Lang, Heinrich - 3. Die Freude des neuen Lebens.

Joh. 16, 21:
Ein Weib, wenn sie gebiert, so hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist gekommen; wenn sie aber das Kind geboren hat, denket sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, daß der Mensch zur Welt geboren ist.

Wir sind, meine christlichen Freunde, mit dem Interesse desjenigen, dem nichts Menschliches fremd ist, in unserer letzten Betrachtung dem Sünder gefolgt auf dem merkwürdigen Wege, auf dem er aus dem dumpfen Trauerzustand des natürlichen Lebens zur vollen bewußten Klarheit über sich selbst gelangt ist; er hat alle Schmerzen der inneren Zerrissenheit, die ganze Last seiner Sündenschuld auf seine Schultern genommen und sich mit dieser Last zu den Füßen Gottes geworfen: „Vater, ich bin nicht werth, dein Sohn zu heißen; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!“ Und als wir den Sünder auf diesem Punkte sahen, konnten wir nicht umhin, uns aus vollem Herzen für ihn zu freuen und ihm zuzurufen: Glück zu, du bist auf dem rechten Wege! Aber wie? haben wir uns nicht etwa zu frühe gefreut? war es nicht voreilig, ihm Glück zu wünschen auf seinen Weg? wird er wieder in den vollen Besitz seiner früheren Kindesrechte eingesetzt werden, oder wird er zum Lohnarbeiter herabgesetzt werden? Wird auf den Schmerzensschrei seiner Seele: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“ auch eine Stimme antworten: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Wird der Geist, der sich nach langen Irrgängen auf sich selbst wieder besinnt, seine Schätze wieder alle finden? Gibt es eine „Sündenvergebung“? gibt es „eine Rechtfertigung“?

Lasset uns auf diese Fragen, die zu allen Zeiten den Menschengeist beschäftigt und daher ein Hauptstück aller Religionen ausgemacht haben, diejenige Antwort suchen, welche uns das Evangelium gibt und unser Text in einem ansprechenden Bilde andeutet!

Die Bußschmerzen des alten Lebens weichen vor der Freude des neuen.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf drei Punkte:

  1. Die Schmerzen der Buße müssen weichen, wenn das geistige Leben gesund werden soll.
  2. Sie können weichen wegen der Freude, daß der neue Mensch geboren ist.
  3. Sie können nur weichen wegen dieser Freude, sonst aus keinem Grunde.

l.

Es gibt viele Menschen, von denen wir sagen können, sie befinden sich ihr ganzes Leben hindurch in geistigen Geburtswehen, ohne je die Freude zu erleben, daß der neue Mensch in ihnen zur Welt geboren wird; sie winden und krümmen sich unter den Schmerzen des Sündenbewußtseins und der Buße, ohne zu einer wahrhaften Versöhnung und Freudigkeit des geistigen Lebens zu gelangen. Das sind

  1. Diejenigen, welche heute die Rosen der Lust und Sinnlichkeit pflücken, und morgen sich mit den Dornen der Reue peitschen, die heute in dem bunten Kleide der leichtsinnigen Weltkinder einhergehen und morgen sich in das härene Gewand der Buße hüllen, abwechselnd vom Sinnentaumel zur Reue, von der Reue zum Sinnentaumel überspringen, schwache, willenlose, bedauernswürdige Menschen, die nach einem treffenden Wort des A. T. „verkauft sind, Uebels zu thun vor dem Herrn“; sie bekennen sich selbst als sündige, verdorbene Menschen, die in den Stunden ihrer inneren Zerrissenheit sich in harten Bußkämpfen vor Gott niederwerfen und ihre Schwäche beweinen, aber der neue Mensch vermag aus diesen Geburtswehen nicht an's Tageslicht zu dringen. Einige von diesen endigten in der Verzweiflung, Andere, und deren die Meisten, wurden im Alter Frömmler und Heuchler.
  2. Eine verwandte Erscheinung, nur mehr in religiös-christlichem Gewande, zeigt sich uns in vielen Christen, die sich gerade wegen ihrer Bußkämpfe und der scharfen Betonung des Sündenbewußtseins als die eigentlichen Jünger Christi ausgeben und eine aparte Frömmigkeit zur Schau tragen. Sie können zwar nicht genug sagen von der Gnade Gottes, die ihnen in Christo widerfahren; sie versenken alle eigene Gerechtigkeit in das Verdienst Jesu Christi und finden den Trost ihres Lebens und Sterbens in seinem Versöhnungstode; - aber dennoch kommen auch sie über die Wehen der Buße nicht zu der eigentlichen Freude, daß der neue Mensch geboren ist, und das immer von Neuem genährte und hervorgerufene Gefühl ihrer Sündhaftigkeit läßt die volle Freude im heiligen Geist und die wahrhafte Versöhnung nicht aufkommen. Daher finden sie eine merkwürdige Freude daran, den Menschen zu zertreten, um Gott zu erhöhen , die Sündhaftigkeit und Verdorbenheit des Menschen in recht schwarzen Farben darzustellen, um die Gnade Gottes in einem um so glänzenderen Lichte erscheinen zu lassen, Zu der thörichten Meinung, den Schöpfer zu ehren, indem sie das Geschöpf verunehren. Auch ihre Lebensweise, indem sie sich ängstlich vor der „Welt“ zurückzuziehen suchen, und eine Menge an sich noch unschuldiger Werke und Freuden zum Voraus verdammen, zeigt nur wenig von dem apostolischen: „Freuet euch in dem Herrn allewege“ oder dem: „Alles ist euer;“ der tiefe Baßton der Sünde, der durch ihr ganzes Leben hindurchklingt, übertönt alle helleren und freudigeren Klänge des menschlichen Lebens und ihre trübe Lebensanschauung ist feindselig gegen alle heiteren Blüthen, die am Baume der Menschheit sprossen. Mit einem Wort: sie haben die Schmerzen des alten Lebens nicht vergessen gelernt ob der Freude, daß der neue Mensch zur Welt geboren ist.

II.

Oder ist das überhaupt nicht möglich? werden vielleicht die Sünden und Verirrungen des vergangenen Lebens sich immer von Neuem vor die Seele drängen und den Stachel des Schuldbewußtseins unauslöschlich tief in's Herz graben? Wird „der Zorn Gottes“ unversöhnlich sein? werden die Schmerzen der Sündenschuld sich nicht auflösen lassen in die Freude darüber, daß der neue Mensch geboren ist? Warum denn nicht? Eine Mutter, wenn sie geboren hat, denket ja auch nicht mehr der Angst ob der Freude, daß der Mensch zur Welt geboren ist, und ein Schiffer, wenn der Sturm überstanden ist und er wieder daheim ist bei Weib und Kind, hat alle Noth des Meeres vergessen. Ebenso der Menschengeist: wenn er sich wieder auf sich selbst besinnt, nachdem er sich eine Zeit lang in der Welt verloren hatte, und wieder einkehrt in seiner ewigen Heimath und da alle seine Schätze noch unversehrt wiederfindet, o! da ist die Freude überschwenglich, das Leid ist vergessen, „das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu geworden.“ Das ist das tiefe Geheimniß des Geistes, das ist die wunderbare Siegeskraft, die ihm über die Sinnlichkeit verliehen ist, daß er, zusammengesunken gleichsam zu einem kleinen Fünklein, wieder hervorbrechen und als verzehrende und erwärmende Flamme das Unheilige auffressen und das Erstorbene beleben kann. Daher finden wir die Erfahrung , die Jesus in dem Beispiel des verlorenen Sohnes so einfach groß uns vor die Augen stellt, nicht selten im Leben bestätigt, daß Menschen, die sich mit der ganzen Gluth ihrer Leidenschaft an die Sunde hingegeben hatten, hernach die muthigsten Helden im Kampf für das Gottesreich geworden sind. O große, selige Zeit, wenn der Sohn den Vater wiederfindet und die Freude der wiedergewonnenen Kindesrechte sogar noch tiefer empfindet, als wenn er sie nie verloren hätte! Selige Ueberraschung, wenn nach langem Hingehen in der dumpfen Trägheit oder im Leichtsinn des natürlichen Lebens die glaubenden und liebenden Kräfte des Geistes sich mit übersprudelnder Fülle und Freudigkeit regen und eine neue ungeahnte Welt des inneren Lebens erschließen! Da schlagen die Pulse höher, da wird das Herz weit, da dringt es allmächtig durch die Seele: Du hast Frieden gefunden, du bist versöhnt mit Gott, „deine Sünden sind dir vergeben!“ Da erfährt man, und wäre es erst fast im letzten Athemzuge, Etwas von dem Gefühle, das einen Simeon durchdrang. „Herr! nun lassest du deinen Diener im Frieden dahin fahren, denn meine Augen haben den Heiland gesehen.“

Das erfuhr jener Zöllner, von dem das Evangelium uns erzählt. Er stand im Tempel, wagte seine Augen, nicht aufzuschlagen, sondern richtete den Blick abwärts, hinein in die Tiefen seines Herzens; „er ging in sich,“ und was er da entdeckte, das zeigt uns sein kurzer Seufzer: „Gott! fei mir Sünder gnädig!“ Was war es doch gewesen, das ihm diesen Seufzer abnöthigte? was war es, das ihn seinen Zustand so ohne alle Täuschung erkennen ließ? Offenbar die sittliche Kraft, die in ihm wieder erwacht war, die Macht des Guten, die anfing, in ihm lebendig zu werden, die Regungen des neuen Menschen, der sich in ihm zur Geburt drängte; darum heißt es von ihm: „Er ging hinab gerechtfertigt in sein Haus,“ d. h. mit dem Bewußtsein, daß er in den Augen Gottes jetzt für einen Gerechten gelte, und mit dem hieraus fließenden Frieden des Herzens mit Gott; so war die Angst des Herzens verschwunden vor der Freude, daß der neue Mensch in ihm geboren sei.

Das erfuhr auch laut evangelischem Bericht jene Sünderin, die sich nicht scheute, mit der ganzen Last ihres Herzens in den Kreis hämischer und selbstgerechter Pharisäer zu treten, um sich Jesu, dem Reinen, zu Füßen zu werfen. „Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, was das für ein Weib ist,“ hieß es zwar; aber unbeirrt sagt Jesus zu ihr: „Gehe hin im Frieden! Dir ist viel vergeben, weil du viel geliebt hast.“ Denn was war es gewesen, das diese Sünderin getrieben hatte, diesen ihr ganzes bisheriges Leben abbrechenden Schritt zu thun? Offenbar die Allgewalt der Liebe, mit der sie sich plötzlich zum Guten und Wahren hingerissen fühlte; offenbar der Glaubensmuth, der, ohne sich lange mit Fleisch und Blut zu besprechen, das Gewand der Gottheit ergreift und sie nicht läßt, sie segne denn. O, da muß die Wahrheit noch eine unwiderstehliche Anziehungskraft für ein Menschenherz haben, wenn es derselben noch so muthig sich zukehrt, nachdem es durch den Schein so lange geblendet war; o, da muß die Liebe gewaltig sein, wenn sie durch alle Hemmnisse durchbrechen, alle bisherigen Lebensverhältnisse gewaltsam zerreißen kann, um sich einen Weg zum Herzen Gottes zu brechen. Und wo so der neue Mensch des Glaubens und der Liebe geboren ist, da sollte die alte Angst nicht vergessen werden können? da sollte die Gottheit noch eine außerordentliche Sühne verlangen? Wer wäre so lieblos, das zu behaupten? Die Schmerzen der Buße können weichen wegen der Freude, daß der neue Mensch geboren ist.

Soll ich noch erinnern an das Kühnste und Gewaltigste, was in dieser Beziehung je aufgestellt worden ist? an den Schächer am Kreuz? Da hört ein Mensch, der als Verbrecher dem Schwert des Gerichts anheim gefallen ist, in der Todesstunde, ohne noch Zeit und Gelegenheit zu haben, sein neues Leben durch Thaten zu bewähren, er hört aus dem Munde Jesu das Wort: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Wie muß dieses Wort ihm alle Schmerzen des vergangenen Lebens und die letzte Angst in Freude verwandelt haben! Unmöglich! sagt der Verstand; wie kann ohne eine in Werken sich äußernde Besserung des Lebenswandels eine vollständige Sündenvergebung ertheilt werden? Gefährlich, sagt das ängstliche, besorgte Herz, gefährlich für die Sittlichkeit, weil durch ein solches Beispiel leichtsinnige Sünderherzen nur noch sicherer und sorgloser gemacht werden. Und doch wahr, sagt der Geist, dem es gegeben ist, in die Geheimnisse des sittlichen Lebens einzudringen. In dem Augenblicke, da Jesus von Allen verlassen war, da in seinem Tode alle messianischen Erwartungen des Volkes vernichtet waren, doch seine Unschuld auszusprechen, dazu gehörte eine Glaubenskraft, eine Anerkennung des sittlich Reinen in dem Charakter Jesu, wie sie dieser in Israel sonst nicht gefunden hatte; ein Früher oder Später ist im Reiche des Geistes, der über die Schranken der Zeit erhaben ist, nicht maßgebend. Sobald der Mensch ohne Schein und Heuchelei mit seinem ganzen Wesen dem Wahren und Guten sich zuwendet, da ist er ausgesöhnt in den Augen desjenigen, vor dem Ein Tag ist wie Tausend Jahre; da gilt das Wort des Psalmisten: „Ein Tag in den Vorhöfen Gottes ist besser, denn sonst tausend!“ Die Schmerzen und die Angst des alten Lebens können zu jeder Zeit weichen, sobald nur der neue Mensch geboren ist.

Aber freilich auch dem vollendeten Christenleben, das zur Freudigkeit in Gott hindurchgedrungen ist, sind nicht alle Schmerzen für immer erspart; auch das neue Leben des Geistes ist nicht immer sich selbst gleich, nicht immer gleich stark und kräftig; so oft wird es durch Augenblicke des Stillestehens unterbrochen, so oft verschwindet es wieder nicht nur unter den Zerstreuungen und Sorgen, sondern auch unter den löblichen Geschäften des Lebens. Diese Stunden des Stillestehens, die Tage, wo wir wieder in die alte Trägheit und Gleichgiltigkeit zurückfallen, das sind die schmerzlichen Wundenmale des alten Leibes der Sünde, das sind jene Narben des alten Lebens, die von Zeit zu Zeit wieder aufbrechen und dem Menschen so wehe thun; so oft diese Stunden oder Tage der geistigen Dürre eintreten, da wird immer auch wieder eine göttliche Traurigkeit im Herzen sich regen, da wird es wieder Geburtsschmerzen geben; aber schnell werden sie wieder weichen der Freude, daß der geistige Mensch nur verjüngt aus denselben hervorgegangen ist.

Darum wohlan! hast du den falschen Weg erkannt, frisch und ohne Zagen auf die neue Bahn getreten! Nage nicht lange an deinem eigenen Schmerz, gräme dich nicht zu viel wegen des Vergangenen, winde dich nicht lange in deinen Bußschmerjen, sondern stehe schnell auf und wandle freudig deines Weges! Das Leben ist kurz und das Gottesreich verlangt muthige Kämpfer.

III.

Aber vielleicht fragt der Eine oder der Andere unter euch: Woran merke ich, daß ich mit Gott versöhnt bin? wer gibt mir die Gewißheit der Rechtfertigung; wer versichert mir, daß auch mir die Sünden vergeben sind? Mein lieber Mitchrist! das kann dir in der ganzen, weiten Welt Niemand versichern als du selbst, d. h. es gibt keine andere Gewißheit „der Sündenvergebung“, als welche in dir selber liegt, wenn du nämlich wirklich an das Gute glaubst und dasselbe liebst, auf keine andere Weise kann Friede und Versöhnung in dein Herz kommen, als wenn der neue Mensch wirklich in dir geboren und erstarkt ist; dann ist die Lebensquelle in dir, welche die Kraft in sich trägt, die Wunden des Gemüthes zu heilen und alle Flecken abzuwaschen. Die Schmerzen des alten Lebens können nur weichen ob der Freude, daß der neue Mensch geboren ist. Ohne dieses ist jeder andere Trost der Versöhnung und „Sündenvergebung“ eitel und nichtig; früher suchte man sich denselben durch Opfer und äußere Werke zu verschaffen, später sollte die Versöhnung und Sündenvergebung durch das Blut Christi ausgewirkt werden, aber wenn der Tod Christi nicht vorher dein hartes Herz erweicht, wenn das Blut Jesu dich nicht zuvor von deinen Sünden gereinigt hat, so ist es nichts als Heuchelei, wenn du dich rühmst, sein Tod habe dich vor Gott gerecht gemacht; es ist ein Spiel, das diejenigen mit Gott, mit sich und mit ihren Nebenmenschen treiben, die sich auf ihrem Sterbebette der Versöhnung mit Gott rühmen und allein durch das Verdienst Christi gerecht sein wollen, wenn sie nicht vorher durch den Geist Christi neugeboren waren. „Nur die den Geist Christi haben, sind Gottes Kinder; wer aber Christi Geist nicht hat, ist nicht sein.“ Amen.

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