Krafft, Johann Christian Gottlob Ludwig - Sieben Predigten über das 53. Kapitel des Propheten Jesaias - Zweite Predigt

Krafft, Johann Christian Gottlob Ludwig - Sieben Predigten über das 53. Kapitel des Propheten Jesaias - Zweite Predigt

Text: Jesaia 53, 1-3.
Aber wer glaubt unsrer Predigt? Und wem wird der Arm des Herrn geoffenbaret? Denn Er schießt auf vor ihm wie ein Reis, und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen Ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachteste und Unwertheste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor Ihm verbarg; darum haben wir Ihn nichts geachtet.

Wir haben heute vor acht Tagen das ganze 53ste Kapitel des Propheten Jesaias, den Gesamtinhalt dieser außerordentlichen Weissagung, ins Auge gefaßt, einer Weissagung, in welcher das Leiden und Sterben und die Auferstehung und der Sieg des verheißenen Erlösers in wunderbarer Klarheit vorhergesagt ist, einer Weissagung, in welcher auf den ersten Anblick eher ein Augenzeuge zu reden scheint, der da berichtet, was er erlebt und gesehen hat, als ein Prophet, der mehr als 7 Jahrhunderte zuvor, solches Alles vorher verkündigt.

Wir haben aber zuerst von der Geschichte der Erfüllung abgesehen, und bloß bemerkt, was der Prophet ausdrücklich von dem Knechte Gottes, den er verkündigt, hier weissagt, von der äußern Niedrigkeit desselben und seiner Verachtung von Seiten seines Volks; von den außerordentlichen Leiden, die Er zu dulden haben werde, und zwar vollkommen unschuldig, durchaus nicht um eigner, sondern lediglich um fremder Sünde und Schuld willen, deren Strafe Er tragen werde, und zwar auf göttliche Veranstaltung, indem der Herr alle unsre Sünde auf Ihn geworfen; weiter von der Geduld und freiwilligen Hingebung, womit Er leiden und wie ein Lamm sich schlachten lassen und sein Leben zum Schuldopfer geben werde; von seinem Begräbniß, das man Ihm bei den Missethätern bestimmen werde, Er werde aber in seinem Tode bei einem Reichen seyn; und zuletzt von seinem neuen Leben, und dem wunderbaren Sieg, den Er darin feiern, und der reichen Frucht, die Er von der Arbeit seiner Seele ärnten werde in großen Scharen von Erlöseten, die Er, dieser Knecht Gottes, der Gerechte, gerecht machen werde, weil Er ihre Sünden getragen, deren Sünde durch sein heiliges Leiden und Sterben versöhnt worden. Das Alles sagt der Prophet hier laut dem Inhalte dieses 53sten Kapitels ausdrücklich und mit deutlichen Worten vorher.

Darnach haben wir denn aber auch gesehen, wie uns widersprechlich gewiß es ist, daß der Inhalt dieses Kapitels eine Weissagung auf Jesum, unsern Heiland und Erlöser, ist; denn in seiner Person, in seinem Leiden und Tode, und in seiner Auferstehung und den Folgen derselben, sehen wir den ganzen Inhalt dieses Kapitels wörtlich auf das vollkommenste und wirklich erfüllt. Es haben es überdies Jesus und seine Apostel ausdrücklich erklärt, daß hier von Ihm geweissagt stehe. Endlich ist auch ohne den widersinnigsten und unvernünftigsten Zwang gar nicht möglich, die Weissagung auf sonst irgend jemand zu deuten, so daß sie gar nicht erfüllt wäre, wenn sie es in Christo Jesu nicht ist.

Nachdem wir aber so das Ganze dieses Kapitels, kürzlich betrachtet und gesehen haben, von wem der Prophet solches Alles redet, laßt uns nun den reichen Inhalt dieser Weissagung auch einzeln und abschnittsweise hören und erwägen, und mit den vorgelesenen drei ersten Versen des Kapitels heute beginnen. In diesen ersten Worten weissagt der Prophet überhaupt die Niedrigkeit, den Stand der Erniedrigung des Erlösers. Dabei wollen wir also heute stehen bleiben, und nach Anleitung dieser Worte betrachten die Erniedrigung unsers Herrn überhaupt, zuerst ihrem Wesen nach, worin sie bestand; zweitens ihrem Grunde nach, wozu sie nöthig war; drittens dem verschiedenen Eindruck nach, den sie gleich anfangs hervorgebracht hat, und noch immer hervorbringt, je nachdem sie mit Augen des Glaubens oder Unglaubens angesehen wird. Daraus wird sich von selbst auch die Anwendung ergeben, die wir davon auf uns zu machen haben. Der Herr lasse es im Segen zu unsrer Erbauung geschehen!

I.

Zuerst beschreibt der Prophet die Erniedrigung des Erlösers ihrem Wesen nach, und sagt, worin sie bestehen werde; und da hebt er in unsern Textesworten besonders zwei Punkte heraus, nämlich zuerst die Knechtsgestalt, in der Er erscheinen, und zweitens die Schmach, die Er tragen werde.

1. Die Knechtsgestalt des Erlösers in den Lagen seiner Erniedrigung wird im zweiten Verse unsers Textes beschrieben, wo es zuerst heißt: „Denn Er schießt auf vor Ihm,“ vor Jehova dem Herrn nämlich, als dessen Knecht Er auftritt, zur Ausführung des göttlichen Rathschlusses, „Er schießt auf vor Ihm, wie ein Reis, wie meine Wurzel aus dürrem Erdreich,“ - eine deutliche Schilderung der Niedrigkeit der Geburt des Erlösers und seines ersten Eintritts in die Welt. Schon das war eine Erniedrigung für den Sohn Gottes bei seiner Erscheinung im Fleische, daß Er die Menschheit annahm, nicht, wie sie ursprünglich gewesen ist, sondern wie sie durch den Fall verändert ist, daß Er die sterbliche, den Leiden und dem Tode unterworfene Menschheit annahm durch die Geburt von einer sterblichen Mutter, wiewohl ohne Sünde. Der göttlichen Allmacht wäre es ein Leichtes gewesen, die Menschwerdung des Sohnes auf eine andre Art zu bewirken, daß Er nicht hätte dieses unser sterbliches Fleisch und Blut annehmen, und als ein Säugling auf dem Schoße einer menschlichen Mutter liegen, und allmählig wachsen an Weisheit, und leiden und versucht werden dürfen, wie wir; daß es geschah, war für Ihn eine Entäußerung, wie es die Schrift nennt, ein Zustand der Entbehrung, der Verzichtung, worin Er sich des vollen Besitzes und Genusses der göttlichen Herrlichkeit, die Er beim Vater hatte, ehe die Welt war, für so lange begab. -

Indessen hätte dieser Eintritt des Erlösers in die Welt durch die Geburt von einer sterblichen Mutter und sein Leben im Fleische auf Erden immer noch mit äußerem Glanz, mit dem Glanz königlichen Ranges, königlicher Ehren und Reichthümer, und königlicher Herrlichkeit können umgeben worden seyn. Wie leicht wäre es der Allmacht gewesen, dies zu veranstalten! Der göttlichen Weisheit aber gefiel dies nicht. Es geschah das Gegentheil, wie der Prophet hier weissagt. Gleich einem unansehnlichen Sprößling aus einem abgehauenen Stamm auf dürrem Boden, als Nachkömmling aus dem längst verarmten und in Niedrigkeit herabgesunkenen Geschlechte Davids, trat er in die Welt ein. Das Erste, was der Evangelist von den Umständen seiner Geburt erzählt, ist dieses: „Und seine Mutter wickelte Ihn in Windeln und legte Ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Nicht lange darnach mußte Er als zarter, Säugling vor dem Zorn des Herodes in Sicherheit gebracht werden durch die Flucht nach Aegypten. Von seinen Jugendjahren heißt es: daß Er allmählig stark geworden im Geist und zugenommen habe an Weisheit (Luc. 2,40.52.). Er wuchs auf in großer Stille und Verborgenheit und äußerer Unscheinbarkeit vor der Welt in Nazareth, in fortwährender äußerer Niedrigkeit und Knechtsgestalt; ohne Zweifel arbeitete Er als Gehülfe seines Pflegevaters, eines Zimmermanns; und auch nicht eher, als es nach dem Gesetz den Priestern und Leviten im Tempel zu dienen verstattet war, nicht eher, als nach zurückgelegtem dreißigsten Lebensjahre, trat auch Er sein öffentliches Lehramt an. In dem Allen erniedrigte Er sich und verbarg seine Herrlichkeit, indem er andern Menschenkindern sich gleich stellte. Diese Knechtsgestalt verläugnete Er auch während seines ganzen Lehramts nicht. Sie war, wie bekannt, der Hauptanstoß, den das Volk an Ihm nahm, und der durch alle seine Wunderwerke nicht gehoben wurde. Die göttliche Weisheit gestattete nicht, daß Er vor dem Volke sich gleich anfangs für den Messias erklärte. Seine Lehre und seine Thaten sollten vorab davon zeugen. Er selbst hielt damit bis nahe vor sein Ende zurück. Daran nahmen aber auch seine Brüder, seine nächsten Anverwandten, Anstoß, und stellten Ihn darüber zu Rede, und verlangten, Er solle sich vor der Welt offenbaren, nämlich wie sie es sich einbildeten, daß es geschehen müsse, nach ihrem Sinn (Joh. 7.), und so auch das Volk, wenn es Ihn umringte und sprach: „Wie lange hältst du unsre Seelen auf?“ (Joh. 12,24.) Die Pharisäer und Schriftgelehrten aber murrten über Ihn und sprachen: „Dieser nimmt die Sünder an. Siehe, Er isset und trinket mit den Zöllnern und Sündern.“ Sehet, geliebte Zuhörer, so ward erfüllt, was Jesaias hier weiter weissagt von seinem Wandel, wenn er öffentlich vor dem Volke auftreten werde, V. 2.: „Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen Ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.“ Nicht als ob die leibliche Gestalt und Gebärde des Herrn fehlerhaft gewesen wäre oder etwas Mißfälliges gehabt hätte, obwohl, was die Welt schön zu nennen pflegt, und wie die Künstler Ihn zu malen und zu bilden pflegen, von der Wirklichkeit der Gestalt des Herrn während seines Wandels im Fleische auch verschieden genug seyn mag - gewiß aber ist, daß auch in seinem Aeußern die Heiligkeit seiner Seele sich abspiegelte, wie wir auch gelegentlich hören von der Holdseligkeit seiner Worte, von der Gewalt seiner Predigt, von dem Ausdruck seiner Gebärde. In dem Allen that der Geist in Ihm auch äußerlich sich kund, und Johannes sagt: „Wir sahen seine Herrlichkeit, Meine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“

Was war denn die Gestalt und Schöne, die man an Ihm vermißte und das, was an Ihm mißfiel? Man sah in Ihm den äußern König nicht, den man im Messias erwartet hatte, und man sah Ihn keine Anstalten zu dem irdischen Reich treffen, dessen Aufrichtung man von Ihm verlangte. Seine Niedrigkeit, seine Knechtsgestalt war es, die da mißfiel; für die Demuth und die dienende Liebe, unter welche Er seine Hoheit verbarg, in welche Er seine Herrlichkeit einhüllte, hatte man keine Augen. Die Natur schattet in merkwürdigen Sinnbildern, wie so viele Geheimnisse des Reichs der Gnade, so auch dieses ab, indem ihre edelsten Erzeugnisse auch die schmucklosesten und äußerlich schwächsten zu seyn pflegen, wie der zarte, schmucklose Halm, auf welchem uns das Brod aus der Erde wächst, oder das unansehnliche schwache Holz und die völlig schmucklose Blüthe des Weinstocks, oder wie der seelenvollste Sänger unter den Vögeln, die Nachtigall, im unscheinbarsten Gefieder. Wie die Natur, auch ein Wort des Herrn, in solchen Bildern es abschattet, wie Jesaias im prophetischen Geiste viele Jahrhunderte zuvor es sieht, und in unsrem Texte verkündigt, so ist es auch in den Tagen des Wandels Jesu auf Erden geschehen; der Prophet zeigt uns die Erniedrigung des Erlösers zuvörderst in der Knechtsgestalt, in der Er erscheinen werde.

2. Er zeigt sie uns aber in den gleich folgenden Worten zugleich auch in der Schmach, die Er tragen werde. „Er war,“ so heißt es im dritten Verse, „Er war der „Allerverachtetste und Unwertheste, voller Schmerzen und Krankheit,“ ein Mann der Schmerzen, wie es im Grundtext heißt, und ausgezeichnet durch Leiden vor Andern. „Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor Ihm verbarg,“ daß man den Anblick seiner Leiden zuletzt nicht mehr ertragen konnte. So sagt der Prophet, und drückt damit unverkennbar einen Zustand besonderer Leiden und außerordentlicher Verachtung des Knechtes Gottes aus, von dem er weissagt. Die evangelische Geschichte sagt uns, wie dies erfüllt worden ist. Andre Verachtete und Unwerthe pflegt man gehen zu lassen, auf Ihn wurde mit Fingern gewiesen, man machte sich ein Geschäft daraus, Ihn zu lästern, und seine Wunder wurden dem Beelzebub zugeschrieben. Auch diejenigen wurden verächtlich, die mit Ihm Gemeinschaft hatten, und zuletzt Jeder, der es mit Ihm halten würde, mit dem Bann bedroht. Darum sagt der Prophet nicht ohne Grund: „Er war der Allerverachtetste und Unwertheste; “ und als Er verurtheilt und verspottet und gegeißelt und angespieen wurde, als auch geschah, was Er im 50sten Kapitel unsers Propheten durch denselben weissagt: „Ich hielt meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften, und mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel,“ als Er mit zerfleischtem Rücken und mit der Dornenkrone auf dem Haupte und dem Purpurkleide von Pilatus dem Volke und den Obersten dargestellt ward, mit den Worten: Sehet, welch ein Mensch! - da ging auch das in Erfüllung, was hier geschrieben steht: „Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor Ihm verbarg.“

II.

Wir haben bisher die Beschreibung der Erniedrigung unsers Erlösers gehört. Wir kommen nun zu dem zweiten Hauptpunkt, zu dem Grunde solcher Erniedrigung, zu der Frage: wozu sie nöthig war? Der Prophet erklärt sich zwar darüber nicht in unsern heutigen Textesworten, aber deutlich genug in den nachher folgenden Worten dieses Kapitels. Es läßt sich mit Wenigem in zwei Hauptpunkte zusammenfassen.

1. Zuerst, geliebte Zuhörer, erforderte unsre Errettung von der verdienten Verdammniß, die Versöhnung unsrer Sünde, diese Erniedrigung des Erlösers. Wir hören im Verfolg unsers Kapitels: „Fürwahr, Er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. - Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Friede hätten. - Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn. Er ward um die Missethat meines Volkes geplaget. Der Herr wollte Ihn also zerschlagen mit Krankheit;“ und: „Er hat sein Leben zum Schuldopfer gegeben.“ So klar, so stark, so wiederholt spricht der Prophet hier den Rath der ewigen Erbarmung des Vaters und Sohnes über uns aus, der in den Leiden und dem Opfertode des menschgewordnen Sohnes Gottes für uns Sünder verwirklicht worden ist, und der im Evangelio uns von Jesu selbst mit den Worten verkündigt wird: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er seinen eingebornen Sohn gab,“ - die Welt, die sündige, die schuldige, die verlorne, gewissermaßen mehr geliebt, als seinen Sohn, indem er seinen Sohn für sie zum Schuldopfer hingab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, „nicht verloren werden sollen, sondern das ewige Leben haben.“ Es war Hauptzweck der Menschwerdung des Sohnes Gottes, zu vollbringen, was Niemand außer Ihm vollbringen konnte, nämlich für uns Sünder den Tod zu leiden und ein Opfer der Versöhnung für unsre Sünden zu bringen, das unendliche Kraft hat und ewiglich gilt. Eben darum mußte Er auch der Weibessame, Sohn einer sterblichen Mutter aus Adams Geschlechte seyn, um für uns sterben zu können. Wie ausdrücklich sagt das auch die Schrift, im achten Kapitel des Briefs an die Römer, daß dies der Grund sey, warum Gott seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches gesandt, und im zweiten Kapitel des Briefs an die Hebräer: daß dieses der Grund sey, warum Er unsers Fleisches und Blutes habe müssen theilhaftig werden.

In dem letztgenannten Briefe wird als weiterer Grund dieser Herablassung des Erlösers in unsre Niedrigkeit, dieser seiner Einkehr in unser sterbliches Fleisch und Blut, und seiner Theilnahme an allen menschlichen Leiden und Versuchungen, zugleich genannt, daß er in diesem Allen seinen Brüdern darum habe müssen gleich werden, auf daß er barmherzig würde und ein treuer Hohenpriester vor Gott, zu versöhnen die Sünde des Volks. Denn worin Er gelitten und versucht worden, könne Er nun auch helfen denen, die versucht werden, und Mitleiden haben mit unsrer Schwachheit, indem Er so aus eigner Erfahrung unsre Leiden und Versuchungen kennen gelernt, also, daß wir in Ihm einen hohenpriesterlichen Mittler und Fürsprecher bei dem Vater haben, der in allen unsern Kämpfen und Leiden weiß, wie es uns zu Muth ist, und in Ihm einen Heiland anrufen, der mit uns fühlen und Mitleid mit uns haben kann, und selbst geschmeckt hat, was Versuchung und Kampf, was Leiden und Sterben ist.

Sehet da in dem Opfertode unsres Erlösers und in seinem priesterlichen Amt und Werk den ersten Hauptgrund seiner Erniedrigung, der dieselbe nothwendig machte.

2. Laßt uns aber auch einen zweiten Hauptgrund nicht übersehen. War es nothwendig zu unsrer Errettung vom Verderben, daß der Sohn Gottes im Fleische erschien, die Vergebung der Sünden und auszuwirken, wahrlich, nicht minder nothwendig zu unsrer Errettung ist es, daß wir durch Ihn von der Sünde selbst geheilt und gereinigt, und des Geistes Christi theilhaftig und neue Kreaturen werden. Als Erlösete Jesu, als begnadigte Kinder durch den Glauben an Christum, sollen wir auch mit unserm Wandel die Tugenden dessen verkündigen, der uns berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht, und namentlich in dem Vorbilde der Demuth und Liebe und Selbstverläugnung, das uns Jesus nachgelassen hat, seinen Fußstapfen nachfolgen. In diesen Tugenden aber hat Jesus sein Vorbild uns besonders in seiner Erniedrigung und in seinen Leiden nachgelassen. Darum auch der Apostel Petrus, wenn er die Gläubigen zur Demuth, Sanftmuth und Geduld ermahnt, sie hinweist auf das, was schon Jesaias von der Lammesgeduld und Sanftmuth Jesu in seinen Leiden hier in unsrem Textkapitel geweissagt.

Von dieser Seite betrachtet, geliebte Zuhörer, liegt in der ganzen Erscheinung des Sohnes Gottes, in seinem ganzen Leben und Leiden auf Erden, die tiefste Beschämung unsers natürlichen Stolzes. Neben der Fleischlichkeit, die durch den Fall unser natürliches Erbtheil geworden, ist der Stolz das Hauptverderben, womit wir behaftet sind. Wir sind von Natur voll Eigenliebe und Selbstruhms, nicht geneigt, uns selbst zu verläugnen und zu erniedrigen für Andre, sondern zu sehen auf das, was unser ist, und uns zu erhöhen. Darauf geht unser natürliches Dichten und Trachten, und damit sind wir dem Teufel ähnlich, der gerade auch hiermit, mit der Selbsterhöhung, mit dem Seynwollen wie Gott, die ersten Aeltern verführte. Derjenige, der da gekommen ist, von diesem Gift uns zu heilen, und die Werke des Teufels in uns zu zerstören, betrat darum den ganz entgegengesetzten Weg. Er verließ die Herrlichkeit, die Er beim Vater hatte, die Ihm als dem eingebornen Sohne gehörte, und ward arm um unsertwillen, Er verbarg seine Herrlichkeit, Er trug sie nicht zur Schau, Er hüllte sich in die Knechtsgestalt der Demuth und der dienenden und selbstverläugnenden Liebe ein. Satan versuchte Ihn in der Wüste zum Hervortreten vor dem Volk in Herrlichkeit. „Bist du Gottes Sohn,“ so forderte er Ihn heraus, wo laß dich von der Zinne des Tempels hernieder.“ Er aber ließ sich nicht irren, und erwählete die Niedrigkeit und die Schmach, und achtete der Schande nicht, und ward gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuze. Sehet da, Geliebte, den zweiten Hauptgrund der Erniedrigung des Sohnes Gottes im Fleische, von der Krippe bis zum Kreuze, von dem Stalle an, wo Er geboren ward, bis zum Hügel Golgatha, wo Er starb. Er ging diesen alleruntersten Weg auch darum, daß Er durch dieses sein eigenes Leben und Vorbild unsern natürlichen Stolz und Hochmuth beschämte, durch seine Demuth und Liebe uns rührte und überwände, und zu seiner Nachfolge reizte und stärkte, und in sein Bild uns verklärte, und den Weg der wahren Größe und Hoheit und zeigte, das, was werth vor Gott macht, und wodurch man im Reiche Gottes groß wird. „Ihr wisset,“ sagte Jesus zu seinen Jüngern, als sie um den Vorrang mit einander handelten (Marc. 10,42), „ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herrschen, und die Mächtigen unter ihnen haben Gewalt. Aber so soll es unter euch nicht seyn, sondern welcher will groß werden unter euch, der soll euer Diener seyn, und welcher unter euch will der Vornehmste werden, der soll Aller Knecht seyn. Denn auch des Menschen Sohn ist nicht kommen, daß Er sich dienen lasse, sondern daß Er diene, und gebe sein Leben zur Bezahlung für Viele.“

III.

Das sey genug gesagt von dem Grunde der Erniedrigung unsers Erlösers, wozu sie nothwendig war. Laßt mich zuletzt noch Einiges sagen von dem verschiedenen Eindruck, den sie hervorbringt, je nachdem sie mit Augen des Glaubens oder Unglaubens betrachtet wird, und ein Wort der Anwendung auf uns hinzufügen.

1. Der Welt, das ist das Erste, was der Prophet in unsrem Text ausdrücklich hierüber bemerkt, dem großen Haufen der irdisch Gesinnten, werde dieser Knecht Gottes und Erlöser der sündigen Menschenkinder nicht gefallen, sie werde Ihn und sein Heil geringschätzen und verachten. Das bezeugt der Prophet gleich im Anfang unsers Kapitels merkwürdig genug, wenn er, noch ehe er die hohe Weissagung ausspricht, die Frage erhebt: „Aber wer glaubet unsrer Predigt? und wem wird der Arm des Herrn offenbart?“ Er spricht damit zum voraus die Klage der Apostel und der Lehrer des Evangeliums zu allen Zeiten aus, daß das Wort vom Kreuze den Juden ein Aergerniß, den Heiden eine Thorheit ist, daß das Evangelium von Christo Jesu, dem Gekreuzigten, der fleischlichen Vernunft bis auf den heutigen Tag nicht gefällt. Als Moses auf dem Zuge des Volks durch die Wüste sah, wie wenig Eindruck der Ernst der göttlichen Strafgerichte auf das Volk machte, sprach er, wie wir im 90ten Psalm lesen (V. 11): „Wer glaubets aber, daß du so sehr zürnest? und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm?“ Jesaias aber sagt hier zu Anfang unsers Textes: dasselbe Schicksal dem Evangelium, der Predigt von der Gnade und Erbarmung, die in Christo Jesu den Sündern erschienen und bereitet ist, vorher, mit dem Ruf der Klage: „Aber wer glaubet unsrer Predigt? und wem wird der Arm des Herrn, die durch Jesum Christum, den Gekreuzigten, bereitete und im Evangelium uns verkündete Kraft Gottes zur Seligmachung der Sünder, offenbart?“ Und so hat sichs ausgewiesen in den Tagen des Wandels Jesu auf Erden, und weist sich aus bis heute als wahr. Wie kann die Welt, die aufs Aeußere sieht, die die Person ansieht, wie kann sie in der Eitelkeit ihres Wesens und Treibens, im Trachten nach dem, was hienieden ist, und in ihrer Sicherheit und Blindheit über sich selbst, wie kann sie da an einem erniedrigten Erlöser, an einem Erlöser in Knechtsgestalt, an einem mit Schmerzen und Krankheit beladenen und für unsre Sünde verwundeten und gekreuzigten Erlöser Gefallen haben? Das Alles steht zu sehr mit ihrem ganzen Wesen in Gegensatz, und enthält eine zu tiefe Beschämung der Eitelkeit ihres Sinnes und eine zu ernste Bestrafung ihres ungöttlichen Wesens, als das es möglich wäre, daß ein solcher Erlöser und die Predigt von Ihm ihr gefiele.

2. Eben darum liegt nun aber auch deutlich genug in der Gesamtheit unsers Textes zweitens ausgesprochen, was vor allem Andern erforderlich ist, um der Predigt des Evangeliums zu glauben, und durch Kraft derselben selig zu werden, nämlich wahrhaftige Selbsterkenntniß, und mit ihr das gedemüthigte und zerschlagene Herz. Es ist nicht möglich, daß wir erfassen, geschweige, daß wir es im Glauben ergreifen, was uns in Christo bereitet ist, wenn wir zuvor nicht inne werden unsrer Krankheit und unsrer Schuld, um derentwillen Jesus der Herr sich also für uns erniedrigt hat. Es gilt noch immer, wie damals, was Jesus an die Spitze der ganzen Bergpredigt stellt: „Selig sind, die geistlich arm sind, denn das Himmelreich, ist ihr. Wir müssen von allen den eingebildeten Höhen eigener Weisheit und Gerechtigkeit und Würdigkeit, auf denen wir Wohlgefallen an uns selber haben, hinunter ins Thal der Demuth, der Selbsterniedrigung in der Buße. Da begründet der fähigste Kopf, die größte Gelehrsamkeit, der glänzendste Verstand, die feinste äußere Sitte und das höchste Ansehen vor der Welt keine Ausnahme. Alle, die selig werden wollen, müssen hinunter, der König bis zum geringsten seiner Unterthanen, und arm am Geist und von Herzen demüthig werden; sonst sind wir nicht tüchtig, zu fassen das Geheimniß der Erniedrigung unsers Erlösers, und sein Schuldopfer, für uns dargebracht, nicht tüchtig zum Glauben, auch nicht tüchtig, dem Vorbilde nachzuwandeln, das Er uns gelassen hat, und seine Schmach zu tragen, die jeder treue Jünger, jede treue Jüngerin des Herrn von Seiten der Welt nothwendig auf sich nehmen muß; „denn gleich wie Er ist,“ sagt Johannes (1 Joh. 4,17), „so sind auch wir in dieser Welt.“ Darum, Geliebte, das ist das kurze, aber inhaltvolle Wort der Anwendung auf uns, das ich hinzufüge, das Wort meiner Ermahnung an euch an dem heutigen Morgen, darum ermahne ich euch, daß ihr es aufs Neue alle ernstlich in Erwägung ziehet, ob es möglich ist, daß uns geholfen werde, nachdem der Herr sich für uns erniedrigt, und aus Liebe sich für uns entäußert hat, wenn wir nun nicht uns selbst erkennen und beurtheilen lernen nach der Wahrheit und Gerechtigkeit als die, die wir sind. Bei uns ist es keine Entäußerung, sondern Anerkennung der Wahrheit, wenn wir uns an uns selbst als die verdammnißwürdigen und verlornen Sünder erkennen, für die wir uns im Kirchengebete bekennen; denn das sind wir, und sind es alle. Mit dieser Erkenntniß gibt sich das Arm und Klein am Geiste werden von selbst. Wir haben dabei nichts zu entäußern und zu verläugnen, wir müssen nur abthun unsre Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit in dem Besitz unsrer vermeintlichen Vorzüge und Verdienste, wir müssen nur von unsern eingebildeten Höhen und Herrlichkeiten hinabsteigen zur Erkenntniß der Wahrheit, denn die Demuth ist nichts andres, als das Erkennen der wesentlichsten Wahrheit in uns, und ist innig Eins mit derselben, und wird auf allen Blättern der heiligen Schrift gelehrt. Das, geliebte Zuhörer, wollet aus unsrer heutigen Betrachtung auf euch anwenden, und es erwägen und bewegen in bestimmtester Anwendung auf euch selbst, auf daß nicht, was der Prophet hier weissagt, und wovon das Evangelium uns Kunde gibt, für uns vergeblich geschehen sey. Hierum, geliebte Zuhörer, bittet den Herrn um Erleuchtung, daß sein Geist es euch lehre, und euch arm mache in euch, und reich in Christo, daß der Arm des Herrn in Ihm an euch, und in euch, und durch euch offenbar werde zum ewigen Preise seines Namens, daß auch ich nicht klagen dürfe: „Herr, wer glaubet unsrer Predigt?“ daß Er mich mit euch segne und erfreue und sättige mit Gnade und Friede ewiglich. Amen.

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