Tersteegen, Gerhard - Gottesfürchtige und erbauende Briefe - Fünfter Brief.
Auch bei beschwertem Gemüte muss man sich ruhig Gott überlassen, der Jeden auf den besten Weg führt. Bei seinen Schwachheiten stehen zu bleiben, gibt keine Stärke; diese ist nur in Gott zu finden. Wenn Körper und Gemüt leiden, ist eine kleine Beschäftigung gut, um sich selbst darüber zu vergessen,
In der unschätzbaren Gnade unsers Heilandes Jesus Christus, gepriesen in Ewigkeit, Amen! herzlich geliebter Bruder!
Deinen lieben Brief habe ich erhalten; er war mir um so angenehmer, weil ich darin einigen Bericht über Deinen körperlichen und Gemütszustand finde; denn obschon wir alle unsre Hilfe nur allein vom Herrn erwarten, so nimmt doch die wahre Liebe gerne Anteil am Guten und Bösen, was uns gegenseitig, begegnet, da wir Glieder eines Körpers sind. Den beschwerenden Zustand Deines Gemüts, der Deine Gesundheit ziemlich stark angriff (und lass mich hinzufügen, den leidenden Zustand Deines Körpers, der das Gemüt noch mehr ängstigte), habe ich in teilnehmender Liebe oft dem Herrn anbefohlen, ihn bittend, dass er Dich stärken und das, was seine Liebe dadurch beabsichtigt, vollführen möge. Ich hoffe und vertraue, dass der Herr mit Dir sein, und Dir durch die dunklen Wolken noch manchen stärkenden Sonnenblick senden wird, damit Du nicht auf dem seligen Pilgerpfade niedersinkst. Der, dessen Führung wir uns überlassen haben, ist die Weisheit und Güte selbst, wir werden es dereinst mit der größten Bewunderung schauen, dass er Jeden von uns auf den allerbesten Pfad geführt, und uns alle Lasten mit väterlicher Hand zugewogen hat. Lass uns nur ruhig die Augen schließen und unbesorgt unten im Schiffchen bleiben, wir sind nur Reisende und keine Steuermänner. Uns liegt es ob, Alles ohne Widerstand fahren zu lassen und hinzugeben, und mit ganzem Herzen und innigem Willen in den Händen des Herrn unbeweglich liegen zu bleiben. Aber Du denkst vielleicht: dies ist es gerade, woran es fehlt; ich nehme diese Wahrheiten von Herzen an, ich fühle mich innig bewogen, mich und Alles einzig dem Herrn zu überlassen; ich finde nur allein darin Raum, aber ich fühle mich zugleich noch außerordentlich schwach dazu, und stoße auf viele Hindernisse, was mich oft sehr bekümmert. Dem ist so, mein Lieber, wir sind schwach und elend; aber wenn wir bei unsern Schwachheiten stehen bleiben, werden wir nie stark. Der nur allein ist stark, heilig und beruhigt, der sich in Gott verliert, und so in Ihm wandelt, als ob er selbst nicht mehr wäre. In Gott allein ist alle Stärke, Tugend und Seligkeit. Du hast, Geliebtester, an mir einen Bruder, der nicht weniger schwach und gebrechlich ist; aber ich darf dabei nicht stehen bleiben; ich verwerfe alles Böse, das in mir liegt, und erfreue mich innig, dass Gott Alles ist. Ja, er ist Alles, und Ihm allein muss die Herrlichkeit und Ehre gegeben werden in alle Ewigkeit; in seiner reinen Verherrlichung liegt die volle Seligkeit unsrer Seele. Du tust, lieber Bruder, ohne Zweifel sehr wohl, dass Du dem innigen Zuge in und nach Deinem Seelengrunde allmählig zu folgen suchst, ohne Dich bei dem aufzuhalten, was Dich davon abziehen will, und zwar darum, weil Du dabei die meiste Beruhigung findest, und weil das Bleiben in Deinem Grunde und das einfältige Fahrenlassen Dich am fähigsten macht, um Dich in allen Fällen gut zu betragen. Aber bei alle dem könnte es doch geschehen (zumal in Zeiten, wenn Körper und Gemüt beide zugleich beschwert und leidend sind), dass Du nicht weniger Nutzen und Ruhe in einer sanften und allgemeinen Erhebung, gleichsam über Dich selbst, fändest, und in einem heiligen Vergessen und Ablegen Deiner selbst und Deines Zustandes; ja, wenn es sein kann, zuweilen eine kleine äußerliche Beschäftigung, oder sonst etwas unternehmend, möge auch die Lust dazu nicht groß sein. Durch eine solche Erhebung und Erholung und ein solches Vergessen tritt man keineswegs aus den Stand der Einfalt und des Fahrenlassens heraus; eben so wenig wirft man dadurch das Gewicht der Gemütsleiden ab, die man darum doch immer fühlt; sondern es geschieht nur, um einer düstern Wolke zu entgehen und sie zu zerstreuen, die aus der Natur mit in den Grund des Gemüts niedersinken will; auch macht es die Seele fähig, um sich nach und nach in Gott zu verlieren, und reiner im Geist und nur mit dem Geist ihm anzuhangen, indem sonst das Kreatürliche sich leicht mit hineinmengt. Ich hoffe, Du wirst das, was ich meine, recht verstehen.
Du musst Dich in Allem mit Raum und Freiheit des Geistes benehmen, nach dem Rufe des Herrn über Dir, der sein Werk herrlich und weit über unsre Erwartung ausführen wird. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit! Amen.
Ich grüße und umarme Dich im Geiste der Liebe Jesu, in dem ich bleibe
Dein treu verbundener schwacher Bruder.
Mülheim, den 26. April 1735.