst.

Näher als sonst? fragt Ihr. Das mag Christus für die Jünger gewesen seyn. Aber sind es unsre Hingeschiedenen für uns? Christus war und blieb bei den Seinigen alle Tage bis an der Welt Ende. Christus sandte ihnen den Geist, wie er denn in unserm Texte sagt: So ich nicht hingehe, kommt der Tröster nicht zu Euch; so ich aber hingehe, will ich ihn Euch senden. In den Wirkungen seines Geistes war er stets ihnen nahe, und durch diesen höhern Beistand, für den sie früher nicht empfänglich waren, geschah diese große, heilsame Umwandlung ihres äußern und innern Lebens. Aber unsre Hingeschiedenen, was können die uns senden, was können die für uns thun, ja was wissen die von uns! Was sie von uns wissen? Gar viel! Die da Gott von Angesicht schauen, wie sollten sie nicht auch außer Gott dasjenige schauen, was ihnen theuer war, und stets theurer werden muß, je mehr sie sich in das himmlische Meer der Liebe versenken? Einen Haufen, eine Wolke von Zeugen gibt es dort, wie der Apostel uns lehrt, welche auf diejenigen theilnehmend hinabblicken, die hienieden laufen in den Bahnen des ewigen Lebens; unter diesem Haufen, dieser Wolke sind auch unsre Hingeschiedenen, und sie bemerken auch uns, unter der Menge derjenigen, die strebend und kämpfend das Ziel zu erreichen suchen, wo die Krone des Lebens winkt. Sie beten für uns! Ist es gewiß, daß sie uns sehen, so ist es auch gewiß, daß sie für uns beten. Sie haben es hier gethan; ach! wie viel geistige und irdische Segnungen verdankten wir schon damals ihrem Gebet! Sie thun es jetzt noch im Himmel, thun es viel kräftiger und brünstiger als hier auf Erden: denn dort haben sie erst recht das Wesen jeder Tugend und auch des Betens gelernt. Dadurch sind sie uns nahe; dadurch wirken sie für uns; dadurch erkämpfen sie uns unermeßlichen Segen. Es ist doch jetzt zuweilen ein wunderbarer Friede in unserer Brust, den wir sonst nicht kannten; es geht doch jetzt mit uns vorwärts auf dem guten Wege - ja, meine Brüder, ich spreche es aus im Namen aller durch einen Verlust gebeugten Herzen, und hoffe zu Gottes Gnade, daß ich in Beziehung auf keinen mich irre - es geht vorwärts mit uns auf dem guten Wege: die Wirkung ist dieß von dem Gebete unsers theuren Hohenpriesters Jesu Christi, in dessen Gebete aber auch die unserer theuren Hingeschiedenen zusammengefaßt sind.

Ich habe genug gesprochen. Jetzt möchte ich, meine Brüder, daß auch in eurem Herzen sich eine Stimme erhöbe; daß Ihr eurer Verstorbenen gedächtet, und dann mir nachsprächet, was ich Euch vorsprechen will: Es ist gut, daß sie hingegangen sind, gut für sie und gut für uns. Wir haben es ausgesprochen, o Herr, es ist uns schwer geworden; aber es ist geschehn, und dieser Ruf in den Tiefen unserer Herzen soll nie verstummen. Es war dein Wille, sie uns zu nehmen; dieser Wille war gut, und als solchen hätten wir ihn preisen müssen, auch ohne ihn zu verstehn. Wir verstehn ihn jetzt wenigstens zum Theil; und wir sprechen mit Ueberzeugung in Rücksicht auf ihren Tod, was Du, o Herr, bei Erschaffung der Welt gesprochen hast: Es ist gut, es ist sehr gut. Gib denn, o Herr, daß dein guter Wille in seinem ganzen Umfange an uns in Erfüllung gehe. O es wäre schrecklich, wenn solche schreckliche Schmerzen vergeblich wären, wenn wir für sie einen andern Trost suchten, also unsre Heiligung und als Dich, o Herr! Sey Du uns Alles; sey Du unser Führer auf unserm einsamen Wege, und leite ihn also, daß wir dereinst Dich schauen von Angesicht, und neben Dir diejenigen finden, die früher als wir, zu deinem Anschaun reif gewesen sind. Amen.

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