Wiener, Wilhelm - Des Christen Leben ein Pilgergang nach der Ewigkeit.
Predigt am Silvester über 2. Kor. 5, 1-11
von D. Wilhelm Wiener, Dekan in Worms.
In Christo Jesu Geliebte! Der Gottesdienst an diesem Abend hat sich in den meisten Gemeinden fest eingebürgert und sie ließen sich denselben nicht wieder nehmen. Warum sind gerade da die Kirchen so gefüllt? Warum sehen wir da in diesem geräumigen Gotteshaus Tausende und auch die Gänge und Treppen bestanden? Beruht's auf Sitte, auf Nachahmung, auf gegenseitigem Übereinkommen! Ach nein, es muss ein religiöses Bedürfnis vorhanden sein. Die Gemeinde sagt's dem Geistlichen und der Geistliche sagt's der Gemeinde: Es ist das Bewusstsein, dass wir in der Zeit der Ewigkeit entgegengehen - Schritt für Schritt, Tag für Tag, Jahr für Jahr und dann das Grab! Hört's damit auf? Nein und abermals nein! Es hört nicht auf; es geht erst an! Und wir denken mit dem alten Kirchenlied: „ Ewigkeit, du Donnerwort, o Schwert, das durch die Seele bohrt, o Anfang ohne Ende!1)“ Aber haben wir nicht als Christen die Aufgabe, es dahin zu bringen, dass das Donnerwort ein Freudenwort für uns werde? Was will doch das einstündige Glockengeläute in dieser Nacht von zwölf bis ein Uhr; in der Zeit, da zwei Jahreswellen an einander schlagen und in dem unendlichen Meer verrauschen? Es soll das Gebet der pilgernden Gemeinde versinnbildlichen und uns die Losung des morgenden Tages bringen: „Jesus Christus gestern und heute, derselbe auch in Ewigkeit!“ Ja, derselbe auch in Ewigkeit. Wohl denen, in welchen er durch den Glauben Gestalt gewonnen hat! Sie singen's mit verdoppelter Innigkeit an diesem Abend: „Unsern Ausgang segne Gott, unseren Eingang gleichermaßen“; weiter: „Befiehl du deine Wege und alles, was dich kränkt, der treuen Vaterpflege des, der den Himmel lenkt“ und endlich dazu ein christlich Wanderlied, wie das, welches wir nachher anstimmen wollen:
„Kommt, Brüder, lasst uns gehen,
der Abend kommt herbei!
Es ist gefährlich stehen
in dieser Wüstenei.
Kommt, stärket euren Mut,
zur Ewigkeit zu wandern
von einer Kraft zur andern!
Es ist das Ende gut.“2)
Oft werden zur Predigt für diesen Abend alttestamentliche Texte gewählt, wie das vorhin am Altar verlesene „hohe Lied der Ewigkeit“, Psalm 90, vom Gottesmann Moses uns hinterlassen, oder der euch wohlbekannte Pilgergesang, Psalm 121: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt,“ wie denn überhaupt für Zeitpredigten das Alte Testament eine unerschöpfliche Fundgrube ist. Heute aber blicken wir ins Neue Testament mit seiner erhebenden Unsterblichkeits- und Ewigkeitshoffnung und lassen uns von dem Apostel Paulus aus einem seiner tiefsinnigsten und anregendsten Glaubensergüsse Rat geben. Und so setze ich meiner Predigt an euch das Wort voraus:
Des Christen Leben - ein Pilgergang nach der Ewigkeit - eine Silvesterbetrachtung:
1. Das Ziel der Reise,
2. Das Heimweh auf dem Wege,
3. Der richtige Pilgerwandel.
1. Das Ziel der Reise.
V. 1: „Wir wissen aber, so unser irdisch Haus zerbrochen wird, dass wir einen Bau haben, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.“
In unserem leiblichen Leben haben wir keinen festen, bleibenden Bau, sondern nur ein Wanderzelt. Unser Geist aber ist unsterblich und hat seine Wohnung im Himmel.
„Himmelan geht unsere Bahn;
wir sind Gäste nur auf Erden,
bis wir einst nach Kanaan
durch die Wüste kommen werden.
Hier ist unser Pilgrimstand,
droben unser Vaterland.“ 3)
„Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?
Wer deckt sie mit schützenden Fittichen zu?
Ach, bietet die Welt keine Freistatt uns an,
wo Sünde nicht herrschen, nicht hinkommen kann?
Nein, nein, hier ist sie nicht;
die Heimat der Seele ist droben im Licht.“ 4)
Das Sterbliche soll verschlungen werden von dem Leben (V. 4). Wir dürfen uns deshalb auf Erden nicht betrachten als Hausbesitzer; wir sind bloß Haushalter und müssen Rechenschaft von unserem Haushalten ablegen, wonach sich unser Los in der Ewigkeit bestimmt. Und sind wir beschwert mit Leiden - wer von uns wäre ganz damit verschont? - so trösten wir uns mit dem Blick in die Zukunft: dieser Zeit Leiden ist nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden. Heute und morgen erinnert sich die christliche Gemeinde gern an die Zahl derer, die durch den Tod aus der Zeit weggerufen worden sind, und ihre gläubigen Glieder trösten sich mit dem Wort: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“ Welcher ernste Mensch fragt sich nicht heute einmal: Wird das nahende Jahr nicht dein letztes sein? Wir stellen's dem himmlischen Vater anheim, indem wir sprechen: „Gelobt sei Gott und der Vater unsers Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen, unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das behalten wird im Himmel.“ Wir zelten auf Erden. Wir wallen in der Wüste. Wir pilgern nach Kanaan. Und wenn wir unser Wanderzelt endlich abbrechen sehen, dann verrauscht nicht unser Geist wie ein Tropfen im Meer; sondern er hat die edelste und höchste Existenz, die es gibt: er dauert persönlich fort. An einem entsprechenden Organ zur Einwirkung auf das, was außer ihm ist, wird's ihm nicht fehlen. Ein neuer, geistlicher Leib wird uns zuteil, ähnlich dem verklärten Leibe Christi. Wir werden nicht für immer entkleidet; wir werden in himmlischer Schönheit überkleidet.
V. 5: „Der uns aber zu demselben bereitet, das ist Gott, der uns das Pfand, den Geist gegeben hat.“ Mögen die Fleischesmenschen bloß Gehirn- und Nerventätigkeit kennen, die mit dem Blutumlauf stillstehen, wir glauben und wissen aus der Heiligen Schrift und durch tieferes Denken, dass wir einen Geist haben, der nicht zusammengesetzt ist und sich nicht auflösen kann. Der denkt auch den Tod und ahnt die Ewigkeit, weshalb schon heidnische Weise die Unsterblichkeit lehren. Und Gott bietet uns in Jesu Christo, seinem Sohne, unserem Herrn, den Heiligen Geist an, der unseren Geist reinigt, stärkt und weiht, uns lehrt, erzieht, tröstet auf unserem Pilgergang. Es ist der Geist der christlichen Gemeinschaft, der uns die Heimat der Seele zeigt und uns, wenn wir nicht mehr beten können, mit unaussprechlichem Seufzen vertritt. Der heißt uns fragen: Haben wir im ablaufenden Jahr nicht bloß dem Fleisch und der Welt gelebt? Darauf wollen wir uns heute Abend eine unumwundene Antwort geben. Wo im alten Jahr eine Leiche im Hause lag, da war nur noch das Pilgerzelt zu finden; das Ich, der Wanderer, war weggegangen in die Ewigkeit. Sieh, auch von dir legt man einmal das Zelt ins Grab, sei's auf dem alten, sei's auf dem rasch sich füllenden neuen, sei's auf dem neuesten Friedhof, der weit draußen für unsere wachsende Stadt vorsorglich schon gekauft ward. Unser Pilgerkleid ziehen wir einmal aus, um, sterben wir als Christen, den Schmuck der Seligen anzulegen. Dies unser Wanderkleid altert mit der Zeit und sehnt sich „Erde zur Erde“. Wir sind als Christen Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, und Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Das Ziel unserer Reise ist im Himmel. Unser Leben ist ein Pilgergang nach der Ewigkeit.
2. Das Heimweh auf dem Wege.
„Wir wallen ferne vom Herrn“, übersetzt Luther, was Paulus in griechischer Sprache aussagt, und auch hier zeigt der große Bibelübersetzer so recht deutlich, wie er sich in den Geist der Heiligen Schrift eingelebt hat. Wir wallen fern dem Heiland, nach dem wir uns sehnen, dem Vater und der Heimat. Wir sehnen uns nach unserer Behausung V. 2). Wie groß war die Himmelssehnsucht des vielbeschäftigten, vielgeplagten und geprüften Heidenapostels, der Lust hatte abzuscheiden und bei Christo zu sein! Ist's uns nicht manchmal beim Glockenklang, beim Choralgesang, beim Orgelton gewesen, als ob wir leise, wie von ferne, Heimatsrufe vernähmen? Das deutsche Volkslied erzählt uns, wie zu Straßburg auf der Schanz ein Volkslied aus der Heimat einen Soldaten mächtig anzog, dass er floh, freilich zu seinem Verderben. Wer von den Bergen ist, der hat in der Ebene oft brennendes Heimweh nach der großartigen Natur seiner Heimat. Der Christ aber hebt auf seiner Wanderung die Augen auf zu den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt. Heimweh empfand die Mutter, die im bald vollendeten Jahr manchmal das Grab ihres lieben Kindes draußen auf dem jetzt mit Schnee bedeckten Friedhof besuchte und betend himmelwärts blickte. Kennst du solches Heimweh aus eigner Erfahrung? Heimweh fühlt der Greis, der im Laufe der Jahre all' seine Lieben verloren hat und sich in der Neujahrsnacht sagen muss: „Ich bin allein übrig geblieben“. „Kennst du das Land?“ Den Alternden fliegen die Jahre schneller dahin, weil sie in ihnen nicht mehr viel neues erleben, gleichwie die weiter von der wärmenden Sonne entfernten Planeten rascher dahineilen. „Heim, heim!“ ruft zuletzt alles uns am Silvesterabend zu, und wir möchten auf das letzte Blatt des Jahresbuches schreiben, was Jung Stilling einst einer Freundin ins Stammbuch schrieb: „Selig sind die Heimweh haben; denn sie sollen nach Haus kommen.“ Aber wie? Täuschen wir uns auch nicht? Träumen wir nicht den Traum eines Unglücklichen in der Neujahrsnacht? Woher kommt uns die Gewissheit?
Der Apostel sagt: „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.“ Und ich sage: es ist gut, dass es so ist. Hätten wir eine sinnengemäße Gewissheit der Unsterblichkeit und der Vergeltung im ewigen Leben, dann hörte die sittliche Freiheit auf. Dann hieße es nicht: „du sollst“, sondern: „du musst“, und gleich mit dem Fall wäre das Gericht da. Aber wir haben einen Geist, um hinter den Naturgesetzen die Wunder der Gottheit zu schauen. Wir fragen uns: „Woher die Welt? Fing sie einmal an zu sein, oder ist sie ewig? Wie kam die Bewegung in den Stoff? Wie entstand im Unorganischen das organische Leben? Wie entwickelte sich das Denken aus dem Unbewussten?“ Da hört das Wissen auf, und das Glauben geht an. Auch wenn wir die Bedeutung von Zelle und Wärme kennen, müssen wir doch mit jenem ehrlichen Gelehrten sagen: „Wir wissen nicht, und wir werden nicht wissen.“ Im Glauben aber offenbart sich das Heimweh der pilgernden Seele, die erst in der Ewigkeit schauen soll von Angesicht zu Angesicht. Der Glaube wendet sich an Jesum, der für uns gestorben und auferstanden ist und Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch sein Evangelium. Das Heimweh der gläubigen Seele treibt zum Gotteswort und ins Gotteshaus, heißt uns des Taufbundes uns trösten und das Sakrament des Altars verlangen. Ohne den Glauben wandelt man auf Erden beständig am Abgrund hin; man geht gedankenlos an den Rätseln der Welt vorüber. Auch verfallen die Zweifelnden leicht in Verzweiflung, werden die Ungläubigen leicht abergläubisch, wie sich gerade in dieser Nacht vielfach durch Bleigießen, Kartenschlagen, Buchausschlagen und dergleichen. zeigen wird. Man möchte die Vorsehung überlisten und durch den Vorhang schauen, der nach Gottes Weisheit und Liebe die Zukunft von der Vergangenheit und Gegenwart trennt. Dem christlichen Denker genügt der Glaube. Er spricht: „Ich weiß, an wen ich glaube, ich weiß was fest besteht, wenn alles hier im Staube wie Staub und Rauch verweht.“ So lassen wir uns gern begleiten von dem Heimweh auf dem Wege; denn wir wissen: unser Leben ist ein Pilgergang nach der Ewigkeit. Betrachten wir aber nun noch, um zum Praktischen überzugehen,
3. den rechten Pilgerwandel.
Wir wollen uns als ein priesterliches und königliches Geschlecht würdig der Heimat betragen.
Wir lesen ja: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeglicher empfahe5), nachdem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse.“ Höre da eine ernste Mahnung und Drohung aus der Ewigkeit! Wie waren unsere Taten im alten Jahr beschaffen? Waren sie sittlich, aus Gottesfurcht entsprungen, im Namen Jesu unternommen, durch Liebe zu Gott und den Menschen geweiht und erwärmt? Und nach der Heiligen Schrift sind zu den Taten auch Gedanken und Gefühle zu rechnen! O, wie müssen wir erschrecken, wenn wir's beim Rückblick ernst nehmen! Da möchten wir einstimmen in das alte Lied:
„König voll erhabner Schrecken,
Gnade nur deckt meine Flecken;
Gnade, Gnade lass mich decken!“ 6)
Lasst uns Buße tun an diesem Abend, und möge die Buße unsere Freude morgen zu einer ernsten machen! Wie? haben wir unseren Beruf durch 365 Tage treu erfüllt? Haben wir auch nicht unterlassen, was uns zu tun oblag? Haben wir uns das Wort gemerkt: „Seid niemand nichts schuldig, denn dass ihr euch unter einander liebt?“ Manche Schuld bleibt vom alten ins neue Jahr unbezahlt, am allgemeinsten die Liebesschuld. Möchte es einst dir gelten: „Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenig getreu gewesen, ich will dich über viel setzen.“ Lasst uns unserem Pilgerruf keine Unehre machen. Am Ende wird danach gefragt, vielleicht schon bald. Wahrlich, da möchte auch der Frömmste mit Luther rufen: „Meine Sünde, meine Sünde!“
Doch auf eins wollen wir noch genauer eingehen. Der Apostel sagt (V. 11), dass er „schön mit den Leuten fahre“. Das wollen auch wir, indem wir immer Liebe üben und so sie gewinnen. Ein Jahr ohne Liebe, ein Leben ohne Liebe, was kann man sich Schrecklicheres denken?
„Kommt, Brüder, lasst uns wandern;
wir gehen Hand in Hand.
Eins freue sich am andern
in diesem fremden Land.
Kommt, lasst uns freundlich sein,
uns auf dem Weg nicht streiten.
Die Engel selbst begleiten
als Brüder unsere Reihn.“ 7)
„Zanket nicht auf dem Wege!“ Hat man bloß Furcht vor uns oder höchstens eine hohle Bewunderung unsers Tuns? Wie stehen wir mit den Unsern? Leben wir mit ihnen nicht in Streit? Und wir leben doch nur einmal, und das Leben ist kurz! Fort mit der gegenseitigen Rücksichtslosigkeit und Empfindlichkeit! Lieb ist Wunder, Lieb ist Gnade, die wie der Tau vom Himmel fällt.“ Durch den Glauben taut die Liebe auf die Pflanze unserer Seele, und wir pilgern morgenfrisch; wir ermuntern uns, stärken uns gegenseitig, trösten uns, richten uns auf, wenn einer strauchelt, leben nach dem Wort: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. „Die Liebe hört nimmer auf.“ In ihr umgeben uns die Strahlen der Ewigkeit schon auf Erden. Der Glaube weicht dem Schauen; die Hoffnung geht auf im Besitz; die Liebe bleibt, was sie ist. Gebe Gott, dass wir am Ende unserer Pilgerfahrt sagen können:
„Geht nun hin und grabt mein Grab;
meinen Lauf hab' ich vollendet,
lege nun den Wanderstab
hin, wo alles Irdsche endet,
lege selber mich hinein
in das Bette sonder Pein.“ 8)
Wohlan denn, so lasst uns von einem Jahr ins andre mit dem Gedanken gehen: Unser Leben ist ein Pilgergang nach der Ewigkeit. Amen.