Schick, August Hermann - Die Menschwerdung des Sohnes Gottes - II.
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen! Amen.
“Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Und das Wort ward Fleisch, und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.“
Text: Evangel. Joh. 1, v. 1 u. 14.
Dies sind auch heute unsere Textesworte. Der Herr aber heilige uns in seiner Wahrheit. Sein Wort ist und bleibt die Wahrheit. Amen.
In Jesu Christo geliebte Zuhörer!
Wir haben am gestrigen Festtage das Wesen der Weihnachtstat als die Grundlage aller Weihnachtsfeier ins Auge gefasst und dasselbe in dem Worte des Apostels ausgesprochen gefunden: Das Wort ward Fleisch. Wir haben ferner den Sinn dieser Verkündigung zu erforschen gesucht und denselben als die Menschwerdung des Sohnes Gottes bezeichnen müssen. Aber freilich - und das drängt sich uns weiter auf - konnte diese Annahme der menschlichen Natur nicht auf dem Wege der natürlichen Fortpflanzung vor sich gehen, so dass der Sohn Gottes auch in die natürliche Sündhaftigkeit des menschlichen Geschlechtes verwickelt worden wäre, sondern sie musste mittelst einer vom heiligen Geiste ausgehenden übernatürlichen Wirkung geschehen. Darauf legt die Heilige Schrift das Hauptgewicht, das betonen die Bekenntnisschriften unserer Kirche und daran muss auch uns Alles liegen. Der Sohn Gottes musste die menschliche Natur zu der seinigen machen, ohne von der menschlichen Sünde durch die natürliche Zeugung berührt zu werden. Wir glauben, dass Jesus Christus als wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren, empfangen von dem heiligen Geist und als wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren ist. So ward er Fleisch und doch kein sündiger Mensch, so ward er wahrer Mensch durch die Geburt von einem Weibe und doch nicht der Sünde unterworfen.
Man muss hier genau den Unterschied zwischen menschlicher Natur, in die der Herr einging, und einem Menschen als einer selbstständigen Person festhalten. Der Sohn Gottes ist nicht aus einer göttlichen Person zu einer menschlichen Person geworden, so dass etwa die Gottheit in die Menschheit übergegangen wäre, was unmöglich ist. Er hörte bei der Menschwerdung nicht auf, der zu sein, der er von Ewigkeit her war. Er blieb Gott nach wie vor. „Ich und der Vater sind Eins.“ „Wer mich sieht, der sieht den Vater“, solches bezeugt der Herr während seines Erdenlebens. Aber er verzichtete eine Zeit lang auf die Herrlichkeitsgestalt, die ihm als Sohne Gottes eigen war und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. So vereinigte er also die zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, in sich zu einer gottmenschlichen Person; er ist von da an immer und überall der Gottmensch. Und so nur, angetan mit dieser Doppelnatur, ist er Jesus Christus, unser Heiland. Auf diese Weise ging der ewige Liebesrat Gottes an der Menschheit in Erfüllung. Das heißt. Das Wort ward Fleisch.
So viel aber auch über die Menschwerdung des Sohnes Gottes gepredigt und gelehrt werden mag, wir bleiben immerdar vor dieser Weihnachtstat wie vor einem unergründlichen Geheimnis stehen, in das auch die Engel gelüstet zu schauen. Alles was in, an und von Gott ist, geht über unser natürliches Begreifen hinaus. Das sind Dinge, die mit anderem Maße gemessen werden wollen als dem des geringen Menschenverstandes. Die Offenbarung Gottes ist das Gebiet des Übernatürlichen. Das Hereingreifen Gottes aus seiner unsichtbaren Herrlichkeit in diese Welt ist das Gebiet der Wunder. Und wo die Wunder beginnen, da muss auch der Glaube anfangen, der feste Verlass auf die Wahrheit dessen, was geschrieben steht. Die ganze Welt beruht auf dem Wunder der Schöpfung. Das Christentum beginnt mit einem noch größeren Wunder: Das Wort ward Fleisch, Gott ward Mensch. Was dieser menschgewordene, im Fleische erschienene Sohn Gottes auf Erden getan und gewirkt hat, das sagt dir das ganze übrige Kirchenjahr. Willst du aber das Alles zu deinem Heile aufnehmen, so musst du zuerst mit der Weihnachtstat im Reinen sein, sonst stimmt das Andere nicht. Wie kannst du Karfreitag feiern, wie kannst du Ostern halten, wenn du nicht weißt und glaubst, was es mit diesem Jesuskinde auf sich hat. Wir stehen hier vor dem allerbedeutsamsten Entweder-Oder. Entweder ist es der ewige Sohn Gottes, der durch ein Wunder des Allmächtigen vom heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau Maria geboren ein Mensch geworden ist wie wir, doch ohne Sünde und dennoch dabei wahrer Gott geblieben ist, und dann versteht sich alles Übrige, sein Leben, Leiden und Sterben, seine Auferstehung und Himmelfahrt wie von selbst; oder er ist das nicht, dann verwandelt sich alles Folgende in ungelöste und unlösbare Rätsel. Wer es ist denn dann, um weswillen wir Weihnachten feiern? Ein bloßer Mensch? Ein jüdisches Knäblein, das nicht einmal in der Ehe erzeugt wäre? Was wären die Weissagungen auf dieses Kind? Was wären die 4 Evangelien mit ihren Berichten über dieses Kind, über den zwölfjährigen Knaben, über den Mann der Armut und Niedrigkeit, der Leiden und der Schmerzen, der unter ihnen wohnte und an dem sie doch eine Herrlichkeit sahen, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit? Was wären die Apostel, die sämtlich ihr Gut und Blut für diesen Mann dahingaben? Was wären die heiligen Sakramente? Was wäre das ganze Christentum mit seiner Geschichte, mit seinen Hoffnungen und Verheißungen? Du musst dir darüber klar werden, ob du mit deinem ganzen Wesen und Leben in diese Kette von wunderbaren Begebenheiten und Ereignissen eintreten willst, deren erstes Glied die Weihnachtsbotschaft ist: Das Wort ward Fleisch; denn dann erst bist du Christ. An dieser Tatsache entscheidet sich's, ob du vollen Glauben hast, oder ganz ungläubig bist. Man kann nicht etwa an den leidenden oder auferstandenen oder zur Rechten Gottes sitzenden Gottmenschen glauben, wenn man nicht an den geborenen Gottmenschen glaubt! Besinne dich, prüfe dich, ob du im Glauben stehst, ob du dich beugen kannst demütig unter diese geheimnisvolle Tatsache: das Wort ward Fleisch!
Warum bereitet denn aber das eine so herrliche Weihnachtsfreude? Was haben wir davon, dass Gott Mensch ward? Was liegt uns daran? lieber Christ, da musst du ausgehen von deinem innersten Wesen und Leben, da musst du die Erfahrung und die Erkenntnis heute mit hierher gebracht haben, dass du ein Sünder bist und was es um die Sünde ist. Deshalb wissen ebenso Viele nichts mit dem Weihnachtsfeste anzufangen; sie leugnen einfach die Tatsache der Menschwerdung Gottes oder bespötteln sie oder wenden sich im traurigen Aberwitz irdischer Weisheit den begleitenden Nebenumständen zu und wissen bald an der Maria, bald an Joseph, bald am Jesuskinde selbst das und jenes zu bemäkeln. dass sie doch in die Frage eindrängen: Warum ist Gott Mensch geworden? Dann würde dem zweifelnden Gemüte die Gewissheit von selbst kommen, dass Gott Mensch geworden ist, und dass er Mensch werden musste, wollte er nicht die Menschheit ewiglich verloren gehen lassen. Aller Wind menschlicher Irrlehre und alle der Dunst menschlichen Unglaubens wird zunichte an der tieferen Erfahrung des einzelnen Menschen. Gerade hier ist es nichts, mit hohen, luftigen Gedanken eine festliche Stimmung zu erheucheln, sondern hier gilt es, in den Kern des Festes einzubringen. Warum ist die Weihnachtstat geschehen? Was will sie und was soll sie?
Es fragt sich nur, ob du schon einmal in schmerzlicher Beugung unter der Last Deiner Sünde dich gedemütigt hast; dann wird uns die Antwort so schwer nicht fallen. Der Mensch hatte ursprünglich eine ungetrübte Gemeinschaft mit Gott. Sein ganzes Wesen war dem göttlichen Wesen und Willen unbedingt unterworfen. Fühlst du das jetzt auch noch in dir, oder merkst du eine vorhandene Trennung von Gott? Was ist der Mittelpunkt aller deiner Gedanken, deiner Lebensbewegungen, deines Strebens? Ist er Gott, oder bist du es selbst? Spürst du nicht in dir, dass mehr Selbstliebe da ist als Gottesliebe? mehr böse Willensentschlüsse und verkehrte Handlungen als Gehorsam gegen Gottes Gebote? mehr Abkehr des Herzens und Gemütes von Gott als Hingabe an Gott? mehr Zersplitterung nach Innen und Außen als Einheit? mehr sündliches Verderben als heiliges Leben? vom feinsten Ehrgeize durch alle die verschiedenen Arten und Formen der Hoffart, Weltlust, Eitelkeit, des Hasses, des Zornes, der Rachsucht, des Missmutes hindurch bis hinab zur wüstesten Sinnlichkeit beherrscht Selbstsucht den Menschen. Mag es aufopfernde Freundes- und Vaterlandsliebe geben - wir freuen uns darüber -, mag es hingebende Gatten- und Kindesliebe geben - wir freuen uns, wo wir sie finden -, mag es die herrlichsten Beispiele elterlicher Treue und Sorgfalt geben - wir preisen den Herrn für solche Erscheinungen -: das sind von Gott geschaffene Naturtriebe, aber nicht jene reine, heilige und lebendige Gottesliebe, die er von uns fordert. Dadurch, dass der Mensch noch manches Gute an sich hat, ist er noch nicht selbst gut.
Frage ferner dein Gewissen, wie du zu Gott stehen solltest, und wie du wirklich im Erkennen, Denken, Fühlen, Wollen, Wünschen, Hoffen, Glauben, Leben zu ihm stehst. Allerdings ist in zahllosen Menschen sogar das Gewissen so sehr verdunkelt, dass es ihnen auf diese Frage eine schwache Antwort geben würde. Hierdurch zeigt sich die Sündhaftigkeit erst recht in ihrer verheerenden Macht, in ihrem vollen Umfang und in ihrer ganzen höllischen Tiefe. Und diesen sündhaften Zustand haben wir nicht erst selbst in uns erzeugt, wir haben ihn von Geburt an; und wir finden ihn auch bei unseren Nebenmenschen, er ist Allen gemeinsam; und wir nehmen ihn wahr durch alle Jahrhunderte und Jahrtausende, die Geschichte der Sünde reicht hinauf bis an den Anfang der Menschheit. Vom Anfänger unseres Geschlechts muss dieser Abfall angegangen, diese verkehrte Richtung eingeschlagen worden sein. Die Heilige Schrift berichtet uns auch über seinen Abfall von Gott, wir bekennen einen Fall in die Sünde. Und dieses sich fortpflanzende, uns angeborene Naturverderben ist der unlautere Quell, aus dem wie ebenso viele Krankheitszeichen all die großen Missetaten, all die großen und kleinen Sündenflicken, die wir selbst begehen und unter denen wir von Andern leiden. Die Ohnmacht zu allem gottgefälligen Guten und die Neigung zu allem gottmissfälligen Bösen, vom gröbsten Laster, das offen vor Jedermanns Ange zu Tage liegt, bis zum unreinen Gedanken, der sich in der Tiefe des Herzens verbirgt, alle die Gott widerstrebenden Begierden, die sich bald als Unglaube, bald als Zweifel, bald als Unkeuschheit, bald als Trotz, bald als Mangel an Gottvertrauen, bald als Verzweiflung, bald als Lieblosigkeit, bald als Unlust zu göttlichen Dingen, bald als Unehrlichkeit im Handel und Wandel, bald als böse Gewohnheit, bald als einzelne böse Tat zeigen: das insgesamt kommt aus dem menschlichen Herzen, denn es ist böse von Jugend auf.
Und weil das geistliche Leben mit der Sünde krank geworden ist, so ist auch der Leib des Menschen der Krankheit verfallen und sind Alle dem Gerichte des Todes unterworfen, dieweil sie Alle gesündigt haben. Wohl vermagst du die Gliedmaßen deines Leibes zu beherrschen, dass sie der Sünde nicht dienen, du kannst die Übertretung verhindern, die bösen Neigungen unterdrücken. Gelingt es aber jedes Mal und willst du es jedes Mal? Und wenn du es tust, vermagst du damit die Wurzel der Sünde aus deinem Herzen zu reißen? Und wenn dir's gelingt und du auf diese äußere Ehrbarkeit und Gerechtigkeit pochest, ist das nicht geistiger Hochmut, ist das nicht neue Sünde?
So liegt auf der Menschheit eine große, schwere Schuld. Was sagt die Heiligkeit Gottes dazu? Kann sie mehr ein Wohlgefallen an solcher Menschheit haben? Der Fall in die Sünde geschah in voller Freiheit. Also muss die Sünde der Menschheit auch als Schuld zugerechnet werden. Gottes Geist gibt jedem Sünder das Feuer seines Zornes zu erfahren, das fühlen wir in all dem unsäglichen Elend, das auf der Erde und der Menschheit lastet.
Was aber sollte so werden? Die Menschheit war zum Leben geschaffen, nicht zum Tode, für die Gemeinschaft mit Gott bestimmt, nicht zur ewigen Trennung von ihm. Sie selbst kann sich nicht herausziehen aus diesem angeborenen Verderben, in dem sie seufzt. So hätte sie sich unaufhaltsam fortbewegen müssen auf der einmal eingeschlagenen falschen Bahn, unaufhaltsam fort ins ewige Verderben. O, fürwahr! es gab kein dringenderes Bedürfnis für die Menschen als das einer Erlösung auch der Knechtschaft der Sünde und aus der Gewalt des Todes, einer Befreiung von der Schuld der Sünde, also einer Versöhnung mit Gott. Und dass dieses Sehnen der Menschheit erfüllt und gestillt ist, das ist das innerste Heiligtum unseres Christenglaubens, das ist es, was in dem Jubel der Heiligen Nacht zum Ausdruck kommt und das ist der bleibende Grund unserer Weihnachtsfreude. Das Wort ward Fleisch, Gott ward Mensch, und siehe! die Menschheit war wieder mit Gott geeinigt. Die enge Verbindung der göttlichen und der menschlichen Natur in Christo bildet eine Vorausdarstellung jener innigen Gemeinschaft, in die der gefallene Mensch durch Christum wieder mit Gott treten soll. Auf welchem Wege dies geschieht, davon können wir am Weihnachtsfeste nicht weiter reden. Nur so viel können wir hier sagen. In der Geburt Jesu Christi liegt noch nicht die Erlösung, nicht die Versöhnung, aber das Werk der Erlösung hat doch damit seinen Anfang genommen. Der ewige Sohn Gottes hat sich zum Retter der Menschheit eingestellt, er hat mit seiner Menschwerdung die vollständige Gesetzeserfüllung, die vollkommene Sühne übernommen. Von Bethlehems Krippe aus, steigt er Stufe für Stufe hinan gen Golgatha als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Darum frohlockt die Kirche des Herrn dem Lichte ihres Heils entgegen, während draußen die Natur trauert im kalten, winterlichen Froste. Darum feiern wir Weihnachten, bis aller Weihnachtsjubel sich auflöst in das dreimal Heilig vor dem Thron Gottes. Amen.