Quandt, Emil - Große Liebe im kleinen Leben - Einleitung.

Quandt, Emil - Große Liebe im kleinen Leben - Einleitung.

Die Epistel Pauli an Philemon gehört zu den kleinsten und unscheinbarsten Blumen im Garten der Heiligen Schrift. Sie ist ein kurzes, nur fünfundzwanzig Verse zählendes Schreiben des Apostels und zwar ein durch ein einzelnes an und für sich unbedeutendes Ereignis veranlasstes Privatschreiben. Einem Freunde des Apostels, einem begüterten Manne Namens Philemon, ist sein Sklave Onesimus entlaufen; Paulus ist mit dem entlaufenen Sklaven irgendwie in Berührung gekommen, hat ihn für das Christentum gewonnen und schickt ihn nun seinem Herrn zurück mit der herzlichen Bitte, dem reuigen Flüchtling zu verzeihen und ihn mit christlicher Liebe aufzunehmen. So ist ja dieses Brieflein immerhin ein von der teuren Hand Pauli geschriebenes Blatt, und als solches mag man es gern in Ehren halten und es hin und wieder für sich in der Stille lesen; aber, so könnte man fragen, eignet es sich wohl, gleich den andern großen Hauptepisteln Pauli, zum Fundamente für Erbauung? Kann es sich wohl verlohnen, diesem Brieflein eine Reihe andächtiger Betrachtungen zu widmen?

Ei, gar sehr. Dass die kleine Epistel überhaupt eine Stellung in der Bibel einnimmt, ist doch nicht von ungefähr geschehen, sondern durch Fügung des Heiligen Geistes, der uns das Wunderwerk der heiligen Schriften gegeben. Darum gilt wie von aller biblischen Schrift, so auch von dieser Schrift, dass sie nütze ist zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, dass ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt. Die Epistel ist allerdings kleiner, als die übrigen paulinischen Schriften; aber wie Gott, so beweisen auch Gottesmenschen oft im Kleinen ihre größte Größe; sie ist allerdings nur ein Privatschreiben, aber ein apostolisches, aus den Tiefen eines apostolischen Herzens geflossenes Schreiben. Wir dürfen daher von vorn herein voraussetzen, dass die Epistel Pauli an Philemon eine fruchtbare Quelle der Erbauung sein wird, und in der Tat nach mancherlei Beziehungen hin hat sie einen großen erbaulichen Wert. Die eingehende Versenkung in den Inhalt der einzelnen Verse wird jeden sinnigen Schriftleser davon überzeugen; wir heben hier vor der Betrachtung des Einzelnen nur drei Hauptpunkte der allgemeinen Bedeutung der Epistel hervor.

Wir müssen dem Herrn der Kirche für die Einreihung unserer Epistel in den biblischen Kanon zunächst um deswillen von Herzen dankbar sein, weil wir durch sie dem größten Christen, der je auf Erden gelebt hat, tief in das Herz sehen können. Paulus, der sich selbst den größten Sünder nannte, aber auch bekennen konnte, dass an ihm vornehmlich Barmherzigkeit geschehen sei, enthüllt uns in dieser Epistel, mehr als in irgendeiner andern, sein nicht nur Sünder rettendes, Gläubige stärkendes, sondern auch tief inniges, selbst in heiliger, heiterer Freude scherzendes, liebereiches und freundschaftsvolles Herz. Wir tun einen Blick in das persönliche Verkehrsleben des Apostels; wir lernen, wie fromm und frisch, wie zart und wie sinnig dieses auserwählte Rüstzeug des Herrn sich im alltäglichen Leben benahm. Wie keine der übrigen Episteln ist diese ein Abdruck des menschlich eigentümlichen Wesens Pauli, ein Bruchstück aus seinem Leben, in welchem seine geheiligte Persönlichkeit in urkräftiger Gestalt, wie in Fleisch und Blut gekleidet vor uns tritt. Wenn es eine gemeine Klage heutzutage ist, dass, die da Helden des Glaubens sind auf dem Markt der Welt und das Schwert des Geistes mit imponierender Kraft schwingen in der großen öffentlichen Geisterfehde dieser Zeit, oft nicht wieder zu erkennen sind, wo man sie zwischen ihren eignen vier Wänden aufsucht -: die Epistel an Philemon ist der glänzende Beweis für die Möglichkeit und Wahrhaftigkeit eines nicht nur gläubigen, sondern auch durch und durch geheiligten, früchtereichen Christentums, das sich gleich bleibt auf den Höhen des Lebens und in den Tälern, in der Behandlung großer und in der Behandlung kleiner Angelegenheiten, im Sonntagsschmucke und im Alltagsrock. Nicht ohne tiefe Scham kann unser Einer in dieser Zeit des Mangels an christlichen Charakteren die Epistel an Philemon lesen, aber auch nicht ohne kräftige Ermunterung; Paulus, indem er sich auch in den gewöhnlichsten Lebensverhältnissen als ein Mensch Gottes, getrieben vom Heiligen Geiste, bezeigt, beschämt die Gläubigen unsrer Tage, die so oft im gewöhnlichen Leben dieser Welt sich gleich stellen, ruft ihnen aber auch zu: Werdet wie ich, liebe Brüder! Darum Gott sei Dank, dass uns neben den andern, großen Episteln Pauli, die sich mehr auf das Reich Gottes im Großen und Ganzen beziehen und in denen die Person des Schreibers mehr verschwindet hinter der großen Sache, von der er schreibt, auch diese kleine Epistel aufbewahrt ist mit all' ihren persönlichen Beziehungen, da sie uns lehrt, was der Geist Gottes aus einem Menschen auch für den gewöhnlichen Lebensumgang macht, wenn sich der Mensch diesem Geiste voll und ganz hingibt.

Aber neben allem Persönlichen enthält der Brief zugleich die Lösung einer der größten Lebensfragen damaliger und zugleich aller Zeit. Vielleicht ist die Epistel an Philemon zu keiner Zeit und in keinem Lande so viel genannt, gelesen, durchdacht und angewandt worden, als jenseits des Ozeans in dem letzten großen amerikanischen Kriege. Da erklärten die Prediger und Theologen des sklavenhaltenden Südens der nordamerikanischen Union mit der Epistel an Philemon in der Hand: „Die Sklaverei ist ein göttliches Institut, die Sklaverei reimt sich sehr wohl mit dem Christentum; denn seht doch, der große Apostel Paulus schickt einen entlaufenen Sklaven seinem Herrn wieder zurück!“ Aber die Prediger des für die Aufhebung der Sklaverei kämpfenden Nordens beriefen sich desgleichen und wahrlich mit größerem Rechte auf die Epistel an Philemon und antworteten: „Ihr wisst nicht, was ihr sagt, und versteht die Schrift nicht. Wohl schickt Paulus den Sklaven Onesimus zurück, aber nachdem er ihn in die völlige Glaubensgemeinschaft aufgenommen hat, als einen Bruder in Christo; wohl hält er den Onesimus an zur Unterwerfung unter die bestehende Ordnung, aber er bittet Philemon, den Sklaven als einen Bruder zu halten, und setzt hinzu: Ich weiß, du wirst noch mehr tun, als ich sage.“ Und das ist denn eben die heilige Lösung der Sklavenfrage, die Paulus in der Epistel an Philemon gibt; der Apostel versieht nicht eine gewaltsame, revolutionäre Vernichtung des Sklaventums, das mit der damals vorhandenen bürgerlichen Ordnung der Dinge aufs engste verflochten war, sondern er vertraut dem Geiste der christlichen Liebe, der die innerlich Freigewordenen auch zur äußerlichen Freiheit erheben werde. Mit dieser Art aber, wie Paulus die Sklavenfrage löst, ist die christliche Art der Lösung aller sozialen Lebensfragen überhaupt angegeben. Die Sklavenketten und alle anderen Ketten fallen von selbst ohne Revolution und des etwas, wo der Glaube an das Blut Christi eine Lebensmacht in den Herzen wird. Wie wichtig ist daher diese kleine Epistel besonders für unsere Tage, wo eine soziale Frage nach der andern die Gemüter bewegt und beunruhigt!

Endlich aber kann auch der ganze Brief, unbeschadet seiner geschichtlichen Wahrheit, als eine einzige, große, bedeutungsvolle Allegorie aufgefasst werden. So fasst sie Luther auf. Er schreibt von ihr: „Diese Epistel zeigt ein meisterlich lieblich Exempel christlicher Liebe; denn da sehen wir, wie St. Paulus sich des armen Onesimi annimmt und ihn gegen seinen Herrn vertritt mit Allem, das er vermag, und stellt sich nicht anders, denn als sei er selbst Onesimus, der sich versündigt habe. Doch tut er das nicht mit Gewalt oder Zwang, als er wohl Recht hätte; sondern äußert sich seines Rechtes, damit er zwingt, dass Philemon sich seines Rechtes auch verzeihen muss. Ebenso wie uns Christus getan hat gegen Gott den Vater, also tut auch St. Paulus für Onesimum gegen Philemon. Denn Christus hat sich auch seines Rechtes geäußert und mit Liebe und Demut den Vater überwunden, dass er seinen Zorn und Recht hat müssen legen und uns zu Gnaden nehmen um Christi willen; der also ernstlich uns vertritt und sich unserer so ernstlich annimmt. Denn wir sind alle seine Onesimi, so wir's glauben.“

Wenn so unsre Epistel nach verschiedenen Seiten hin bedeutungsvoll ist, so kann es uns nicht Wunder nehmen, dass von alten Zeiten her die Zeugen der Kirche mit einander wetteifern in ihrem Lobe. August Hermann Franke sagt: „Der Brief an Philemon lässt alle Weisheit der Welt weit hinter sich zurück.“ Der ehrwürdige Schriftforscher Bengel sagt: „Es ist ein vertraulicher Brief, eine Probe der erhabenen Weisheit, mit der rechte Christen Dinge des gemeinen Lebens nach höheren Grundsätzen behandeln.“ Ein neuerer Gottesgelehrter sagt: „Nirgends kann die Empfindung und Wärme zarter Freundschaft mit dem höheren Gefühle eines überlegenen Geistes, ja Lehrers und Apostels schöner verschmelzen, als in diesem so kurzen und doch so überaus inhaltsreichen Schreiben.“ Und ein Anderer bekennt: „Welche Fülle und Erhabenheit christlicher Gedanken, mit welcher ein den gewöhnlichsten Lebensverhältnissen angehöriger Fall beleuchtet wird! Welch' eine Macht der Beredsamkeit! Welch' eine Feinheit des Gemüts und Schärfe der Darstellung!“ Und noch ein Andrer nennt die Epistel vielleicht mit dem treffendsten Ausdruck „eine Blüte christlicher Zärtlichkeit.“ Das Alles wird uns Reizung und Lockung genug sein, dass auch wir uns in die Epistel an Philemon mit Andacht versenken und ihrer erbaulichen Kraft Herz und Leben öffnen. Wir betrachten aber die Epistel in sechs Abschnitten:

  1. V. 1–3. Der Gruß Pauli an Philemon und die Gemeinde in seinem Hause.
  2. V. 4-7. Der freudige Dank und die herzliche Fürbitte Pauli für den Glauben und die Liebe Philemons.
  3. V. 8-12. Die Bitte Pauli an Philemon, den Onesimus wieder anzunehmen.
  4. V. 13-16. Nähere Erläuterung dieser Bitte.
  5. V. 17-21. Ausführung und zarte Steigerung dieser Bitte.
  6. V. 22-25. Die Ankündigung des persönlichen Kommens Pauli und sein und seiner Freunde Gruß.

Der Geist der Wahrheit öffne uns die Augen, zu schauen die Wunder, die große Liebe im kleinen Leben tut, wie sie in der Epistel Pauli an Philemon geoffenbart sind. Das Auslegen kommt Gott zu, noch mehr das Einlegen in das Herz; Gott der Heilige Geist bringe uns die Epistel an Philemon in Kopf und Herz! Amen.

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