Nielsen, Fredrik Kristian - Die Waldenser in Italien - I.

Im Jahre 1215 hielt Innocenz III., einer der mächtigsten Päpste der römischen Kirche, in seiner Hauptstadt eine große Kirchenversammlung. Über tausend hohe Geistliche, Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte trafen hier zusammen, und die Versammlung ward eine der glänzendsten, welche die Christenheit je gesehen hat; stand doch damals das Papsttum auf dem Gipfel seiner Macht. Es machte sich geltend als die Sonne, von der das Kaisertum und jede andere weltliche Macht ihr Licht borgte; und dieser Glanz und durchgreifende Einfluss des Papsttums kam in allen Ländern den Bischöfen und der ganzen Geistlichkeit zugute. Welche Stelle damals die Bischöfe im Bewusstsein der Völker einnahmen, wird man aus einem einzelnen kleinen Zuge entnehmen können, welcher uns aus den Tagen der erwähnten Kirchenversammlung aufbewahrt worden ist. Unter den Prälaten, die nach Rom gekommen waren, befand sich auch der hochgeborene Bischof von Lüttich. Dieser zeigte sich dort zuerst als Graf im Scharlachmantel, bei der nächstfolgenden Gelegenheit in der grünen Herzogstracht, zuletzt aber im - bischöflichen Ornate; denn ein Bischof bedeutete mehr als ein Graf oder Herzog. Die Pracht, welche die Kirche entfaltete, blendete zwar viele; aber sie erregte doch auch viel Ärgernis. Ringsumher in den Ländern glomm der Unmut über den Glanz, mit dem die Kirche sich umgab und der in so schreiendem Widerspruch stand mit der Armut und Einfachheit der apostolischen Zeit; und gerade jene stolze Kirchenversammlung, welche den Höhepunkt der kirchlichen Macht bezeichnet, ist die erste, welche strenge Beschlüsse den Ketzern gegenüber, und namentlich solchen gegenüber fassen musste, deren Ketzerei hauptsächlich darin bestand, dass sie mit der Forderung hervortraten: die Kirche Christi solle das Bild der armen apostolischen Gemeinde an sich tragen.

Das Konzil beschloss unter anderem, dass, wer ohne Erlaubnis des Papstes oder eines rechtgläubigen Bischofs sich herausnehme zu predigen, in den Bann getan werden solle. Mit dieser Verfügung wollte man besonders einige arme, aber fromme Männer treffen, welche in den Landschaften, wo man provenzalisch sprach, immer je zwei, umherzogen. Worin ihre Schuld bestand, erfahren wir aus einer kleinen, gegen sie gerichteten Schrift, welche aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammt1). In dieser Schrift heißt es von ihnen, dass sie sich besonders gut darauf verstehen, in der Verborgenheit zu bleiben, also dass man an Orten, wo sie sich in großer Anzahl befinden, gar keine vermutet; und gerade dieses ihr geheimes Tun und Treiben mache sie besonders gefährlich und einflussreich. Sie gehen in mancherlei verschiedener Kleidung umher und sehen aus wie andere Leute; sie tun aber alles, was sie können, um Anhänger zu gewinnen, namentlich angesehene und vornehme Frauen, damit diese dann auf ihre Gatten und anderen männlichen Anverwandten einwirken. Kleine Mädchen lehren sie Sprüche aus den Evangelien und den neutestamentlichen Briefen, und suchen einfältige Leute zu fangen. Sie fangen damit an, dass sie zu jemand sprechen: „Du scheinst mir wohl aufgelegt, Großes auszurichten vor dem Angesicht Gottes, wäre nur einer da, der den Weg der Wahrheit dir zeigte.“ Und nach einer solchen Einleitung reden sie viel von Keuschheit, Demut und anderen Tugenden, und rücken heraus mit Worten Christi und der Apostel, so dass die Leute glauben: „sie hören nicht einen Menschen, sondern einen Engel vom Himmel“. Wenn ihre Worte auf den Zuhörer tieferen Eindruck machen, so geben sie ihm den Rat, in der Stille dieselben bei sich zu hegen und zu bewegen; und nachher lehren sie ihn mehr Gebete und Schriftsprüche, um zu prüfen, wie lernbegierig diese neuen Anhänger seien. Haben sie sich überzeugt, dass die Person, die unter ihren Einfluss getreten ist, gelehrig und auch imstande ist reinen Mund zu halten, dann gehen sie in ihrem Unterricht weiter. Dann erzählen sie: ihre eigenen Leute seien heilige und schriftgelehrte Leute, die den rechten Weg kennen und diesen auch wandeln. Aus den Worten Christi und der Apostel zeigen sie, wie ein Christ ein heiliges Leben führen soll, in der Nachfolge Christi; und hieraus wird es dann deutlich, wie der Papst und seine Bischöfe und Priester, welche die Schätze dieser Welt besitzen und welche der Heiligkeit der Apostel so wenig gleichen, nicht die wahren Hirten der Kirche seien, sondern unwürdige Mietlinge, die, selbst unrein, andere nicht zu reinigen, selbst Sklaven der Sünde, andere nicht von Sünden los und frei zu machen taugen. Ja, sie gehen so weit, dass sie behaupten: die Priester halten nur dazu die Laien unterm Joche, um den Zehnten von ihnen zu bekommen, und überhaupt ihres Vorteils halber. Sie nennen die römische Kirche die babylonische Hure und halten dafür, dass die Christen nicht alles das zu beobachten haben, was nach Christi Himmelfahrt den Christen auferlegt worden sei, und was nicht ausdrücklich im Neuen Testament genannt werde. Alle die vielen Feste der Kirche, Fasten und andere kirchliche Verordnungen verwerfen sie; Bischöfe, Priester, Mönche nennen sie „Schriftgelehrte und Pharisäer“, und an die Wandlung im heiligen Abendmahl glauben sie nicht. Jedoch sind sie weit entfernt, das Abendmahl selbst zu verwerfen. Sie wollen es am liebsten dann genießen, wenn es von einem „guten Manne“ gespendet werde; und bei ihren Zusammenkünften pflegen sie das Sakrament zu genießen, nachdem die Worte des Evangeliums von Christi Abendmahlsfeier vorgelesen sind. Sie weigern sich, einen Eid abzulegen, und sind Gegner der Todesstrafe; ja, sie tragen sogar Bedenken, Tiere zu töten. Auf weltliches Eigentum, Geld und Gut legen sie keinen Wert. Einige sind unter ihnen, die als die Vollkommenen bezeichnet werden: das sind solche, die allen Gütern der Welt, auch der Ehe, entsagt haben und allein für das Reich Gottes leben. An das Fegefeuer glauben sie nicht, und verwerfen daher die Seelenmessen. Sie behaupten, dass die Heiligen die Gebete der Menschen nicht hören und dass sie nicht für uns beten. Wo sie es dürfen, schämen sie sich nicht, auch sonntags ein wenig zu arbeiten. „Wenn Arbeiten etwas Gutes ist“, sagen sie, „so kann es keine Sünde sein, an einem Festtag etwas Gutes zu verrichten.“ Vom Alten Testament haben sie eine eigentümliche Ansicht, indem sie sagen, dass vieles in demselben seine Bedeutung verloren habe, als das Evangelium in die Welt kam.

Dem Glauben legen sie ein großes Gewicht bei. Etliche von ihnen hegen sogar Bedenken gegen die Kindertaufe, weil sie mit der Vorstellung, dass kleine Kinder Glauben haben sollten, sich nicht vertragen können. Und alles, was sie in solchem Sinne vorbringen, bestätigen sie durch die Zitate aus den Kirchenvätern, namentlich Augustin, Hieronymus, Gregor dem Großen, Ambrosius, Chrysostomus und Isidor von Sevilla. Sie verstehen in der Mundart des Volkes zu reden, und sowohl Stücke des Neuen Testaments als auch der Väter besitzen sie in Übersetzungen.

Vorstehende Schilderung scheint die Frucht verschiedener Ketzerverhöre zu sein. Die gegen diese „Ketzer“ erhobene Anklage läuft, wenn wir sie in Kürze zusammenfassen wollen, darauf hinaus, dass sie auf das Neue Testament größeres Gewicht legten, als jene Zeit im Allgemeinen tat, so dass überhaupt die Schrift ihre Regel und Richtschnur war, und darauf, dass sie bei Kleinem schon anfingen, von der Rechtfertigung aus dem Glauben zu reden. Und gerade diese zwei Eigentümlichkeiten sind es, derentwegen jene „Armen“ des Mittelalters als Glieder gelten dürfen in der Reihe der Wahrheitszeugen, die immer zahlreicher und entschiedener hervortreten, je mehr wir den Tagen Luthers und Calvins uns nähern; und aus diesem Grunde blicken alle, die im Glauben der Reformation stehen, mit Ehrfurcht und Teilnahme auf jene schlichten Männer des Volkes zurück, die frühe einsahen, dass viele Lehren der römischen Kirche unter „die Papstlügen und Mönchsträume“ gehörten.

Aber wie hießen diese Leute, und woher kamen sie? Die „Armen von Lyon“, dieses war an den meisten Orten der unterscheidende Name, der ihnen beigelegt wurde; sie selbst nannten sich „wahre Christen“, „die Gottesarmen“ und „Gottesfreunde“, ein Name, der zum ersten Male uns hier begegnet, der aber nach her, im späteren Mittelalter, die Bezeichnung ward für viele Kreise frommer, stiller, nach innen gekehrter Seelen. Sie hießen aber auch Waldenser (Vaudois, lateinisch Valdenses). Dieser Name weist zurück auf einen frommen Bürger zu Lyon, Valdez, welcher zu der ganzen Bewegung den ersten Anstoß gegeben haben soll. Dieser Valdez, welcher ein Kaufmann gewesen zu sein scheint, wurde ungefähr ums Jahr 1170 zu christlichem Glaubensleben erweckt. Er hatte in der Kirche die evangelischen Lesestücke vorlesen hören, fühlte aber ein Verlangen, mehr von dem Inhalt der Heiligen Schrift kennen zu lernen. Er trat hierauf in eine nähere Gemeinschaft mit zwei Priestern von verwandter Geistesrichtung: der eine sollte die Evangelien in die Volkssprache übersetzen, der andere Abschriften derselben machen. Von den Evangelien gingen Valdez und seine priesterlichen Freunde zu anderen Büchern des Neuen Testaments und zu den Kirchenvätern über: denn für Valdez galten die Väter als die beste Hilfe zur Erklärung der Schrift, und es war ihm undenkbar, dass ein Widerspruch stattfinden könnte zwischen der Schrift und den alten Lehrern der Kirche. Was nun auf solche Weise übersetzt war, das las Valdez oft und fleißig, und „er prägte es seinem Herzen ein“. Er fing an, fromme und gottesdienstliche Versammlungen zu halten, und andere folgten seinem Beispiel. Seit dem Jahre 1199 hören wir von andächtigen Zusammenkünften zu Metz. Man las die Schrift und redete über das Vorgelesene. Und überall, wo solche Versammlungen stattfanden, folgten auch religiöse Erweckungen. Jedoch begnügten Valdez und seine Freunde sich nicht damit, die Schrift zu lesen, sondern sie fragten dabei sich selbst: was fordert das Wort Christi von mir? Und sie beschlossen, „in evangelischer Vollkommenheit wie die Apostel“ zu leben. Besonders waren es zwei Aussprüche Christi, die sie befolgen wollten, indem sie dadurch am besten zur Vollkommenheit zu gelangen glaubten. Der eine war die Antwort des Herrn an den reichen Jüngling: „Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen“ (Matth. 19,21); der andere der Befehl des Herrn an die Apostel in der Abschiedsstunde: Predigt das Evangelium aller Kreatur“ (Mark. 16,15). Diese zwei Worte fassten Valdez und seine Freunde auf, als von dem Herrn Christus zu ihnen geredet. So ward Armut ihre Losung, die Predigt ihre Lebensaufgabe. Sie bildeten einen Verein: „Die Armen von Lyon“, zu dem Zwecke, für die „evangelische Vollkommenheit“, so wie sie diese verstanden, wirken. Aber dieser Verein sollte innerhalb der Kirche bleiben.

Es liegt nahe, Valdez mit einem anderen der vielen merkwürdigen Männer des Mittelalters zusammenzustellen, welcher nur einige Jahre später eine ähnliche religiöse Erweckung in seinem Inneren erfuhr; aber wie verschieden war der Ausgang! Beinahe so verschieden, wie der Lebensgang und die Entwicklung zweier Männer, die im 16. Jahrhundert, fast zu gleicher Zeit, innere Kämpfe durchzukämpfen hatten, die anfangs den nämlichen Charakter zu tragen schienen, nämlich Luther und Ignatius von Loyola; aber während der eine sich kämpfend zum Helden der Reformation entwickelte, ward Loyola der Stifter des Jesuitenordens. So wie diese zwei Männer aus der späteren Zeit einen bedeutungsvollen Kontrast bilden, so standen um drei bis vier Jahrhunderte früher Valdez und Franz von Assisi einander als Gegensätze gegenüber. Beide hatten eine ähnliche Erweckungsgeschichte; aber das Resultat fiel sehr verschieden aus. Valdez gab seiner Zeit den Anstoß zu einer reformatorischen Strömung; Franz von Assisi ward Stifter des Franziskanerordens, d. h. einer neuen Stütze für den wankenden Thron des Papstes. Aber hatte das verschiedene Resultat nicht darin seinen Grund, dass die zwei Männer in ihre Kämpfe von ganz verschiedenen Lebenswegen her eintraten? Der ernste, fromme Bürger zu Lyon scheint von jeher ein ganz anderes Leben geführt zu haben als der weltlustige Jüngling zu Assisi, gerade so, wie Luthers Leben schon vor seiner inneren Umwandlung sich gar sehr unterschied von Loyolas abenteuerlicher Ritterlichkeit.

Valdez stellte sich zu der amtlichen Kirche in ein ganz anderes Verhältnis, als jener Francesco. Letzterer leistete allen Geboten des Papstes blinden Gehorsam; das war aber bei Valdez nicht der Fall. Als man ihm gebot, dass er mit Predigen aufhöre, so überlegte er, ob er diesem Gebote unbedingt zu gehorchen habe. Dem Erzbischof von Lyon gegenüber, welcher es mit Strenge geltend zu machen suchte, verweigerte er dann den Gehorsam. Ähnlich wie Luther durchdrang ihn ein lebendiges Gefühl, dass es nicht geraten sei, wider sein Gewissen zu handeln. Dem drohenden Verbote des Erzbischofs stellte er das Schriftwort entgegen: „Predigt das Evangelium!“ und fügte hinzu: „Man muss Gott mehr gehorchen, als den Menschen“ (Apg. 5,29). Hierdurch kam es aber zum Bruch mit der amtlichen Kirche. Eine Kirchenversammlung zu Verona 1184 sprach über die Waldenser und andere Ketzer den Bann aus, „weil sie predigten, ohne dass sie gesandt worden“ (Röm. 10,15). Dass ein solcher Kirchenbann auf jene einfach frommen Leute zu Lyon einen starken Eindruck machte, lässt sich kaum bezweifeln; aber durften und konnten sie solchem Gebote einer Kirchenversammlung nachgeben? Unmöglich! Ihnen stand des Herrn Wort über Erzbischöfen sowohl, als Synoden; und so fühlten sie sich denn, trotz allen Bannflüchen und allen Verboten, zur Ausführung des Werkes unwiderstehlich gedrungen, welches ihnen als ein von oben auferlegter Beruf erschien. Als Innocenz III. den päpstlichen Stuhl bestieg (1198), erkannte er, dass Rom mit diesen gottesfürchtigen Leuten unklug verfahren sei. Daher machte er denn zunächst den Versuch, in der gewohnten Weise sie wieder in die Bahnen der Kirche zurückzulenken, dadurch nämlich, dass man dieselben zu einem von der Kirche sanktionierten Verein, zu einer Art neuen Mönchsordens machte. Dieser Versuch misslang aber. Die Waldenser hatten zu viel in der Heiligen Schrift gelesen und einen zu tiefen Einblick bekommen in das Verderben der Kirche. Sie widerstanden der Versuchung, worauf denn Rom wieder zu strengen Maßregeln griff. Die armen Prädikanten wurden verfolgt; aber die Verfolgung vermochte sie nicht auszurotten. Sie verbreiteten sich über alle Länder, und namentlich in Frankreich (besonders in Lothringen), Italien und Spanien gab es viele Waldenser. Sogar die nördlichen Länder scheinen hin und wieder von ihnen besucht zu sein; und sowohl unter den Gottesfreunden am Rhein als unter den Vorreformatoren in den Niederlanden können wir ihren Einfluss spüren. Vorzugsweise war Böhmen das Land, wo sich die Einwirkung ihres Geistes bemerklich machte.

Es wird erzählt, dass Valdez selbst in Böhmen gestorben sei; jedoch ist diese Nachricht zweifelhaft. kurz vor der Mitte des 13. Jahrhunderts begegnen uns indes daselbst Spuren geistiger Regungen, welche Rom als ketzerische stempelte; und kurz nach der Mitte desselben Jahrhunderts sandte Papst Alexander IV. dorthin ein paar Mönche mit der Bestimmung, die ins Land eingedrungene Ketzerei zu bekämpfen. Dieses Mal waren es sicherlich Waldenser, denen der Angriff galt. Aber auch hier vermochte die Verfolgung nicht, dieser bibelfesten Armen mächtig zu werden; und die Waldenser haben sich in Böhmen gehalten, bis Johannes Hus auftrat (Anfang des 15. Jahrhunderts). Ohne Zweifel haben die Waldenser für die hussitische Reformbewegung in Böhmen den Boden bereitet, während letztere wiederum dazu beigetragen hat, die Vorstellungen der Waldenser in vieler Hinsicht zu größerer Klarheit zu entwickeln. „Die hussitischen Böhmen“, sagt der böhmische Geschichtsschreiber2), „sind sowohl Schüler als Lehrer der Waldenser gewesen, aber das letztere mehr als das erstere.“ Es ist außer allem Zweifel, dass die Waldenser in der Geschichte der reformatorischen Erweckung in Böhmen eine Rolle gespielt, und nicht Hus allein, sondern auch Peter Chelcicky, einer der hervorragendsten Denker Böhmens im 15. Jahrhundert, muss die Lehren der Waldenser gekannt haben. Eine glaubwürdige Überlieferung berichtet sogar, dass ein Bischof (Ältester) der Waldenser im Jahre 1457 an jener Versammlung sich beteiligte, auf welche die Gemeinschaft der böhmischen Brüder zurückzuführen ist.

Die alten Waldenser hatten ebenso, wie die Böhmen, Katechismen, in denen die Grundzüge der christlichen Kinderlehre enthalten waren. Eine Abschrift eines solchen waldensischen Katechismus befindet sich in Dublin; und durch denselben gewinnen wir einen Einblick in die Lehre der Waldenser, aber freilich aus einem etwas späteren Zeitpunkt, als sie die Einwirkung des Hussitismus schon in bedeutendem Grade erfahren hatten3). Er ist in Gesprächsform abgefasst; der Prediger (lo barba) und das Kind (l'enfant) reden mit einander. Wir teilen hier einige Bruchstücke dieser katechetischen Unterredung mit4):

„Welchen Glauben hast du?“
„Den wahren katholischen und apostolischen Glauben.“

„Welcher Glaube ist das?“
„Es ist derjenige, der auf dem apostolischen Konzile in zwölf Artikel eingeteilt wurde.“

„Woran kannst du erkennen, dass du an Gott glaubst?“
„Daran, dass ich Gottes Gebote kenne und bewahre.“

„Wie viele sind die Gebote Jesu?“
„Sechs:

  1. Du sollst deinem Bruder nicht zürnen.
  2. Du sollst ein Weib nicht ansehen, ihrer zu begehren.
  3. Du sollst dich von deinem Eheweibe nicht scheiden, es sei denn um Ehebruch.
  4. Du sollst allerdinge nicht schwören.
  5. Du sollst dem Übel nicht widerstreben.
  6. Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen ….“

„Glaubst du an die heilige Kirche (en la sancta gleisa)?
„Nein, denn sie ist eine Kreatur; aber ich glaube in Betreff ihrer (de ley meseima)…“

„Woran sollst du die Kirche Christi erkennen?“
„An den rechten Dienern und an dem Volke, das in Wahrheit ihre Dienste annimmt.“

„Woran erkennst du die Diener?“
„An dem wahren Glaubenssinne, an der gesunden Lehre, an dem vorbildlichen Leben, an der Predigt des Evangeliums und an der rechten Verwaltung der Sakramente.“

„Wie viele Sakramente gibt es?“
„Zwei sind für Alle durchaus notwendig; die anderen sind nicht so notwendig.“

„Was sagst du von der seligen Jungfrau Maria?“
„Die selige Jungfrau war und ist reich an Gnade, aber nur zu ihrer eigenen Notdurft, nicht also, dass sie anderen von derselben mitteilen kann. Ihr Sohn allein ist dermaßen an Gnaden reich (derselben voll), dass er anderen zu helfen vermag.“

Von den böhmischen Waldensern wenden wir uns zu den italienischen, bei welchen wir hier besonders verweilen werden. Der waldensischen Bewegung ging schon eine religiöse Erweckung in Norditalien voraus. Arnold von Brescia, Schüler Abaelards, des berühmten französischen Denkers im Anfang des zwölften Jahrhunderts, hatte eine große Partei gesammelt, welche behauptete: nur die von „reinen“ Priestern verwalteten Sakramente hätten erlösende (beseligende) kraft; dabei beflissen sich die Arnoldisten einer strengen Sittlichkeit. Neben dieser Gemeinschaft bestand in mehreren Städten Italiens eine Laienverbindung, die sogen. Humiliaten. Dies waren fleißige und fromme Handwerker, vorzugsweise Wollenweber, welche sich zu gemeinsamer Arbeit zusammentaten. Was sie mit ihrer Hände Arbeit verdienten, verwandten sie teils zu ihrem eigenen Unterhalt, teils zu Gaben der Barmherzigkeit an die Armen. Die Verheirateten, die in diese Verbindung eintraten, brauchten ihrer Ehe nicht zu entsagen; aber jeder verpflichtete sich, niemals einen Eid abzulegen5). Wenn sie zusammenkamen, wurden Reden von dem einen und anderen gehalten zu gegenseitiger Erbauung. Allmählich übte jedoch das Klosterleben auf viele der Humiliaten eine überwiegende Anziehungskraft; aber andere Mitglieder ihrer Vereinigung kamen unter den Einfluss der Arnoldisten. Wie es scheint, waren es solche von den Arnoldisten beeinflusste Humiliaten, die im Anfange des 13. Jahrhunderts unter dem Namen der „italienischen Armen“ mit den Waldensern in ein näheres Verhältnis traten, wobei sie die Überzeugung aussprachen, dass die Zeit gekommen sei, „in welcher die Wahrheit der Schrift müsse offenbar werden“. Wir besitzen einen merkwürdigen Bericht über eine Zusammenkunft zwischen sechs Waldensern und sechs „italienischen Armen“, und zwar in Bergamo im Jahre 1218, wo beides, sowohl worin sie übereinstimmten als worin sie voneinander abwichen, zur Sprache kam. Bei dieser Gelegenheit erklärten die „italienischen Armen“: sie „könnten nichts glauben wider die Wahrheit der Schrift“, und der erwähnte Bericht ist ein Zeugnis davon, in welchem Grade ihre ganze Denkweise von der Schrift beherrscht wurde. Auf die Kindertaufe hielten sie entschieden, und das heilige Abendmahl stellten sie hoch. Nach dem Vorbild der Waldenser brachen sie offen mit der römischen Kirche und bildeten in ihrer Mitte einen eigenen Priesterstand, welcher auf der Idee des allgemeinen Priestertums beruhte. Anfangs hielten sie an jener schwärmerischen Behauptung der Arnoldisten fest, welche die Segenswirkung der Sakramente von dem persönlichen Glaubensstande der Priester abhängig machte; später kamen sie jedoch zu richtigerer Erkenntnis, und im Verlaufe der Zeit scheinen die „italienischen Armen“ sich immer völliger den Waldensern angeschlossen zu haben.

Besonders waren es die Täler Piemonts, wo die Waldenser ihr christliches Gemeindeleben aufs schönste entwickelten: denn die reichsfürstliche Familie Lucerna, welche unter der Oberhoheit des Kaisers in den Tälern regierte, ließ sie in Frieden. Sobald aber das Haus Savoyen die Herrschaft erhielt, nahm die Zeit der Ruhe und des Friedens ein Ende. Um Weihnacht 1400 rückte der Inquisitor in die Täler hinein, und die Waldenser mussten ins Gebirge flüchten. Am Morgen des Weihnachtsfestes fand man ringsumher auf den benachbarten Anhöhen 500 Frauen und Kinder erfroren am Boden liegend. Mit dieser Begebenheit beginnt die lange Drangsalszeit der Waldenser. Am 1. Mai 1477 erließ Papst Innocenz VIII. - der Papst mit den acht Söhnen und acht Töchtern - einen Aufruf zum Kreuzzug „gegen die abscheuliche Sekte gottloser Ketzer, welche man die Armen von Lyon oder Waldenser (Valdenses) nenne“; und es gelang dem Herzog Karl I. von Piemont und Ludwig XI. von Frankreich, eine Armee von 18.000 Mann zusammenzubringen, mit welcher sie die Täler überfielen. Die Waldenser baten um Schonung und erboten sich, die Wahrheit ihrer Lehren aus der Schrift zu beweisen; man wollte aber nicht auf sie hören. Die rohen Banden jagten sie von Tal zu Tal; und es hatte den Anschein, als sollten die kühnen Waldenser, welche sich in einer Felsenhöhle in dem oberen Teile des Augrognatales gesammelt hatten, mit einem Schlage ausgerottet werden. Da fiel plötzlich auf die ganze Landschaft ein dichter Nebel, und in diesem Nebel konnten die „Kreuzzügler“ den Weg nicht finden. Viele stürzten in Abgründe; andere erlagen den Pfeilen der Waldenser; und hiermit war der „Kreuzzug“ zu Ende. Herzog Karl beschloss innezuhalten, und die Waldenser genossen wieder einer Zeit des Friedens. Aber während dieser Friedenszeit geschah es, dass sie erschlafften und viele den Verlockungen Roms nachgaben; andere aber schwankten unsicher zwischen den alten Traditionen ihrer Gemeinschaft und der katholischen Messe.

Da kam die Reformation; und mit dieser bricht in der Geschichte der Waldenser ein neuer Zeitabschnitt an6).

1)
Die Schrift (Tractatus de haeresi pauperum de Lugduno) hat den franziskanischen Mystiker David von Augsburg zum Verfasser. Sie ist zum ersten Male 1878 herausgegeben von W. Preger in den Schriften der Münchener Akademie, III. II., XIV. Bd., 2. Abtt.
2)
Fr. Balacky, Das Verhältnis der Waldenser zu den ehemaligen Sekten in Böhmen. Prag 1869.
3)
G. v. Zeschwitz, Die Katechismen der Waldenser und böhmischen Brüder. Erlangen 1863. Nielsen, Die Waldenser.
5)
Vgl. den alten Vers in einer Chronik zum Jahre 1214 (Perta, Monumenta Germaniae historica IX, 723:
„Sunt et in Ytalia fratres humiliati
Qui jurare rennuunt et sunt uxorati.“
6)
Inbetreff der nachfolgenden Darstellung verweisen wir auf Moustier, Histoire de l'église Vaudoise I-II (Paris 1847) und L. Witte, Italien (Freienwalde 1878). - Der vorhin angeführte Bericht über die Zusammenkunft zu Bergamo stammt ungefähr aus dem Jahre 1230. Er ist abgedruckt in W. Preger, Beiträge zur Geschichte der Waldesier im Mittelalter (Schriften der Münchener Akademie, 1875, III. KI., XIII. Bd., 1. A61.).
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