Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 1, 1-4. Die Majestät Jesu.
Das erste Wort des Briefs führt uns sofort zu Jesus hin. Wir sollen ermessen, was uns Gott in ihm gegeben hat, und es schätzen lernen, dass wir ihn kennen. Das ist das erste und einzige, woran unserm Brief gelegen ist.
Weil sich der Verfasser gar nicht bei seiner eigenen Person aufgehalten hat, sondern sofort von Jesus spricht, ist er uns unbekannt geblieben. Die ersten Empfänger seines Briefs kannten ihn natürlich wohl, da ihnen der Bote, welcher ihnen den Brief überbrachte, darüber Auskunft geben konnte, von wem derselbe kam. Aber diese Kenntnis hat sich in der Kirche nicht erhalten. Wir finden in derselben, soweit wir zurücksehen können, verschiedene Vermutungen über den Verfasser dieses Briefs. In manchen Gemeinden dachte man an Paulus, in andern an Barnabas oder an einen von den Gehilfen, welche Paulus begleitet haben. Luther hat zu diesen Vermutungen noch eine weitere hinzugefügt und an Apollos gedacht. Das ist sicher, dass der Brief der apostolischen Zeit angehört, da er schon in einem der ältesten christlichen Schriftstücke, das wir nach dem neuen Testamente haben, angeführt wird. Aus den Bemerkungen am Schluss des Briefs ergibt sich ferner, dass der Verfasser in Verbindung mit Timotheus, also in den griechischen Gemeinden, als Lehrer tätig war. Aber Paulus selber war es nicht. Denn die Art, wie der Verfasser unsers Briefs denkt, spricht und lehrt, ist eine andere als diejenige des Paulus, und auch sein Verhältnis zu Jesus, zum Gesetz und zur Gerechtigkeit, die Richtung seines Glaubens und Hoffens ist von derjenigen des Apostels deutlich unterscheidbar. Hier spricht ein hochbegabter Christ und Lehrer aus der apostolischen Gemeinde, der vereint mit den Aposteln an der Gründung der Kirche gearbeitet hat, aber nicht ein Apostel selbst.
Wir kennen auch die ersten Empfänger des Briefes nicht. Die Überschrift sagt nur das eine, was der Brief überall bestätigt, dass sie Hebräer, d. h. Christen jüdischer Abkunft gewesen sind. Vielleicht hat der Verfasser zunächst nicht eine ganze Gemeinde, sondern einen kleineren Kreis von Männern im Auge, der ihm persönlich bekannt war. Er trägt ihnen nämlich am Schlusse auf, „ihre Vorsteher und alle Heiligen“ zu grüßen, 13, 24. Ob sie nun aber in Palästina wohnten oder in Rom oder in Alexandrien oder in Kleinasien, das wissen wir nicht. Dies dagegen lässt der Brief deutlich erkennen, dass er an angefochtene Männer gerichtet ist. Nicht als ob sie mitten in einer stürmischen Bewegung stünden, sondern ihre Anfechtung besteht in einer schleichenden Schwächung ihres innern Lebens. Sie sind müde und schlaff geworden. Der Brief ruft ihnen immer wieder zu: Haltet die Freudigkeit und Hoffnung fest; bleibt bei euerm Bekenntnis; ihr habt Geduld nötig; lauft den Kampf, der euch verordnet ist; stärkt die wankenden Knie! Diese Mahnung ist die Wurzel und das Herz des ganzen Briefs. Alles, was er an Lehre gibt, dient ihr und zielt auf sie.
Das Hindernis, das die jüdischen Christen aufhielt und schwankend machte, lag darin, dass sie auf den Ruhm und Vorzug Israels zurückblickten. Sie verglichen mit dem, was sie früher in der Synagoge hatten, das, was ihnen nun durch Jesus in seiner Gemeinde zugefallen war. Da wollte es ihnen scheinen, dessen sei wenig, lange nicht, was sie erwartet hatten. Sie fühlten sich enttäuscht und unbefriedigt. Was hatten sie durch Jesus neues gewonnen und empfangen zu dem hinzu, was schon in der alttestamentlichen Gemeinde ihr Eigentum gewesen war? War es denn der Mühe wert, Christ zu sein?
Wir müssen die Hoffnungen und Erwartungen im Auge behalten, die ein israelitischer Mann Jesu entgegenbrachte, wenn er ihn “Jesus Christus“ nannte. Dieser Name eröffnete eine unermessliche Aussicht, die Himmel und Erde umspannte. Bei diesem Namen dachten sie an Erneuerung aller Dinge, an Verklärung der Welt, an den Anbruch der Ewigkeit. Nun war aber das, was die Gemeinde besaß, von diesen Erwartungen sehr verschieden. Denn Jesus. war gestorben, zwar auch auferstanden, aber nun verborgen in himmlischer Unsichtbarkeit, und die Gemeinde war auf Glauben gewiesen. Sie war freilich mit dem heiligen Geiste reich begabt und zum Glauben und Lieben kräftig erweckt. Aber das war doch nur ein innerer Reichtum und es blieb dabei: unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott. In ihrer äußeren Erscheinung unterschied sich die Gemeinde wenig von der in der Synagoge versammelten Judenschaft. Auch dort waren sie fromm; auch dort beteten sie zu Gott und bewahrten in Glauben und Gehorsam sein Wort. Sie hatten auf mehr gerechnet, wenn einmal Christus gekommen sei, und in ihm nicht nur den Lehrer erwartet, der ihnen das göttliche Wort auslege, sondern den, der das Werk der Welterneuerung vollbringe und mit siegreichem Eingriff in den ganzen Lebenszustand demselben eine neue Gestalt der Herrlichkeit verleihe. Davon war der Gemeinde noch nichts zugefallen. War nun das die Erfüllung der Verheißung? Dazu kam die schwierige, an Leiden und Opfern reiche Lage, in die alle jüdischen Männer kamen, wenn sie sich zu Jesus bekannten. Von dem allem wären sie frei geblieben, wenn sie sich von der Judenschaft nicht getrennt hätten. Und sie hatten ja auch im Judentum echte, wahre Religion, Offenbarung Gottes, Anteil an seiner Vergebung und Verheißung, Zugang zu seinem Thron. Solcher Art waren etwa die versuchlichen Gedanken, welche diese Männer innerlich belasteten. Sie aufzurichten, ihre Ermattung zu überwinden, ihre innere Lähmung zu heilen, dazu dient der Brief.
Darum hat derselbe stets auf die Kirche einen großen Eindruck gemacht. Sie hat immer wieder mit solcher Mattigkeit zu ringen. Auch unter uns ist viel geknicktes Leben, viel Christentum, dem es doch nicht wohl ist bei seiner Überzeugung, das heimlich die Frage in sich trägt, ob es nicht besser wäre, davon zu gehen, ob es sich auch lohne, ein Christ zu sein. Freundlich, ruhig, mit reicher Lehre, allerdings auch mit tiefem Ernst bietet unser Brief solcher Ermattung und Unzufriedenheit das Heilmittel dar.
Er stellt uns sofort Jesus vor unser Auge. Was ist Jesus? Darum handelt es sich, wenn wir den Wert des Christentums ermessen wollen. Das apostolische Christentum war keine neue Lehre, keine neue Theologie oder Philosophie, keine neue Sitte oder Kultur, kein neues Gesetz und Religionsinstitut. Was war es denn? Es war Bekanntschaft mit Jesus. Die Jünger, welche die Gemeinden gründeten, kannten ihn; das war ihr Besitz, und ihre Arbeit an der Kirche war dies, dass sie auch ihr zur Bekanntschaft mit ihm verhalfen. Alles übrige im Christentum, seine Lehre, Sitte, Kultur und Religionsübung, ist hieraus erwachsen. Das alles ist die Frucht, welche die Kenntnis Jesu der Kirche eingetragen hat. Darum gibt uns auch unser Brief gleich von Anfang an zu bedenken, was Jesus ist. Er führt uns damit zur Wurzel des gesamten Christentums hin, zum Grundstein, der den ganzen Bau trägt. Es kann uns nichts in der christlichen, Gemeinde festhalten, wenn Jesus für uns Wert und Bedeutung verloren hat, aber, auch nichts uns von ihr trennen, wenn wir ihn erkannt haben in der Größe seiner Person und seines Werks.
Jesus ist zuvörderst der Bote Gottes, der uns Gottes Wort gebracht hat. Die Müden und Wankenden sagen: „was haben wir von Jesus?“ Nun, zunächst sein Wort. Das ist eine Gabe, die nicht erst der Zukunft angehört, sondern die wir von seinem Wandel auf Erden her besitzen. Wir wissen durch den Dienst der Apostel, was er geredet hat, und Gott hat geredet in ihm, B. 1. Die Unwilligen wenden ein: „ach! das sind nur Worte; wir möchten gerne Christi herrliche Werke sehen, wie sie die Verheißung uns versprochen hat.“ Allerdings ist Christi Wort noch nicht seine ganze Gabe an uns; aber wir haben zu bedenken, was wir an seinem Worte haben, nämlich Gottes Wort.
Was bedürfen wir, um der göttlichen Gabe und Gnade gewiss zu sein, was andres als sein Wort? Mag unser Auge ihn nicht erreichen, mag er uns unsichtbar sein, mögen wir ihn nicht fühlen noch empfinden und noch nichts empfangen aus dem Reichtum seines Lebens und seiner Herrlichkeit: wenn wir ihn hören, wenn wir ein Wort haben, welches sein Wort ist, so ist er uns nicht mehr fern und entzogen, so hat er sich unsrer angenommen und das Band ist gestiftet zwischen ihm und uns, und der Zugang zu ihm und seinen Gütern ist uns aufgetan. Wenn wir aber diese erste Gabe Gottes verachten und gering schätzen, wie wollen wir irgendeine weitere Gabe von ihm erlangen?
Gleich von Anfang an schaut der Brief rückwärts auf das, was Israel besaß. Seine Leser vergleichen den alten und den neuen Bund mit einander; er tut es auch. Sie tun es missmutig mit einem unwilligen Herzen, das sich nach ihrer alten Stellung zurücksehnt. Er tut es, um ihnen zu zeigen, wie alle Gaben des alten Bunds im neuen ihnen erhalten sind und wie sie zugleich durch denselben noch viel reicher begabt und hoch bevorzugt sind vor Israel.
Der Grund, auf dem Israel erbaut ist, und der Vorzug, den es besitzt, besteht darin, dass Gott zu den Vätern geredet hat. Dieselbe Gabe haben wir auch empfangen. Auch die Gemeinde Jesu ist auf Gottes Wort gestellt, wie Israel, als auf den bleibenden, unverrückbaren Grund ihrer ganzen Existenz. Wo wollen denn die Leser bleiben, wenn ihnen Gottes Wort nichts gilt? Sie trennen sich damit nicht nur von Jesus, sondern auch vom wahren Israel, und brechen nicht nur den neuen, sondern auch den alten Bund. Wie können sie noch Israeliten sein, wenn sie Gottes Wort verachten? Und wie können sie als Israeliten ohne Falsch Gottes Wort ehren, ohne dass sie zu Jesus kommen und bei Jesus bleiben, in welchem derselbe einige Gott, der zu den Vätern sprach, wiederum geredet hat?
Israel erhielt einen großen Reichtum von göttlichen Worten. Zu vielen Malen und in mancherlei Weise redete Gott in den Propheten zu den Vätern. Unser Brief begehrt nicht im mindesten, das was Israel empfangen hat, zu verkleinern oder herabzusetzen, so dass er nur die Schwäche und Lücke in seinem Besitz hervorhöbe. Nein! Er fasst zuerst das Eigentum Israels nach seiner ganzen Größe ins Auge mit allem Reichtum, den es in sich schließt, und dann zeigt er, wie das, was Christus uns gegeben hat, über diese reichen Gaben noch weit hinausreicht. Gottes Wort begleitete Israels Geschichte in immer neuer, lebendiger Fortsetzung. Er gab nicht etwa Abraham ein für alle Mal, was er den Menschen sagen wollte, so dass alle späteren Zeiten nur auf das verwiesen wären, was dort geredet worden ist, sondern Gott erweckte auch unter den späteren Geschlechtern neue Boten seines Worts, und durch Gottes unermüdliche Geduld haben es auch diese wieder gehört, was Gott zu ihnen sprach. Auch dem Inhalt und der Art seiner Rede gab Gott eine große Mannigfaltigkeit. Sie bahnte sich verschiedene Wege zu den Vätern, stellte sich ihnen in mannigfacher Form und Fassung dar, öffnete ihnen dadurch mancherlei Aussicht und Einblick in Gottes Willen und Ziel, und blieb doch die einige und selbige Wahrheit, das einträchtige feste Wort Jehovahs, der da sein wird, wie er ist. Anders sprach das Gesetz mit den Vätern in seiner königlich ernsten Sprache, anders die Weissagung mit ihrer herzlichen Klage, ihrem brennenden Bußruf und ihrem lockenden Trost. Anders redete Gott mit dem Volke, wenn er in den Propheten das gläubige Gebetswort des Psalms erweckte, anders, wenn er sie in die sinnende Weisheit führte, welche die Rätsel des menschlichen Lebens deutet, anders, wenn er ihnen das Gesicht gab, das sie der Welt entrückte und sie die Herrlichkeit Gottes schauen ließ. Wie könnten wir uns verwundern, wenn Gott noch einmal geredet hat und auch jetzt wieder anders als vordem? Gerade jene stückweise und wechselnde Gestalt des göttlichen Worts zeigt an, dass der Rede Gottes noch die Krone fehlte, die ihr den Abschluss und die Vollendung gibt, dass Gottes letztes und höchstes Wort noch nicht an die Väter ergangen ist. Dieses vollendende Wort Gottes haben wir gehört.
So oft auch die Väter Gott vernommen haben, so ist uns dennoch mehr gegeben als ihnen. Denn zu ihnen hat Gott in den Propheten geredet, zu uns im Sohne. Mit den Propheten sprach Gott als mit seinen Knechten, die er zu einzelnen Dienstleistungen. mit seinem Wort ausrüstete. Sie empfingen ihre besonderen Aufträge und zur Ausrichtung derselben machte ihnen Gott sein Wort inwendig vernehmlich und fasslich, damit es durch sie zu den Vätern gelange. Daher wird ihnen dasselbe auch nur teilweise gegeben; denn es wird nach dem besonderen Auftrag und Zweck, dem sie dienen sollen, bemessen und umgrenzt. Im Sohne wohnt dagegen das Wort des Vaters ganz. Er hat des Vaters ganzes Vertrauen und volle Liebe und den ganzen Einblick in seinen Rat und Willen. Mit ihm redet der Vater offen ohne Hüllen und es wird ihm nichts verschwiegen von dem, was in des Vaters Herzen ist. Darum hat Jesus auch zu denen, die das alte reiche Wort Gottes besaßen und darin Meister waren, gesagt: niemand kennt den Vater als der Sohn. Er konnte nicht anders urteilen, wenn er an seinen eignen Umgang mit dem Vater und an seinen Einblick in den Gotteswillen dachte. Aber er fährt fort: niemand als der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. Und weil er ihn uns offenbaren will und soll, darum redete er mit uns und gab uns sein Wort, das Wort, das der Vater zuerst in ihm selbst geredet hat, und dies sein Wort ist nun im höchsten und eigentlichsten Sinne Gottes Wort.
Allerdings hat uns Jesus die Geheimnisse der göttlichen Herrlichkeit nicht gedeutet, sondern seine Unterweisung steigt zu den Unmündigen herab und ist die schlichte, durchsichtige Zusammenfassung dessen, was schon die Schrift enthielt. Allein diese einfachen Worte Jesu treten in ein hohes Licht, wenn wir bedenken: da hören wir die Weisung und den Willen dessen, der mit Gott wie der Sohn mit dem Vater verkehrt. Es mag uns wohl scheinen, es sei eine Kleinigkeit, wenn Jesus am Tische des Zöllners sagte: die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Aber wenn wir bedenken: so schaut der das menschliche Leben an, der Gott kennt, wie der Sohn den Vater kennt, so wird uns dies einfache Wort zum unersetzlichen Edelstein, zum Eckstein unseres Lebens, zur Zuversicht und Krone unseres Geistes. Wir mögen wohl sagen, andre weise Meister haben auch gelehrt, dass das Gesetz Gottes in der Liebe seine Summe und Erfüllung hat. Aber wenn wir erwägen, dass uns der Sohn dies sagt, dem der Sinn und Wille des Vaters gegenwärtig und aufgeschlossen ist, da wächst solch ein Wort heran zur Majestät und steht vor uns als das Weltgesetz, nach welchem unser und aller Lebenslauf regiert und gerichtet wird. Und wie mit diesen, so verhält es sich mit allen Worten Jesu, so schlicht sie sind.
Am Ende dieser Tage hat Gott im Sohne zu uns geredet, sagt der Brief. Er hofft mit der ganzen ersten Gemeinde, „diese Tage,“ nämlich die Tage der irdischen und zeitlichen Weltgestalt, nehmen rasch ein Ende und der Anbruch des Himmelreichs komme bald. Aber nicht dies ist bei dieser Hoffnung die Hauptsache, wie kurz oder lang die Frist sei, die nach Gottes Rat der irdischen Ordnung der Dinge noch zugemessen ist, und wann diese Tage ihr Ende finden; sondern der Brief will uns vor allem vor Augen halten, wie wichtig das Wort Jesu für uns ist. Wir haben uns nicht nach einem andern und höheren Wort Gottes umzusehen und werden uns vergeblich einen neuen Boten Gottes wünschen. Was uns Gott sagen will, ist uns durch Jesus gesagt. Darauf ist seine Kirche gestellt als auf die Grundlage, bei der sie zu bleiben hat. Was noch aussteht und nachkommt, das ist nicht mehr Wort, sondern Werk, Gottes richterliche Erweisung an der Welt, welche seiner Gemeinde die Erhöhung aus der irdischen und zeitlichen Art ins ewige Leben bringt. Und die Bereitung und Zurüstung zu diesem Tag Gottes, an dem Gott an uns und aller Welt sein Werk vollbringt, haben wir und alle Zeiten und Geschlechter empfangen in Jesu Wort.
Christus ist jedoch noch mehr als der Bote des göttlichen Worts; er ist weiter derjenige, den Gott zum Erben aller Dinge eingesetzt hat, V. 2. Er hat ein Eigentumsrecht erhalten an uns und alle Dinge. Das Ende des Weltlaufs und unsers eignen Lebenslaufes wird zeigen, was Jesus ist. Dann wird er in der Mitte aller Kreatur stehen als der, dem alles untertan geworden ist, der über allem als der Herr waltet, von dem wir abhängen, der uns unsre Stellung, Wohnung und Gabe im Hause seines Vaters zuweisen und in uns den Bereich seiner Macht, Verherrlichung und Offenbarung haben wird. Und zwar darf er schon jetzt alles sein Eigentum heißen; denn das Anrecht an diesen Besitz hat ihm Gott schon jetzt in seine Hand gelegt. Das gibt dem Worte Christi eine unvergleichliche Bedeutung. Wir kennen und hören in ihm den, dem wir und alles, was besteht, für die Ewigkeit zum Eigentum gegeben sind.
Gott, der Herr über alle Dinge, der über sie nach seinem königlichen Recht verfügt, hat ihn zu ihrem Erben eingesetzt. Wie Jesus sein Wort von Gott empfängt, so hat er auch seine Macht aus ihm. Weil er der Sohn ist, wird er wie zum Boten des göttlichen Worts, so auch zum Erben aller Dinge. Weil er sich als Sohn unter dem Vater hält, darum steht er schließlich über der ganzen Welt als ihr Herr. So wirft seine Macht keinen Schatten auf Gott. Christus bedeckt und verdunkelt Gott nicht. Im Gegenteil, in seiner Macht erscheint Gottes Macht, wie uns in seinem Worte Gottes Rede hörbar wird. Indem ihm Gott alle Dinge übergibt, zieht er alles in sein Reich und Regiment und macht alles seinem Rat und Willen untertan und seiner Güte voll. Dadurch, dass du Jesu Eigentum werden wirst, wirst du Gottes Eigentum.
Vom Ende und Ausgang des Weltlaufs sollen wir unsern Blick auf dessen Anfang zurückwenden, damit wir auch dort das Werk und die Macht Christi sehen. Er ist weiter der, durch welchen Gott die Welt auch machte, V. 2. Der erste Satz dieses Verses sagte: Gott hat seine Schöpfung für seinen Sohn gebaut, damit sie sein Reich sei, das ihm gehört. Dazu fügt nun der zweite Satz den weitern Gedanken hinzu: ihn, auf den Gottes Absicht zielt, hat er auch zu tätiger Teilnahme bei der Ausrichtung seines Werks berufen; ihm strömten alle Kräfte Gottes zu; in ihn legte er seine schöpferische Macht nieder, dass er die Kreatur bilde aus des Vaters Rat und Kraft.
Es wäre Torheit, wollten wir an ein Bedürfnis denken, das Gott nötigen würde, sich im Sohne den Gehilfen zu geben. Gottes Macht ist nicht durch irgendwelchen Mangel gehemmt und nicht durch Bedürftigkeit bewegt. Es ist seine freie eigene Liebe allein, die ihn bestimmt.
Aber diese seine Liebe schenkt er seinem Sohne. Sie will ihm ein Erbe schaffen, und sie erweist ihre Wahrheit und Vollkommenheit darin, dass sie ihn zum Wirken beruft und zum Schaffen ausrüstet, so dass er als Gottes Gehilfe dessen Schöpfungsrat ins Leben führt. Er darf nicht nur hören, was der Vater spricht, sondern auch tun, was der Vater tut. Er darf Gottes Werk ausrichten und dies schon am Schöpfungstag. Das ist der Weg, auf dem Gottes Liebe dem Geschöpf zuströmt. Denn dieses wird eben dadurch zur Herrlichkeit und Seligkeit erhöht, dass es in des Sohnes Eigentum übergeht.
Wenn es sich um das Verständnis des göttlichen Schaffens handelt, so haben wir freilich allen Grund, gegen unsre Gedanken vorsichtig zu sein. Denn Gottes Schaffen ist das Geheimnis, das wir nicht durchblicken, und zwar darum nicht, weil sich unser Denken und Erkennen von unserm Handeln und Wirken nicht absondern kann, sondern mit dem Beruf und der Arbeit, die uns aufgegeben sind, in Einklang bleibt. Das Auge ist uns gegeben, damit es unsre Hand regiere, und das Erkennen uns verliehen, damit es unser Wirken leite. Nun haben wir aber Gottes Schaffen nicht nachzumachen; das macht er und dies sein Werk steht hoch über unserm eignen Wirken. Darum steht es auch über allem unserm Begreifen, und es gibt keine Theorie und Lehre, die uns deutlich machen könnte, wie Gott Dinge oder Menschen schafft. Nur der Unverstand kann sich hiergegen auflehnen. Ein verständiger Geist wird willig Gottes Überlegenheit über uns ehren und seinem Schaffen seine Unbegreiflichkeit freudig lassen. Aber wenn wir auch nicht mit eigenmächtigen Gedanken die Grenzen des göttlichen Geheimnisses überspringen sollen, so dürfen wir doch das Licht, welches das apostolische Wort uns bietet, an uns ziehen und nützen, und da ist es eine große Wahrheit, dass wir ganz und gar schon vom Ursprung unsers natürlichen Lebens an von Christo abhängen, dass alles, was wir von Gott empfangen, bis auf unsre Existenz hinab, uns durch ihn zukommt, dass die Liebe des Vaters zum Sohne die Wurzel unsers ganzen Daseins ist und den Grund aller Kreatur ausmacht. Und der, durch den wir unser Dasein haben, stand unter uns und hat zu uns geredet; sein ist das Wort, das vor uns liegt.
Diese beiden Sätze verbinden das, was Christus ist, mit den beiden heiligsten und obersten Überzeugungen eines jeden Israeliten. Ein Israelit stand darauf: unser Gott ist der Schöpfer aller Dinge, und: unserm Gott wird noch alles untertan. Das war ihm endlich durch das Gesetz und die Propheten so eingeprägt worden, dass er nicht mehr daran rüttelte, sondern dies als heilige Wahrheit in Ehren hielt, die seinen Unterschied von den Heiden bildete. Seht auf Christus, sagt unser Brief, in ihm findet ihr Gott, so wie ihr ihn kennt, den Schöpfer, der die Welt mit dem Wechsel ihrer Zeiten gemacht hat, und den Vollender, der sich am Ende dieser Zeiten alles untertan machen wird. Nur im Sohne findet ihr ihn, denn durch ihn hat er alles geschaffen und durch ihn macht er sich alles untertan, indem er es dem Sohn zum Erbe gibt.
Was ist denn dieser Sohn, durch den Gott sein ganzes Werk von der Weltschöpfung bis zur Weltvollendung vollbringt? Darauf antwortet der nächste Sat, V. 3, der Christi ganzes Wesen und Werk in eine große Übersicht zusammenfasst. Das erste Wort: er ist der Glanz der Herrlichkeit Gottes und das Gepräge seines Wesens, schildert ihn in seinem Verhältnis zu Gott. Dazu braucht der Brief ein doppeltes Bild, einmal das Bild vom Licht, das seinen Schein und Glanz von sich ausgehen lässt, und sodann das Bild von einem Stempel, Siegel oder einer Münze, in die scharf und deutlich eine Figur geschnitten ist, an der sie erkennbar ist. Nicht das wollen diese Bilder erklären, wie Gott seinen Sohn in seinem ewigen Wesen bildet und erzeugt. Dieses Geheimnis des göttlichen Lebens hat das apostolische Wort niemals berührt. Nicht wie der Sohn wird, sondern was er ist, was wir darum in ihm finden und an ihm haben, sagt uns dieses Wort. Wie der Glanz nichts ist an sich selbst, sondern dem Licht entströmt, welches leuchtet, und wie man die Figur nicht von der Sache ablösen kann, an der sie haftet, so schöpft der Sohn alles, was er in sich hat, aus dem Vater. Er will nichts durch sich selber und für sich selber sein; er kann es nicht. Dass des Vaters Herrlichkeit in ihm leuchte mit hellem Glanz und des Vaters Wesen in ihm erscheine in einem deutlichen, fasslichen Bild, das ist sein Verlangen, seine Bestimmung und sein Werk. Solches Verlangen bleibt im Sohne kein unerfülltes Suchen und Sehnen. Nein! der Vater macht ihn zum Strahl und Glanz seiner Herrlichkeit, so dass er sie offenbaren kann und darf, wie der Schein das Licht offenbart. Er macht ihn zum Bilde seines Wesens, so dass es in ihm Gestalt, Sichtbarkeit und Gegenwart erhält.
Darum ist er für uns der Weg zu Gott, der Mittler mit ihm, die Pforte, durch die wir den Vater finden. Die Herrlichkeit Gottes ist uns verhüllt, und eine Scheidung steht zwischen ihm und uns, und Gottes Wesen ist uns unzugänglich; wer blickt in diese Höhe empor? Wir Menschen wissen und sehen nichts von Gottes Herrlichkeit. In Christo aber scheinet sie uns an. Hier ist uns ein Bild gegeben, an dem wir sehen, was Gott ist, so dass uns Erkenntnis Gottes in ihm zugänglich wird. Das ist die erste und zugleich höchste Gabe Christi, die alles andere in sich schließt, dass in ihm uns Gott nicht mehr verborgen und verschlossen ist, sondern uns nah und fasslich wird. Wie könnten wir uns von Jesus scheiden wollen? Alle Triebe, die in uns nach Gott und seiner Herrlichkeit sich strecken, weisen uns zu Christo und müssen uns bei ihm festhalten, in welchem uns dieselbe allein entgegenleuchten kann.
Sicherlich beschreibt der Apostel damit Christi ewiges Wesen. Er steht in solcher Einheit mit dem Vater vor und über aller Zeit. Aber dieselbe hört auch nicht auf in seiner irdischen Existenz. Da geht er freilich völlig in unsre menschlichen Schranken und Maße ein und das Fleisch liegt, wie der Brief später sagt, als der Vorhang über der Herrlichkeit Gottes. Aber er ist und bleibt auch so der Sohn, der uns den Vater verklärt und erkennbar macht. Freilich wird diese Gabe Jesu noch ungleich größer und herrlicher werden, wenn wir ihn sehen in seiner himmlischen, ewigen Gestalt.
Das zweite Wort geht auf Jesu Verhältnis zur Welt: er trägt alles mit dem Wort seiner Kraft. Ihm ist die Welt aufgebunden, wie sie in ihm ihren Ursprung und ihr Ziel besitzt, und sie ist ihm keine Last. Sie zu erhalten, zu leiten und zu ihrem Ziel zu führen, das ist sein Beruf. Das, womit er sie erhält, bewegt und zu ihrer Vollendung bringt, ist sein Wort, in dem die Allmacht Gottes lebt. Wie könnten wir ihn lassen? Wir würden uns damit von der Wurzel unseres Daseins trennen. Sind wir von ihm getragen, so haben wir uns an ihm zu halten. Ist das Wort das Mittel, durch das er uns erhält und trägt, so ist das Wort auch das Band, durch welches wir uns an ihn halten, dadurch dass wir es bewahren in uns.
Und nun kommt die große Tat des irdischen Lebens Jesu, die Frucht seiner Erscheinung im Fleisch, der Gewinn seines Leidens, Sterbens und Auferstehens: er stellte eine Reinigung von den Sünden her. Allerdings hat er uns mit seinem Kommen die Vollendung des Himmelreichs noch nicht gebracht und das Schauen der göttlichen Herrlichkeit noch nicht vermittelt. Aber fragt euch doch, sagt der Brief, ob ihr das, was ihr begehrt, auch empfangen könnt! Könnt ihr Gott schauen, Gottes genießen, ihr Unreinen? Oder ist die Sünde nicht Unreinheit, und darum Ausschluss aus dem Verkehr mit Gott, so gewiss nichts Befleckendes in Gottes Nähe tritt? Seht doch, dass Jesus nicht umsonst hier gewesen ist, sondern euch gerade diejenige Gabe erworben und hinterlassen hat, die ihr zuvörderst bedürft und an der jeder weitere Genuss der göttlichen Güter für euch hängt: Reinigung, die euch von euern Sünden löst. Er, der die Herrlichkeit Gottes in sich hat als hellen Glanz, ließ sich mit unsrer Unreinheit ein, und gab sich damit ab, sie wegzuschaffen, und hat damit für uns getan, was wir selbst nicht tun können und was doch die Bedingung alles Lebens für uns war.
Und das alles endete darin, dass er sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hat. Dorthin weist ihn sowohl seine Gemeinschaft mit Gott, als sein königliches Walten über die Welt, als sein heiliger Dienst an uns Sündern. Was können wir noch Höheres suchen? Ist dieser Christus nicht groß genug für uns? Der Himmel enthält nichts, was ihm vergleichbar wäre. Er ist größer geworden als die Engel. Wie hoch er über ihnen steht, das lässt sich an seinem Namen ermessen, der an ihm kein leerer Titel ist, und nicht eine Anzeige bildet, hinter der nichts stünde, der ihm vielmehr auch vor Gott zusteht nach seiner vollen Wahrheit und Kraft. Dieser Name ist der Sohnesname, kraft dessen er auch Herr und Gott zu heißen verdient. Dieser Name ist in der Schrift zum Voraus für ihn bereitet, und nun ist er ihm zugefallen als sein Erbe und Eigentum, das niemand mit ihm teilt.
Mit diesem feierlich erhabenen Eingang sind die Grundgedanken des Briefs bereits sehr vollständig ausgesprochen. Der erste Satz ist die bündige Zusammenfassung seines ganzen Inhalts. Es sind an der irdischen Erscheinung Jesu zwei Hauptzüge herausgehoben: erstens kommt er mit dem Worte Gottes zu uns; sodann befreit er uns von der Unreinheit unsrer Sünden dadurch, dass er durch den Tod hindurch zum Throne Gottes geht. Zu diesen beiden Gaben Jesu werden wir bei der folgenden Vergleichung des alten mit dem neuen Bunde immer wieder hingeführt als zu dem, was den Besitz und das Eigentum eines Christen ausmacht. Und dieses doppelte Amt Jesu ist hergeleitet aus seinem Sohnesverhältnis zu Gott, das ihn zum Mittler zwischen Gott und uns macht, daraus, dass der verborgene Gott, zu dessen Licht wir nicht hinzukommen, uns von Anbeginn an in ihm den Weg zu sich und seiner Herrlichkeit gegründet hat. An diese Einheit Christi mit dem Vater wird uns auch die folgende Darstellung beständig erinnern als an den Grund, aus dem alle Macht und Segnung Christi stammt.