Quandt, Emil - Große Liebe im kleinen Leben - Vierter Abschnitt. V. 13-16.

Quandt, Emil - Große Liebe im kleinen Leben - Vierter Abschnitt. V. 13-16.

Nähere Erläuterung der Bitte Pauli.

Das entscheidende Wort der Bitte, um derentwillen die ganze Epistel geschrieben ist, war im vorigen Abschnitte des Briefes ausgesprochen. „Du wollest ihn, das ist mein eigen Herz, annehmen“, so hatte Paulus seinem kolossischen Freunde Philemon in Betreff des bekehrten Flüchtlings Onesimus geschrieben. Alles, was sich an diesen Ausdruck der Bitte bis V. 21. hin anschließt, der vorliegende und der folgende Abschnitt, verhält sich wie eine Predigt zu ihrem Texte; der Apostel erläutert und erweitert seine Bitte, die Erläuterung der Bitte bringt uns dieser Abschnitt, die Erweiterung derselben der nächstfolgende; es ist also wie eine Predigt in zwei Teilen, und wir haben hier den ersten Teil vor uns. Es dürfte unser Abschnitt derjenige der Epistel sein, der am meisten in Predigtgebrauch gekommen ist; man hört ja im Ganzen äußerst selten einmal eine Predigt über die Epistel an Philemon, viele Christen hören in ihrem ganzen Leben niemals eine Predigt über dieselbe; aber seltsamer Weise wird der 15. Vers der Epistel, der Vers: „Vielmehr ist er darum eine Zeitlang von dir gekommen, auf dass du ihn ewig wieder hättest“ hier und da als Text zu Leichenpredigten verlesen und benützt, obwohl er in seinem nächsten Sinn durchaus nicht von Verstorbenen handelt, sondern vielmehr von dem gnädigen Walten Gottes, unter dem auch Zerwürfnisse eines christlichen Hauses noch einen Segen abwerfen können. Es ist auch dieser Vers gar nicht der Hauptvers unsers Abschnittes, vielmehr überragen ihn an Bedeutung die andern Verse, und diese lassen uns tiefe Blicke tun in das Wesen der christlichen Barmherzigkeit und in die rechte Stellung, die Herrschaften und Gesinde zu einander einzunehmen haben. Geben wir uns nun der Erwägung des Einzelnen in unserm Abschnitt hin.

V. 13 Denn ich wollte ihn bei mir behalten, dass er mir an deiner statt diente in den Banden des Evangelii. Dieser Vers soll dem Onesimus zur Empfehlung dienen. Paulus drückt durch denselben aus, wie teuer ihm Onesimus geworden sei. Es habe nämlich der bekehrte Sklave also des Apostels Herz gewonnen, dass dieser anfänglich die Neigung und Meinung gehabt habe, ihn bei sich in Rom zu behalten. So mochte denn nun auch Philemons Vertrauen gegen Onesimus noch so tief erschüttert sein, es musste sich beleben und befestigen im Blick auf das ungemeine Zutrauen, das der geliebte Apostel demselben schenkte. Der Christ berichtigt die Meinung, die er über andre Menschen hegt, gern und willig nach dem Urteil, das bewährtere Christen fällen. Paulus war zunächst gesonnen gewesen den gläubigen Sklaven bei sich zu behalten zu dem Zweck, dass er ihm diente in den Banden des Evangelii und zwar an Philemons statt. Die Bande des Evangeliums sind die Bande, die Paulus in Rom um der Verkündigung des Evangeliums willen tragen muss und in welchen er diesen Brief schreibt; als Gebundener war Paulus mehr auf die Liebe der Glaubensgenossen angewiesen, als so lange er seinem apostolischen Berufe frank und frei leben konnte. Auf die Liebesdienste eines fremden Leibeigenen freilich, wie Onesimus war, hatte der Gebundene des Herrn ja an und für sich kein Anrecht. Aber er wusste, dass, wenn Philemon, der Herr des Onesimus, selber in Rom anwesend gewesen wäre, derselbe es sich nicht würde haben nehmen lassen, ihm in dienender Liebe erkenntlich zu sein; daher war es ein sehr erklärlicher Gedanke: Philemon ist nicht hier, wohl aber sein Sklave; der abwesende Herr wird nichts dawider haben, ja sich sogar von Herzen freuen, wenn er mir wenigstens durch seinen hier anwesenden Diener dienen kann. Solche Dienste durch Stellvertretung können ja im Reiche Gottes, das auf die große Stellvertretung Christi gegründet ist, nichts Befremdliches haben. Gläubige Christen unsrer Tage dienen z. B. dem Herrn an den Heiden auch durch Stellvertretung; das Gebot: „Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“, ist ein ganz allgemeines und geht alle Christen an; da wir nun aber dies Gebot nach seinem buchstäblichen Sinne nicht alle in Person erfüllen können, so suchen wir es zu erfüllen durch unsre Stellvertreter, die Missionare, indem wir für deren Ausbildung und Unterhalt die Hände falten und öffnen. In ähnlicher Weise sind die Seelsorger, die Diakonen und Diakonissen die Stellvertreter der dem Herrn an seinen Kranken und Elenden dienenden Gemeinde. Dennoch so gerechtfertigt es erscheinen konnte, wenn Paulus den ihm dienenden Onesimus als Stellvertreter Philemons bei sich behielt, hat der Apostel nur für einen Augenblick diesen Gedanken gehegt und ihn alsbald wieder fallen lassen; den Grund dafür gibt er im nächsten Verse an. Wir aber lernen hier zunächst, dass der wahrhaftige Jünger des Herrn Jesu nicht Alles, was er wohl wünschen möchte und nach dem bloßen Recht auch wünschen könnte, darum auch tun darf; hat er dessen auch Macht, so frommt doch nicht Alles. Ehe wir uns der Erfüllung unsrer eigenen, auch der sogenannten unschuldigen Wünsche hingeben, sollen wir wohl zusehen, ob wir nicht dadurch, dass wir das geringe Opfer eines kleinen Wunsches vollziehen, besser Gott zu Ehren und dem Nächsten zur Erbauung leben. Es ist schon viel widerwärtige Zwistigkeit unter Christen dadurch entstanden, dass irgend Einer seinen privaten Lieblingswunsch mit aller Gewalt, ohne Rücksichtnahme auf die Wünsche und Meinungen der Andern, durchsetzen wollte; und selbst aus den frömmsten und bestgemeinten Wünschen für die Förderung des Reiches Gottes ist oftmals bitteres Unheil erwachsen, wenn diese Wünsche mit egoistischer Hartnäckigkeit und hochmütiger Nichtachtung dessen, was andre Arbeiter im Weinberg Gottes meinten, geltend gemacht wurden. Ach, dass wir von dem demütigen Paulus lernen möchten, auch auf naheliegende Wünsche zu verzichten, wenn wir durch solche Verzichtleistung Eintracht und Frieden erhalten und die Besserung der Nächsten befördern können. Es gibt einen feinsten Egoismus der Gläubigen, eine Vergötterung vorgefasster Meinungen, einen Götzendienst der eigenen Wünsche; ans Kreuz damit, wenn nicht eine bittere Wurzel erwachsen soll! Seid nicht ärgerlich, schreibt unser Apostel 1. Kor. 10, 32. ff., weder den Juden, noch den Griechen, noch der Gemeine Gottes, gleichwie ich auch Jedermann in allerlei mich gefällig mache und suche nicht, was mir, sondern was Vielen frommt, dass sie selig werden; „seid meine Nachfolger, wie ich Christi.“ Was er an jener Stelle schreibt, das treibt er an dieser Stelle als ein Meister im Verzichten. Wohl dem Christen, der in Pauli Schule geht und von ihm lernt, nicht bloß ein großes einmaliges Opfer zu bringen, sondern auch tagtäglich den eigenen Willen und eigenen Sinn zu opfern auf dem Altare des Herrn. Was ein andrer Paulus, Paul Gerhard, in einem seiner Passionslieder dem Heiland in den Mund legt, davon sollte billig Tag für Tag auch unser eigener Mund übergehen: „Ja, Vater, ja, von Herzensgrund leg' auf, ich will Dir's tragen; mein Wollen hängt an Deinem Mund, mein Wirken ist Dein Sagen.“

V. 14. Aber ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, auf dass dein Gutes nicht wäre genötigt, sondern freiwillig. Das ist denn nun der erste Grund, weswegen Paulus gegen sein anfängliches Wünschen den Entschluss gefasst hat, Onesimus seinem Herrn zurückzusenden. Paulus hat eine solche zarte Scheu und fromme Achtung vor der Freiheit eines Christenmenschen, dass er es nicht über sich gewinnen kann, über den Diener auch eines christlichen Freundes für sich selber zu verfügen, so lange der Freund nicht in der Lage gewesen ist, seine eigene Willensentschließung kund zu geben. Wir sehen, welch' ein enges Gewissen Paulus bei einem weiten Herzen hat; obwohl er hätte sicher sein können, dass, wenn er Onesimus als Diener bei sich behalten hätte, Philemon seine nachträgliche Billigung mit Freuden gegeben hätte, so würde doch immer Philemon als moralisch gezwungen haben erscheinen können, und diesen bösen Schein will der Apostel durchaus vermeiden. Es gehört das eben mit zur Heiligung des christlichen Umgangslebens, auch im persönlichen und schriftlichen Verkehr mit andern Christen jeden bösen Schein zu fliehen. Nicht genötigt, sondern freiwillig sollte das Gute Philemons sein. Im alten Bunde gab es vom Gesetz vorgeschriebene, also erzwungene Opfer und freiwillige Opfer; im neuen Bunde soll uns das Gesetz ins Herz geschrieben sein, darum darf es im neuen Bunde auch nur freiwillige Gaben geben. Aus Zwang geleistete Dienste haben keinen eigentlichen inneren Wert. Was nun in unserm Verse speziell unter dem Guten Philemons zu verstehen ist, das Paulus nur als ein freiwilliges, nicht als ein genötigtes haben will, kann in der Tat nicht zweifelhaft sein. Es kann nicht die Freilassung des Sklaven gemeint sein, weder hier noch Vers 16 wird sie von Paulus gefordert. Es ist auch nicht die freundliche An- und Aufnahme des Sklaven gemeint; denn dann wäre aller Gedankenfortschritt von Vers 13 und 14 aufgehoben. Es kann nur ein solches Gute Philemons gemeint sein, das als erzwungenes hätte erscheinen können, wenn Paulus den Sklaven bei sich behielt, dadurch aber, dass er ihn zurücksendet, in Philemons freies Belieben gestellt wird, also die dem Apostel in seinen Banden zu Gute kommende dienende Liebe Philemons, ausgeübt durch Onesimus als Stellvertreter. Nicht als ob Paulus hier etwa in höflicher Form die Zurücksendung des Onesimus nach Rom zu seiner Bedienung forderte; nein, dieser Gedanke liegt seiner selbstlosen Frömmigkeit meilenweit fern; er denkt eben hier gar nicht an sich selbst, sondern nur an seinen lieben kolossischen Freund, von dem er nicht will, dass er ihm dienen soll ohne eigenes Wissen und ausgesprochenes Wollen. Was Paulus von Philemon nicht haben wollte, das will auch der Herr Christus von seinen Freunden nicht haben - erzwungene Liebesdienste. Wenn wir dem Herrn an den Heiden durch die Missionare zwar dienen, aber was wir für die Mission opfern, aus Zwang opfern, weil wir die Kollektanter1) nicht los werden können oder weil es gerade in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen wir uns bewegen, zum kirchlichen Anstande gehört, Beiträge für das Missionswerk zu geben, wahrlich dann ist unser Missionseifer vollständig wertlos. Übt Jemand Barmherzigkeit, so tue er's mit Lust; einen fröhlichen, willigen Geber hat Gott lieb. Und ist der Geist willig, aber das Fleisch schwach, so soll man doch nicht meinen, dass das bloße „sich Zwang antun“, da man öffentlich gibt, vielleicht reichlich gibt, um mit andern Wohltätern zu rivalisieren, aber heimlich mit Unwillen und Betrübnis hinter der Gabe hersieht, die man für das Reich Gottes gegeben hat, mit dem wahren Christentum bestehen könne. Vielmehr muss das unwillige Fleisch und die ganze Unlust des alten Menschen ans Kreuz geschlagen werden, und Gott selbst, der freundliche Geber aller Güter, muss in brünstigen Gebeten angerufen werden, dass er uns nach seiner Gnade das tiefinnerliche fröhliche Wollen gebe, auf dass wir Geber seien, wie die Blumen Blumen sind und geben, wie die Blumen blühen ohne Warum, ohne Zwang, weil wir nicht anders können.

V. 15. Vielleicht aber ist er darum eine Beit lang von dir gekommen, auf dass du ihn ewig wieder hättest. Das ist nun derjenige Vers unserer Epistel, der eine Art von Berühmtheit erhalten hat als Text für Leichenpredigten. Und wenn dieser Vers am Grabe eines in wahrhaftigem Glauben Vollendeten zum Troste für gläubige Hinterbliebene ausgelegt wird, so hat er ja allerdings seinem Wortlaute nach viel erbauliche und Tränen trocknende Kraft. Denn unsre Lieben, die uns im Glauben vorangegangen sind, sind nur eine Zeit lang von uns getrennt, nämlich die kurze Zeit hindurch, dass wir selber hienieden noch im Leibe dieses Fleisches pilgern müssen; wer weiß, wie nahe unser eigenes Ende? und ist es ein Ende im Glauben, so werden wir dann auf ewig mit unsern Frühvollendeten vereint werden. Aber so erlaubt es sein mag, unsern Vers wie ein Motto an Gräbern selig Entschlafener anzuwenden, so ergibt sich doch schon dem einfachsten Leser unserer Epistel von selbst, dass der wahre Sinn des Verses auch nicht das Mindeste mit Sterben und Begrabenwerden zu tun hat. Von dem lebendigen Onesimus ist die Rede, und warum Paulus ihn nicht bei sich behalten habe zu weiterem Genuss seiner hilfreichen Liebe, sondern ihn an seinen Herrn heimsende, dafür will er hier einen zweiten Grund angeben. Er ist von dir gekommen - allerdings zunächst durch seine eigene große Schuld, durch die Treulosigkeit, mit der er, der Sklave, sich selbst emanzipierte, durch seine Flucht, durch die der Undankbare sich den Diensten eines gütigen Herrn entzog; das Alles kann und will Paulus ja nicht leugnen, er behauptet es sogar ausdrücklich V. 11.: „Er war weiland dir unnütz“ und V. 18.: „So er dir etwas Schaden getan oder schuldig ist.“ Dennoch sagt Paulus nicht: „Er ist von dir gegangen, sondern: Er ist von dir gekommen“ (wörtlicher noch: Er ist von dir getrennt worden), um anzudeuten, dass menschliche Geschicke und Verhältnisse doch nicht nur durch der Menschen Torheit, sondern auch durch Gottes Weisheit, die darüber ist, geleitet und gelenkt werden, und dass was Menschen gedenken böse zu machen, Gott oft über Bitten und Verstehen gut macht. Eine Zeit lang ist er von dir gekommen - wie lange Onesimus von Kolossä abwesend war und wie lange er als ein verlorener Sohn in der Fremde umhergeschweift war, bis er bei dem Apostel in Rom eine Zuflucht gefunden, darüber lässt sich durchaus nichts Bestimmtes mehr ausmachen; und wenn der Ausdruck: „eine Zeit lang“ an und für sich auf einen kleinen Zeitraum hindeuten möchte, so ist er doch gerade hier gebraucht im Gegensatz zu dem ewigen Wiederhaben; gegenüber der Ewigkeit aber sind auch große Zeiträume klein und winzig. Es ist ganz verlorene Mühe, die Zeit der Trennung des Herrn und seines Sklaven auch nur mutmaßlich bestimmen zu wollen. Vielleicht ist er darum eine Zeit lang von dir gekommen, dass du ihn ewig wieder hättest. Vielleicht - es ist das eine ebenso zarte, als vorsichtige Rede. Es wäre unzart gewesen gegen den durch Onesimus doch so tief gekränkten und schwer beleidigten Herrn, wenn Paulus in zufahrender Weise gesagt hätte: Onesimus ist darum von dir gekommen, damit du ihn ewig wieder hättest. Paulus hätte sich dann so stark auf die Seite des Sklaven gestellt, dass Philemon ihn hätte der Parteilichkeit zeihen müssen. Aber eine solche entschiedene Behauptung des göttlichen Zweckes der Trennung des Onesimus und Philemon wäre auch unvorsichtig gewesen; denn entschieden hätte Paulus das nur dann behaupten können, wenn ihm in Betreff der Absichten Gottes über den Handel mit Onesimus besondere göttliche Offenbarungen gegeben wären, was offenbar nicht der Fall war. Paulus redet hier nicht aus einer speziellen Offenbarung heraus, sondern aus dem Glauben an die wunderbaren Gnadenfügungen des dreieinigen Gottes, der Alles beschlossen hat unter den Unglauben, auf dass er sich Aller erbarme. „Der so Vieles schon getan, hat noch mehr im Sinne“, das ist sein Gedanke; der den armen, törichten Knecht, nachdem er sich in sündlicher Weise von seinem freundlichen Herrn getrennt, mitten in dem Gewühl der großen Weltstadt Rom wie einen Brand aus dem Feuer gerissen und zu einem Schafe seiner teuer erkauften Herde gemacht hat, führt ihn jetzt Philemon zu als Genossen einer Gemeinschaft, die durch nichts getrennt werden kann. Vielleicht - so können wir den Sinn des Verses zusammenfassen - vielleicht hat es so geschehen müssen, damit der Bruderbund in Jesu Christo zwischen euch beiden für alle Ewigkeit geknüpft werde. Vielleicht, so können wir jetzt in berechtigter und nächstliegender Anwendung sagen, vielleicht nimmt unter Gottes gnädigem Walten auch das schmerzliche Zerwürfnis in deiner Familie, o Christ, in deiner Freundschaft oder Verwandtschaft noch ein gutes und seliges Ende! Vielleicht, o trauernder Vater, ist dein andre Wege gegangener Sohn auch nur für eine Zeit lang von dir getrennt und kommt einst, gedemütigt und gereinigt wieder zu ewiger Gemeinschaft! Vielleicht, weinende Gattin, bist du nur für eine Zeit lang von deinem von Gott abgekommenen Gatten getrennt, vielleicht liegt am Ende der Trennung die Bekehrung und die Vereinigung für Ewigkeiten! Vielleicht, denn, das dürfen wir getrost glauben, Gott seinerseits wird es an Zügen der Liebe nicht fehlen lassen; der Heiland will sie Alle, Alle sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel. Wer einen Menschen aufgibt, ehe seine Gnadenzeit verronnen ist, tut Gott Unehre an. Vielleicht nehmen auch die Missverständnisse, die ihr, gläubige Gatten, trotz gemeinsamer Gläubigkeit mit einander und an einander durchzukämpfen habt, noch ein siegreiches Ende, ja bei euch gewiss, wenn ihr anders beide rechten Glauben habt; auch die, welche sich herzlich in Jesu Christo lieben, müssen ja oft durch Missverständnisse gehen, für die es schlechterdings keine andre Erklärung gibt, als die des alten Wandsbeker Boten: Missverständnisse kommen daher, dass sich zwei Menschen nicht verstehen. Auch auf den Missverständnissen gläubiger Menschen ruht Gottes Segen; nur eine Zeit lang kann die dadurch verursachte Entfremdung und Trennung währen, nachmals gehören die Getrennten dann einander umso unzertrennlicher an; denn so viel auch Einer durch den Andern dabei leiden möge, die Liebe, welche Alles verträgt, Alles glaubt, Alles hofft, Alles duldet, führt endlich zur Versöhnung und zum ewigen Frieden. Pauli eigenes Leben bietet dafür zwei glänzende Belege. Paulus und Petrus, sie kamen Gal. 2 hart an einander; „da Petrus nach Antiochien kam, schreibt Paulus, widerstand ich ihm unter Augen, denn es war Klage über ihn gekommen“; dennoch begeht jene moderne Theologie, die die Geschichte des Urchristentums auf den Kopf stellt und Paulus und Petrus zu Repräsentanten zweier sich auf den Tod bekämpfender, feindlicher, christlicher Richtungen macht, schreiendes Unrecht; Paulus und Petrus haben sich nach jenem Vorgange in Antiochien erst recht brüderlich die Hände gegeben; noch am Abende seines Lebens (2. Petr. 3, 15.) führt Petrus zur Bestätigung seiner eigenen Lehre das Zeugnis des Apostels Paulus an und nennt ihn seinen geliebten Bruder zum Beweise, dass er gegen den, von dem er einst hart getadelt worden war und der ihn an Gaben und Leistungen für das Reich Gottes übertraf, auch nicht das Allergeringste im Herzen habe. Noch mehr Ähnlichkeit mit dem Verhältnis des Onesimus zu Philemon hat das des Marcus zu Paulus! Paulus hatte ihn auf seiner ersten Missionsreise mit nach Kleinasien genommen, aber Marcus verlor in Perge das Herz zur Reise, verließ den Apostel und entwich nach Jerusalem; und Paulus wurde deswegen so irre an ihm, dass er bei seiner zweiten Missionsreise sich lieber auch noch von Barnabas trennte, als dass er sich hätte bewegen lassen, ihn aufs Neue mitzunehmen. Die Trennung zwischen Marcus und Paulus währte also sehr lange und war nicht nur eine auswendige, sondern auch eine inwendige. Nichts desto weniger haben sich beide christliche Männer durch die Trennung hindurchgekämpft, um sich endlich gegenseitig recht und ganz zu verstehen; und diese unsre Epistel an Philemon ist selbst (im 24. Verse) ein Zeugnis, dass Marcus sich schließlich vollständig mit dem Apostel Paulus ausgesöhnt hat, denn er wird aufgezählt unter denen, die Paulo nach Rom nachgefolgt sind, sich hier der Ketten des Gebundenen nicht schämen und gemeinsam mit ihm ihre Grüße nach Kolossä senden. So soll es denn wahr bleiben und uns ein herrlicher Trost sein im Streite dieses Lebens: Auch auf Zerwürfnissen unter Christen ruht der Segen Gottes.

Es soll uns das ein Trost sein auch mitten in den religiösen Kämpfen der Gegenwart. Polemik muss ja sein, leider sein; aber in diesen unsern Tagen ist schrecklich viel Polemik auch unter denen, die allein durch das Blut Jesu Christi selig werden wollen; und statt zueinander zu stehen, wie Luther und Calvin jetzt, im Himmel, zu einander stehen, steht man nicht einmal so zu einander, wie Luther und Calvin vor dreihundert Jahren auf Erden zu einander standen, sondern hat die Gegensätze noch geschärft und vermehrt. Dazu wird der religiöse Kampf oft sehr bitter und gehässig geführt, und die Waffen werden hüben und drüben oft aus Rüstkammern genommen, deren ein Christ sich eigentlich schämen muss. Und während so die Menschenfischer mit einander kämpfen, wird der Fischfang versäumt, und das Netz des Satans füllt sich. Darüber Tränen zu weinen, kann sehr männlich sein; und es lässt sich auch annehmen, dass manche Seele in unsern Tagen darüber weint. Dennoch aber auch gegenüber diesen traurigen kirchlichen Zerwürfnissen zwischen den Gläubigen der Gegenwart gilt es nicht mutlos zu werden, sondern zu hoffen und zu harren. Vielleicht sind auch die Schwesterkirchen der Reformation darum eine - allerdings lange, lange - Zeit lang voneinander gekommen, auf dass sie endlich doch einmal für ewig vereint werden. Es gibt ja keine spezielle Offenbarung darüber, aber wir sprechen mit Paulus aus biblischem, evangelischem Glauben heraus: Vielleicht! Wir hoffen auf eine Union von Wittenberg und Genf im Geist und in der Wahrheit, ja wir sehen sie schon jetzt, namentlich in den gemeinsamen Werken dienender Liebe, die aus dem gemeinsamen Glauben an den Herrn Jesum Christum stammen. Wir hören auch nicht auf zu beten das innige Zinzendorfsche Unionsgebet: Der Du noch in der letzten Nacht, eh' Du für uns erblasst, den Deinen von der Liebe Macht so schön gepredigt hast; erinnere Deine kleine Schar, die sich so leicht entzweit, dass Deine letzte Sorge war der Glieder Einigkeit!

V. 16. Nun nicht mehr als einen Knecht, sondern mehr denn einen Knecht, einen lieben Bruder, sonderlich mir, wie vielmehr aber dir, beide nach dem Fleisch und in dem Herrn. Der Vers steht im allerengsten Zusammenhang mit den vorhergehenden. Darum hat sich Paulus seines Freundschaftsrechts entäußert und Onesimus nicht bei sich behalten, damit einerseits Philemon nicht eine ihm von außen aufgenötigte Güte beweise, damit andrerseits nicht durch menschliches vermessenes Eingreifen Gottes segnendes Walten an Philemons Hause gestört oder aufgehalten werde, dem zufolge der entlaufene Sklave nun als Bruder in Christo seinen Einzug in Kolossä hält. Du sollst nach Gottes wunderlichem Rat und Führen, so deutet der Apostel an, den Onesimus wieder haben nun nicht mehr als einen Knecht. Werden wir den Sinn des Apostels treffen, wenn wir aus diesen Worten die Forderung herauslesen: Begib dich deines Eigentumsrechtes an Onesimus!? Es ist dies oft behauptet worden. Aber wenn Paulus das als eine sich von selbst verstehende Forderung des Christentums angesehen hätte, dass Philemon seine Sklaven freizugeben hätte, dann hätte er ja den Onesimus auch ohne den leisesten Gewissensskrupel in Rom bei sich behalten mögen, dann hätte die ganze Zurücksendung des Onesimus keinen rechten Sinn, dann hätte er Zeit und Mühe, die er auf diesen Bittbrief verwandt, füglich für wichtigere Dinge verwenden können. Er sagt in diesen Versen aber eben gar nicht, was Philemon an Onesimus tun soll; das hatte er Vers 12 gesagt: „du wollest ihn annehmen“ und das führt er dann weiter von 17 an aus. Hier redet er aber offenbar davon, wie Gott der Herr den Onesimus in Philemons Haus zurückführt, nämlich den, der als ein flüchtiger heidnischer Sklave einst davon gelaufen war, nun nicht mehr als einen Knecht, sondern mehr denn einen Knecht, einen lieben Bruder. Als Onesimus früher in Philemons Hause war, da war er nichts weiter als ein Knecht, noch dazu ein sehr unnützer. Diesen Onesimus soll Philemon jetzt wieder haben und zwar zu ewiger, weit über diese Erdenzeit hinausreichender Gemeinschaft. Wenn dem so war, dann musste Onesimus anders, ganz anders heimkehren, als er ausgegangen war. Und er kam anders heim, nicht mehr als Einer, von dem man nichts weiter sagen konnte, als: „Er ist ein Knecht, ein unnützer Knecht!“ sondern mehr als ein Knecht, als ein an den Herrn Jesum gläubig gewordener, zu Ihm gründlich bekehrter Mensch, also als ein lieber Bruder. In der ewigen, nicht in der zeitlichen Beleuchtung zeigt der Apostel dem kolossischen Freunde den heimkehrenden Onesimus; nicht in das untergeordnete irdische Verhältnis, in welchem Onesimus zu Philemon stand, will der Apostel hier eingreifen, sondern das höhere geistliche, jenes wie der Himmel die Erde überragende Verhältnis, in welches Onesimus durch seine Bekehrung eingetreten, führt Paulus dem Philemon zu Gemüte. Zur Milderung, zur Verklärung des irdischen Verhältnisses zwischen Herrn und Knecht musste ja der Gnadenstand des Onesimus so oder so beitragen, aber eine gewaltsame Auflösung desselben fordert der Apostel wahrlich nicht. Äußerlich mochte Onesimus ein Sklave bleiben oder freigegeben werden, innerlich gehörte er nun auch zu dem Orden der Gotteskinder, dem Philemon schon längst angehörte; und hatte er einst in dem flüchtigen Onesimus einen Sklaven verloren, so gewann er nun in dem reuigen und um Vergebung bittenden Onesimus einen Bruder in Christo. Es konnte ja auch dem Onesimus selbst zunächst wahrlich nicht daran gelegen sein, aus dem äußerlichen Sklavenstande in den äußerlichen Stand der Freigelassenen überzugehen, sondern nur daran, Philemons Vergebung für seine frühere Treulosigkeit zu erlangen; und es musste, wenn anders seine christliche Entwickelung eine normale war, ihm sogar eine Herzenslust sein, als Christ seinem Herrn mit desto heiligerem Eifer und desto treuerer Sorgfalt zu dienen, je schlechter er sich einst als Heide gegen ihn betragen hatte; an Weiteres hatte er zunächst nicht zu denken, alles andere konnte er ruhig der gnädigen Hand seines Gottes, dessen Erbarmen so sichtlich mit ihm gewesen, überlassen. Dass Philemon sich seines Strafrechts begeben möge - auf das Entlaufen eines Sklaven stand Todesstrafe, ja daran war dem Onesimus, wie seinem väterlichen Beschützer Paulus gelegen, und das allerdings fordert Paulus in dem ganzen Briefe; aber dass Philemon sein Eigentumsrecht aufgebe, davon ist bis hierher wenigstens in dem Briefe nicht die Rede. Ja, dieser Vers hat sogar noch einen Ausdruck in sich, der fürs Erste wenigstens ein Beharren auf dem Eigentumsrecht Seitens des Philemon voraussetzt; das ist der Ausdruck „im Fleische.“ Ein lieber Bruder, so schreibt Paulus, ist nun Onesimus sonderlich mir weil er mein Sohn ist, den ich gezeugt habe in meinen Banden Vers 10 wie vielmehr aber dir beide nach dem Fleisch und in dem Herrn, das ist doch: dessen Eigentum er ist, denn darin bestand das Verhältnis des Onesimus zu Philemon nach dem Fleisch, nach der äußerlichen Seite dieses irdischen Lebens, und dem er nun nach dem höheren geistlichen Verhältnis in Christo ein Bruder, ein Glaubensgenosse, ein Miterbe der himmlischen Güter ist. Nach dem Fleische hat Philemon den Bruder zum Sklaven; im Herrn hat er den Sklaven zum Bruder - ein Verhältnis, das ja allerdings mit milder Macht in seiner Entwickelung die Sklaverei aufheben musste, wie ein edler Kern, wenn er reif wird, die Schale selber sprengt, das aber auch schon in seinen ersten Anfängen, auch so lange die äußerlichen gesetzlichen Schranken von Herrschaft und Sklaventum noch bestanden, einen Lichtpunkt christlichen Lebens bildete, wie ihn das Heidentum des Altertums auch in seinen glücklichsten Tagen nie gekannt hat.

Kennt ihn das Christentum unserer Tage? Die Sklaverei, Gott sei Dank, sie hat aufgehört. Das heidnische Recht, nach dem eine ganze große Klasse von Menschen wie Sachen geachtet wurden, mit denen die Eigentümer nach Belieben schalten und walten konnten, es gilt nicht in den christlichen Staaten. Wie es immer die Weise des Geistes Jesu Christi ist, bürgerliche Verhältnisse, die gegen Gottes Gebote streiten, nicht durch gewaltsame Revolutionen, sondern durch stille und heilige Einflüsse umzugestalten, so hat derselbe auch still und allmählig der letzte amerikanische Krieg ist eben eine Ausnahme den heidnischen Sklavenstand in den christlichen Dienstbotenstand umgewandelt, der ein Stand ist allen andern Ständen ebenbürtig, nämlich ein Stand freier Menschen mit gesetzlich festgestellten Pflichten und Rechten. Aber wenn nun so unsre dienenden Brüder und Schwestern ihrem Herrn und Heilande für Doppeltes zu danken haben, sowohl für ihr ewiges Seelenheil, das er mit seinem Blute ihnen erworben hat, wenn sie es anders im Glauben ergreifen, als auch für ihre irdische Freiheit, die sie voraus haben vor den dienenden Männern und Frauen des Altertums und des Heidentums - weisen sie nun ihre Dankbarkeit durch Dienen, wie das Evangelium es vorschreibt, zieren sie durch fromme Untertänigkeit die Lehre Gottes, ihres Heilandes, in allen Stücken? Ach zieht sich nicht durch die Geschichte der Christenheit auch eine Geschichte der Gesindenot, das ist nicht der Not, die das Gesinde hat, sondern der Not, die die Herrschaft hat durch das Gesinde? Gewiss viel, unendlich viel Schuld trägt an der Gesindenot die Herrschaft selbst, die vielfach vergessen hat, dass in der Bibel steht Ephes. 6, 9.: „Ihr Herren, lasst das Dräuen und wisst, dass auch euer Herr im Himmel ist und ist bei ihm kein Ansehen der Person.“ Das Geld, das bloße blanke Geld ist nimmermehr ein zureichender Lohn für die Ausnutzung der leiblichen Kraft der Diener und Dienerinnen; auch die Diener haben eine unsterbliche Seele, und die Seele will Liebe, nicht Geld. Andrerseits aber ist es ja klar, dass ein so edles Gut die Freiheit ist, doch Freiheit ohne christlichen Sinn ein sehr gefährliches Gut ist. Ja wären alle christlichen Dienstboten bekehrte Onesimusseelen, dann würde das freiere Verhältnis, in welchem sie zu ihren Herrschaften stehen, kein Strick für ihre Seele werden; aber Onesimusse sind selten geworden, und daher ist die Freiheit der Diener zur bösen Wurzel geworden, aus der die große Äußerlichkeit und die furchtbar rasche Veränderlichkeit des Dienstverhältnisses hervorgegangen ist. Dass es nach Petri 2, 18 eine heilige Christenpflicht ist, auch bei wunderlichen, d. i. harten und eigensinnigen Herrschaften demütig auszuharren, bis ein unverkennbarer Ruf von Gott andre Wege weist, das ist den allermeisten Dienstboten geradezu lächerlich; sowie man merkt oder auch nur zu merken meint, dass die neue Herrschaft wunderlich ist, kündigt man einfach und zieht anderswohin. Das eine Übel, die Sklaverei, ist aufgehoben; ein andres ist dafür da, die Gesindenot.

Wahrlich unsre christlichen Diener könnten von den christlichen Sklaven des Altertums viel lernen. Gerade an Sklaven, die in Demut und Gottergebenheit ihr hartes Los trugen und in Gehorsam um des Herrn willen ihre wahre Freiheit bewährten, hat in den ältesten Zeiten das Christentum seine Alles läuternde und heiligende Kraft über alle Maßen herrlich bewährt. Ein heidnischer Sklave sagte einmal zu seinem christlichen Mitsklaven: „Nun ist der Herr fort, wir können nun ruhen und uns gütlich tun.“ Da antwortete der Christ: „Der meinige ist noch da; von dort oben schaut er herunter, ob er lohnen oder strafen solle, darum will ich bei der Arbeit bleiben.“ Aber auch christliche Herrschaften können und sollen für ihr Verhalten zu den Dienern lernen von solchen biblischen Vorbildern, wie Philemon. Gründlich bekehrte Herrschaften ziehen meist auch ihre Diener hinterdrein in den seligmachenden Glauben, und ist nur erst auf beiden Seiten derselbe Glaube, dieselbe Liebe, dieselbe Hoffnung, dann vergessen die Herrschaften den Stolz und das Gesinde den Trotz; ein Feder lernt seine Lektion, so muss es gut im Hause stehen.

Verschiedenheit der Glieder ist nötig in dieser Welt, der Unterschied der Stände ist von Gott geordnet. Aber wo dieser Unterschied zur klaffenden Wunde wird, da hat der Teufel sein Werk. Ist die Wunde da, so kann nur Jesus Christus den heilenden Balsam geben. Im Glauben an Ihn liegt die Versöhnung für Herren und für Knechte. Amen.

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