Augustinus, Aurelius – Nachtgedanken - Sechste Nacht. Die Religion und die Natur.

Augustinus, Aurelius – Nachtgedanken - Sechste Nacht. Die Religion und die Natur.

„Wie? soll also die menschliche Gesellschaft sich auflösen? soll der Gatte seine Gattin verlassen? sollen glänzende Städte sich entvölkern und von den Bequemlichkeiten und Freuden des geselligen Lebens in die Wüste laufen, um dort ein rohes und wildes Leben zu führen? Sind nicht auch die Freuden dieses Lebens für den Menschen da? Ladet nicht die Natur ihn ein zum Genusse der Speisen, die sie ihm auf dieser Erde bereitet? Und ist nicht der ein Tyrann, der da will, dass der Mensch hungrig und darbend an dieser großen Tafel sitzen soll? Widersetzt sich ein solcher nicht etwa unter dem Scheine von Gottseligkeit den heiligen Absichten der Natur?“ So mag die Religion gelästert werden von dem, welcher sie schlecht kennt.

Mäßige, o Blinder, deine törichten Klagen! Die Religion vervollkommnet und heiligt die Gesetze der Natur, sie zerstört dieselben nicht und hebt sie nicht auf. Aber du sollst auch nicht Natur nennen, was Fehler, was Schuld des Menschen ist. Die Natur mahnt dich durch Hunger und Durst an die Wiederherstellung der ermattenden Leibeskräfte. Du wählst dir gierig eine Speise, wonach dir gelüstet, die dich aber krank macht; du verwandelst durch Übermaß dein Getränk in Gift. Nun geh' hin und klage die unschuldige Natur an. Warum ordnest du nicht mit Vernunft die Wahl und bestimmst das Maß nach dem Bedürfnis des Körpers? Gab dir nicht die Natur die Vernunft und das Gebot, sie stets zu fragen und ihr zu gehorchen? Warum beträgst du dich wie ein Vieh? Heißt nicht eben das die Natur übertreten?

Religion und Natur sind beide Töchter Eines Vaters, treu verkünden sie beide den Willen desselben und nie sind sie miteinander in Widerspruch. Die Natur setzt die Vollkommenheit des Menschen in die Vorzüglichkeit seines bessern Teiles seines Herzens, seines Geistes - und sucht das Wohl des Körpers nur zu befördern, insofern es dem geistigen Wohle zuträglich und nicht hinderlich ist. Die Religion zeigt uns diese wahre Hoheit des bessern Teiles in uns und gebietet uns, danach zu streben.

Wenn jemand in der Hitze des Fiebers bitteren Hunger fühlt und heißes Verlangen nach ungesunden Speisen und schädlichen Getränken, o so ist das nicht die Stimme der Natur, sondern des Übels, das ihn quält, der Krankheit, die ihn niederdrückt. Die Natur erhebt den Menschen über die trügerischen Güter, an denen er während der kurzen Zeit seines irdischen Lebens seine Freude suchen möchte, und wenn ihn seine Begierde nun treibt, in diesen seine Glückseligkeit zu suchen, so ist das nicht Stimme der Natur, sondern der Schwachheit, Stimme jener alten Krankheit, welche die Natur verdirbt und ihr entgegen ist. Die Natur will - und die Vernunft erklärt uns hinreichend ihren Sinn -, dass der Mensch durch Tugend sich über jene Schwachheit erhebe, und wenn sie sich nicht bis zur gleichen Höhe mit der Religion erschwingt, so liegt die Schuld nicht mehr an ihrem Willen, sondern an der Ohnmacht ihrer Kräfte. Aber die Religion kommt ihr zu Hilfe. Sie unterstützt uns in dem edlen Fluge und ruht nicht, bis sie uns hin zum Throne des Urwesens geführt hat. Sagt dir nicht die Natur durch das Licht der Vernunft, sagt es dir nicht dein Herz mit seinen Begierden, dass die Güter dieser Erde nicht imstande sind, den Hunger zu stillen, der dich nimmer verlässt? Dass ein endlicher Gegenstand deinem Verlangen nicht genügt? Dass ein sterbliches Leben deine Wünsche nicht erfüllt? Dass alles, was mit diesem Leben endet, dich nicht glückselig machen kann? So suche denn, o Mensch, dieses unvergängliche Gut, dieses unsterbliche Leben, dieses unendliche, unwandelbare Wesen. Ist das nicht Stimme der Natur? Dieses glückselige Los, diese hohe Bestimmung, für welche die Natur dich schuf, sieh', spricht die Religion, ich zeige sie dir jenseits des Grabes in einem neuen Leben, in unermesslichen Gütern, in Gott. Folge mir, ich führe dich dorthin. Hier winkt die Natur Beifall der weisen Sprache ihrer hohen Schwester: vertrau', ruft sie dem Menschen, Vertrau' dich ihr an! In so weit gehen beide Hand in Hand und zeigen uns einstimmig den Weg.

„So soll mir denn die Natur nicht mehr gestatten, mich zu freuen über meine Felder, über das Erbteil, das mir die Väter hinterlassen haben, mich der Rechte meiner Geburt zu bedienen und zu genießen, was ich durch Fleiß und Kraftanstrengung erworben habe?“

Weder verbietet dir das die Natur, noch macht die Religion es dir streitig. Es steht dir frei, die Erdengüter zu genießen, so lange das Wohl des Geistes darunter nicht leidet; du darfst sie genießen, aber nicht in denselben deine Glückseligkeit suchen, die unendlich weit über sie erhaben ist. So lange du auf Erden lebst, darfst du von der Erde leben; aber nicht zu ihrem Sklaven dich herabwürdigen. Die Bedürfnisse des Menschen, von der Natur erheischt, haben die menschliche Familie mit einem geselligen Bande umschlungen, Dörfer und Flecken gegründet und Städte befestigt. Die Natur hat den Menschen zu den Künsten und verschiedenen Gewerben geführt. Genieße, o Mensch, die Frucht des gebildeten Geistes, den die Natur dir gab, damit das süße und ruhige Leben nicht müßig sei im Schoße des Überflusses, der Sicherheit und des Friedens! Die Religion billigt die edle Sorge, die dich zu einem so hohen Gute begleitet. Nur erwäge, dass ein größeres Gut dich erwartet, wozu dir dieses nur als Mittel dient; dass du dich nicht begnügen sollst mit dem, was du jetzt besitzt, und was nur ein Schatten ist von dem, was du zu hoffen hast. Die Bedürfnisse des Menschen, von der Natur ausgegangen, haben den Völkern Gesetz gegeben, Obrigkeiten bestimmt, Throne errichtet zum Schutze der Gerechten, zum Schrecken der Bösen, denen die wehrlose Stimme der Vernunft ein zu schwacher Zaum ist. Die Natur, welche sorgfältig das Menschengeschlecht auf Erden erhalten will, lädt uns unaufhörlich zu den Freuden des Ehestandes ein. Die Natur erfüllt das Herz der Kinder mit Ehrfurcht gegen ihre Eltern und das Herz der Eltern mit Zärtlichkeit gegen ihre Kinder. Sie schreibt dem Untertan, dem Herrscher, dem Freunde, dem Bruder, dem Bürger, dem Menschen, seine Pflichten vor. Alle die verschiedenen Regierungsarten, die verschiedenen Gebräuche und Gewohnheiten, wodurch sich die Völker von einander unterscheiden, haben, wofern sie nicht mit der Vernunft im Widerspruche stehen, ihren Grund in der Natur. Die Religion kommt dazu, und weit Bande zu zerreißen, befestigt sie vielmehr dieselben. Zu den irdischen Interessen fügt sie noch die neuen Beweggründe des ewigen Heils hinzu und das menschliche Ansehen der Gesetze unterstützt sie durch göttliche Sanktion. Mensch, du weißt schon durch die Stimme der Natur, dass du keinen Menschen beleidigen, dass du vielmehr Jeden achten sollst wie dich selbst. Komm und lerne nun, was die Religion noch deutlicher lehrt. Es ist dir nicht nur verboten, einen anderen zu beleidigen, du sollst ihn auch dann noch lieben, wenn er dein Feind ist; du darfst ihn nicht hassen, auch wenn er dich tötet; du sollst ihm wohltun, auch wenn er undankbar und feindselig ist. Du sündigst, wenn du auch nur die Begierde hast, dich an ihm zu rächen. Du hast schon in der Schule der Natur gelernt, dass es ein Verbrechen ist, die eheliche Treue zu verletzen. Die Religion sagt dir noch weiter, dass es ein abscheuliches Vergehen ist, auch nur der Begierde und dem Verlangen nach untreu zu sein. Schon die Natur sagt dir, dass die Person der Herrscher heilig ist. Die Religion sagt dir noch weiter, dass ihr Leben auch dann heilig ist, wenn sie böse sind, und dass jedermann an ihnen den höchsten Herrn der Welt achten muss, dessen Bild und dessen Diener sie sind; dass du ihnen dienen sollst nicht bloß aus Furcht vor der irdischen Macht, sondern aus Furcht vor Gott, der den Ungehorsamen gegen sie nicht ungestraft lässt.

Die Bosheit des Menschen, die alles verdirbt, verbannte einst die wahre Gottesfurcht von der Erde, die Religion erfüllte damals die Welt mit Götzentempeln. Bei jenen blinden Völkern blieb in Beziehung auf Religion nur ein schwaches Schattenbild der Tugend übrig. Sie bewunderte nur die Verehrung der Götter in äußerem Prunke, mit Räucherungen, Opfern und Zeremonien. Sie zierte die Tempel, schmückte die Bilder, unbekümmert um den Schmuck des Herzens; vielmehr blieb dieses angesteckt von den schändlichsten Begierden und den strafbarsten Lastern. Die menschlichen Handlungen waren gesetzlos; aber nichts geschah ohne religiösen Aberglauben. Sogar die Religion selbst pflanzte alle Reime des Schlechten in den Menschen, indem sie ihm Götter zum Vorbilde aufstellte Ehebrecher, Räuber, Vatermörder grausame und mit tausend Schandtaten befleckte. Ewiger Gott, die schauerliche Nacht ist vorüber, dank deiner Erbarmung! Das wohltätige Licht deines heiligen Gesetzes hat nun die Erde von diesem abscheulichen Wuste gereinigt. Befreit ist die Natur von der ruchlosen Tyrannei, die unter erdichteten Göttersprüchen dieselbe gleich einer Sklavin in den schmachvollsten Banden gefangen hielt. Nun aber atmet sie frei, erkennt sich selbst und preist ihren Erretter. Brüder! der Tag ist herangekommen: folgen wir dem Lichte, das uns erleuchtet.

Die wahre Religion begnügte sich nicht mit einer halben Huldigung, mit einer geteilten Liebe; sie fordert den ganzen Menschen, nicht bloß den äußerlichen Tribut frommer Werke. Sie fordert den Menschen ganz; denn alles, was an ihm ist, regiert und lenkt und weiht sie dem höchsten Wesen. Sie ist die Mutter aller Tugend und zeichnet einer jeden ihren eigenen Wirkungskreis in der Denkart und in der Handlungsweise ihres edlen Zöglings. Vergebens nennt sich derjenige einen Frommen, der auch nur eine von diesen edlen Dienerinnen der hehren Königin beleidigt. Wer jene beschimpft, beschimpft die Königin selber. o du, der du zu dem Altare hintreten willst, entferne dich, wenn du in deinem Herzen Hass gegen deinen Bruder trägst! Gott verschmäht dein Opfer. Versöhne dich erst mit dem, der nicht mehr durch das Band der heiligen Liebe mit dir vereinigt ist. Flieh' aus dem Tempel mit deinen Gaben, du, dessen Hände mit Raub und Blut befleckt sind! Dein Opfer ist Gott verhasst. Erstatte erst, was du mit Unrecht gewonnen, beweine und ersetze erst den Schaden, den du getan hast! Schweig', Verwegener, in dessen Herz eine schändliche Flamme lodert! Deine Lobgesänge sind ein Gräuel vor dem Himmel. Verbanne zuerst aus deinem Herzen jeden unreinen Funken verbotener Liebe! Das fordert die Religion vor allen Opfern und Gelübden. - Vergeblich sind deine langen Gebete, vergeblich dein Fasten, wenn du den schmachtenden Armen von dir stößt, da du ihn nähren kannst; wenn du seine Blöße nicht bedeckst, wenn du in der Krankheit ihm nicht beispringst. Ohne Barmherzigkeit, Wohltätigkeit und Menschenliebe ist das, womit du dich schmückst, nur die leere Außenseite der Religion. Gleichwie ein einziger Dolchstich den ganzen Körper tötet, obschon die anderen Teile, die nicht getroffen wurden, unversehrt bleiben, so auch benimmt eine einzige Vernachlässigung und Übertretung der Pflicht der ganzen Religion Wirksamkeit und Leben.

Die menschlichen Gesetz erstrecken sich nur über den kurzen Zeitraum dieses sterblichen Lebens. Ihre Belohnungen sind irdisch, ihre Strafen erreichen den Menschen nicht mehr nach dem Tode. Die Religion ist fürchterlich in ihren Strafen. Das Racheschwert des Gesetzgebers trifft den Menschen ebenso wohl jenseits des dunklen Pfades, auf dem er in die Ewigkeit wandelt, als auch während seines Lebens auf Erden. Die Ketten der Verbrecher, die sie als Feinde Gottes verdammt, sind von ewiger Dauer. Ewiges Gefängnis, ewige Strafe wartet auf die, welche sich ihr widersetzen. Durch seinen Mut kann der Mensch die Verbannung hienieden verachten, dem Tode trotzen; aber den Schrecknissen und der schauerlichen Stimme der drohenden Religion kann nur Raserei und blinde Torheit Trotz bieten. Wie in ihren Strafen, so ist die Religion auch groß in ihren Belohnungen, auch diese sind ewig und grenzenlos. Für einen Trunk reinen Wassers, den man aus Mitleid und Liebe zu Gott dem müden Wanderer darreicht, ist im Himmel ein ewiger, unvergänglicher Lohn bereitet. Eine Speise, ein Stück Brot, das ich aus Liebe zum Heiland dem Hungernden reiche, verschafft mir einen bleibenden Schatz.

Wohl mag sich der Mensch hienieden durch Gold von der Strafe zuweilen loskaufen, verbergen kann er sein Verbrechen vor den Wächtern, die der Staat angeordnet, durch Flucht kann er sich der Rache der bürgerlichen Gesetz entziehen. Aber vor dem ewigen Richter, den mir die Religion als Rächer der menschlichen Ungerechtigkeit zeigt, gilt keine Flucht, kein Ausweg, keine Verteidigung. Bei dunkler Nacht schleicht sich insgeheim der Räuber hinaus und horcht und spähet und lauert. Sieh', bald verbirgt er sich, bald tritt er aus dem Winkel hervor, sinnt nach und zögert. Aber nun entschließt er sich; sieh', da kommt er mit der Leiter, setzt an und steigt ins Haus, wo alles in tiefer Stille ruht. Während alles schläft, tappt er umher, sammelt und stiehlt eilig, voll Angst und Misstrauen. Schon ist er davon und mit seinem geraubten Golde in Sicherheit. Sterblicher! du hast die menschlichen Gesetz hintergangen; aber ein weit schlimmeres Gericht erwartet dich. Dein Diebstahl ist dem ewigen Richter bekannt. Wohin du dich auch wenden magst, du bist schon in seinen Händen. Er wartet nur auf den Tod, damit dieser sich der ewigen Strafe überliefere. Wenn du nicht erschrickst beim Namen der irdischen Gesetz, o, so erblasse bei der Stimme der Religion!

Siehe, da geht ein anderer tief in dem dunkeln Walde und verweilt auf einmal in dem Dickicht. Er erblickt seinen Feind, allein und in tiefem Schlaf versunken, aufs Gras gestreckt. Er schaut umher, zieht den Dolch und naht sich leise und behutsamen Schrittes; schon ist er ihm nahe, schon erhebt er wütend die Hand. Halt! Unglückseliger, was beginnst du? Schone dieses Leben! Ist auch kein sterbliches Auge Zeuge dieses Frevels, so sieht dich doch ein Richter, dem du nicht entfliehen kannst, ein unbestechlicher, allmächtiger Richter. Ach! in demselben Augenblicke, wo du ihn durchbohrest, fällst du einem schlimmeren Tode anheim.

So ruft die Religion auch da, wo die menschlichen Gesetze vergeblich sind; sie bedroht und verdammt den Schwachen, den Mächtigen, den Untertan, den Herrscher. Überall zeigt sie sich dem Menschen, der die irdische Macht nicht ehrt, als Richterin, Klägerin und unvermeidliche Rächerin. Durch diese Stimme, durch diese Drohungen verbannte sie aus der Welt das unermessliche Heer der Verbrechen, und indem sie die Menschen bekannt machte mit dem köstlichen Himmelslohne ihrer Redlichkeit, brachte sie dieselben zur Liebe jeder wahren Tugend.

Die Tugend ist ihre Schönheit. Sowie eine schöne Gestalt das Auge des Körpers an sich zieht, so entzückt die Tugend das Auge des Geistes, und flößt jedem Herzen Ehrfurcht und Liebe ein: sogar die hässlichsten und wildesten Gemüter zollen ihr Achtung. Aber die Religion verbreitet über dieselbe ein höheres himmlisches Licht und erhebt sie von der Erde zum Himmel. Wer sie allein findet, kann ihr unmöglich seine Liebe versagen; wer sie aber im Bunde mit der Religion am Throne des ewigen Herrschers erblickt, sinkt, von ihrer Hoheit betroffen, vor ihr nieder und erkennt ihre göttliche Abkunft.

Ohne Religion sind die Tugenden unstet, heimatlos und ohne Führerin. Ihre Reichtümer sind im Vergleich mit denen, die die Religion darbietet, nur Armut. Der Mensch, welcher nach Gerechtigkeit strebt ohne Religion, besitzt freilich in seinem Herzen einen edlen Schatz er ist gerecht. Und dieser Name übertrifft die größten Ehrentitel auf Erden. Aber sobald die Gerechtigkeit die Religion zur Mutter hat, ist sie die Dienerin des Gottes, von dem alle Tugend ausgeht. Außer ihrem eigenen Werte bringt sie ihm das Wohlgefallen und die Hand des ewigen Lohn der Tugend, macht ihn zum Freunde, zum Vertrauten Gottes. Scävola1) ist tapfer aus Vaterlandsliebe, Coriolan2) verzeiht aus Liebe zu seiner Mutter, Regulus3) opfert sein Leben, um sein gegebenes Wort nicht zu brechen, Abradates4) opfert das seinige für seine Wohltäter. Jene erwarben sich den Ruf der Tapferkeit, der Milde, der Treue, der Erkenntlichkeit, Tugenden, die alles übertreffen, was der menschliche Stolz so nennt. Aber um wie weit schöner und reicher würden sie sein, wenn die Religion sie begleitete. Der Fromme legt an die Waffenrüstung des Tapferen und kämpft für das Vaterland wie der Irdisch-gesinnte; aber er dient in seinem Vaterlande mehr dem ewigen Herrscher, als einem irdischen Gebieter. Er verzeiht nicht aus Liebe zu einem irdischen Wesen, sondern aus Liebe der unendlichen Majestät. Er hält sein Ehrenwort auf Rosten seines Lebens, aber um sich die Freundschaft des ewigen Königs zu bewahren. Er bietet Trotz den Qualen, dem Tode, sobald Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Unschuld und Ehrbarkeit dieses erheischen; aber während er diese Tugenden ausübt, ist sein Herz mit einem höheren Gegenstande beschäftigt, er weiht es dem höchsten Wesen, der Urquelle alles Guten.

Die Religion entdeckt mir die englische Schönheit der Tugenden, sie zeigt mir auf einmal die anbetungswürdige Urquelle, die ewige Schönheit. Wie vor der aufgehenden Sonne die Sterne erblassen, so wird von dieser Urschöne jede abgeleitete Schönheit verdunkelt. Treu folge ich ihren Spuren, aber mein Herz kann sich an ihnen nicht mehr sättigen. Einem jeden rufe ich zu: O führe mich doch in den Schoß der unendlichen Schönheit. Die Religion im Bunde mit ihnen, führt mich zur anbetungswürdigen Gottheit und an ihr halte ich mich fest.

Und du, heilige Demut, die du dem Menschen den stolzen Wahn nimmst, womit er sich im Angesichte seines Gottes aufbläht und sich als eigenes Verdienst zuschreibt, was nur Geschenk seiner Güte ist, die du von ihm den schnöden Trotz verbannst, womit er sich hochmütig über seines Gleichen erhebt und dieselben als niedrigere Wesen unter die Füße tritt, die du uns zugleich unsere Niedrigkeit und unsere wahre Größe kennen lehrst; du, ohne welche uns die Quelle der Wahrheit verschlossen bleibt, wärst ohne die Religion noch jetzt der Welt unbekannt. Die Sanftmut, deine Tochter, die Bewahrerin der Liebe, die wir allen Menschen schuldig sind; die Sanftmut, so mild auch gegen die Feinde und unter Beschimpfungen, auch sie würde fremd sein in unserm Lande. Statt ihrer würden Zorn, wilder Hass und schwarze Rache Platz nehmen. Und du himmlisches Geschenk der menschlichen Natur, wodurch der Sterbliche wetteifert mit den seligen Geistern, die an den Strahlen der Gottheit sich sonnen und an seiner Liebe sich sättigen, hohe Jungfräulichkeit, auch du wärst unter uns nicht geachtet, wärst verschmäht, hätte nicht die Religion der Welt kundgetan, wie hoch du im Himmel geschätzt bist! Erhabene Seelen, brennend vom himmlischen Feuer, wodurch ihr euch über alles Geschaffene erhebt, erhabene Seelen, die ihr auf dieser Erde nichts mehr euerer würdig findet und keinen anderen Bräutigam sucht, als den Urheber der Natur; die Religion ist es, die euch zu dieser Größe erhoben hat. Ihr seid das höchste Geschenk, was die Erde dem Himmel gibt.

Der Träge, der durch Schläfrigkeit auf dem Wege zurückbleibt, ergrimmt insgeheim gegen die, welche mit schnellen Schritten ihm voreilen, oder er murrt gegen jene, die er nicht zu Gefährten seiner Feigheit haben kann. So möchten die Irdisch-gesinnten und Schwerfälligen, gewohnt den Schlangen gleich auf der Erde zu kriechen, jene Menschen, deren Niederträchtigkeit die Zahl der Elenden vermehrt und die Hoheit anderer gehässig macht, die edelsten Gaben, wodurch die Religion große Seelen über sie erhebt, verdunkeln oder ganz vernichten. Wenn die Natur - so philosophiert einer aus ihnen - den Menschen als Glied an die große Familie bindet, so zerstört die Religion die Gesetz der Natur, indem sie ihn von der Gesellschaft trennt und ihn zu einem einsamen Leben bestimmt. Wenn die Natur will, dass das Menschengeschlecht fortbestehe, so steht die Religion mit den Absichten derselben in Widerspruch, indem sie den Menschen auffordert, den süßen Namen: Gatte und Vater zu entsagen.

Tor, du verstehst nichts von dem, was du sprichst. Ein erfahrener Künstler findet einen ungeschliffenen Edelstein und durch hundert und hundert Schläge löst er die raue, unansehnliche Hülle ab und macht ihn endlich durch edle Kunst zum schönen und reichen Schmucke des königlichen Hauptes. Sage mir, verdirbt da die Kunst etwas an der Natur? Der gute Landmann nimmt hundert Baumpflänzchen aus dem nahen Walde und versetzt sie in ein besseres Erdreich. Mit sorgsamer Pflege impft und veredelt er sie und zwingt sie durch Kunst, statt der wilden und herben Früchte nun köstliche und wohlschmeckende hervorzubringen. Sage mir nun, wird die Natur, die diese Pflanzen in ungünstigen Boden säte und sie wild wachsen ließ, sich hier beleidigt finden und über die Kunst klagen? Ruft doch sogar die Natur die Kunst als Freundin zu Hilfe und ersucht sie, das zu vollenden, was sie selbst nicht vermag. Wisse, dass die Natur nicht das blinde Wesen des törichten Epikur ist. Sie ist das Werk eines unbegrenzten Geistes, der alles mit unendlicher Weisheit ordnet und mit der höchsten Kunst das Ganze verbindet. Der Urheber der Natur ist auch der Urheber der Kunst und vervollkommnet das eine durch das andere. Mit der größten Weisheit verfügte er, dass die Natur nicht alles aus sich allein für den Menschen tun soll, weil er will, dass dieser sich anstrenge. Der Urheber der Natur wollte, dass diese Bäume einst durch Mitwirkung der Kunst bessere Früchte bringen sollten, als sie von Natur tragen.

Die Religion ist die hohe, göttliche Kunst, die den Menschen veredelt. Der Schöpfer bestimmte den Menschen, Früchte erhabener Tugend zu bringen, wozu seine Natur allein nicht ausreicht. Er wies dem Menschen einen hohen Standpunkt an, beschied ihm ein erhabenes los, wozu ihn diese nicht erheben kann; darum gab er ihm die Religion. Er legte den Keim zur Religion in die Natur selber, nährte ihn mit steter Sorgfalt von oben und stieg endlich selbst vom Himmel herab, ihn zu pflegen. Wie an dem Baume die Früchte mehr sind als das Laub, und wie der kluge Gärtner, um den Baum fruchtbar zu machen, viele Äste beschneidet, die doch auch das Werk der Natur sind, so übertrifft das Geistige am Menschen seine Tugend alles, was körperlich ist. Darum benimmt ihm die Religion, indem sie ihn pflegt, zuweilen seine Vorteile und Vergnügungen, die übrigens der Natur gemäß sind, um bessere Früchte von ihm zu erlangen. Du kannst ohne Sünde große Reichtümer besitzen. Die Religion spricht dir zu, und du beraubst dich derselben. Diese edle Verachtung macht dich schon reicher al alle irdischen Güter. Dein Geist sammelt sich Schätze der Tugend. Die Religion beraubt dich des Laubes und bereichert dich mit überirdischer Frucht. Du kannst unter den Machthabern dieser Welt sitzen. Die Religion ruft dich; du steigst herab und mischest dich unter die Niedrigen der Erde. Diese Seelengröße zieret dich mehr als Purpur und Gold und erhebt dich über alles, was du verlassen hast. Du kannst dir eine Gattin wählen. Die Religion redet zu deinem Herzen. Du leistest Verzicht auf diese Freiheit und durch diese hochherzige Gewalt ehrst du die Natur mehr, als wenn du mit den anderen auf der gewöhnlichen Straße wandelst. In deiner Person erhebst du die Natur über sich selber.

„Aber wenn jeder den geringen und niedrigen Stand sucht, wenn er die Armut wählt und ein einsames, eheloses Leben ergreift, siehe, so wird alsbald die menschliche Gesellschaft sich auflösen, unser Geschlecht wird erlöschen, unsere Erde wird ein Aufenthalt für wilde Tiere und Vögel.“

Große Unglücksweissagungen; aber vielleicht auch Weissagungen der bloßen Unwissenheit! Ein weiser König will, dass alle Krieger die ersten Ehrenstellen im Heere einnehmen. Siehe, sagst du, da ist ja das ganze Heer in lauter Anführer verwandelt! Wo sind aber die Gemeinen? Tor! weißt du nicht, dass es nicht allen gegeben ist, die höchste Stufe zu ersteigen? dass das Vollkommene immer selten ist? Wetteifer, Tapferkeit, alles spornt zum Höhersteigen. Jeder strebt vorwärts. Wer die erste Stelle nicht erreicht, nimmt die zweite ein; wer nicht zu dieser gelangt, strebt wenigstens nach der dritten und den darauf folgenden. Und wer sich nicht über den gemeinen Haufen erheben kann, bestrebt sich wenigstens, dem Oberen zu gefallen und unter seinesgleichen nicht der lebte zu sein. So sind all die verschiedenen Grade besetzt nach Maßgabe der Kenntnisse und der Tapferkeit, wodurch sich die Menschen ausgezeichnet haben, und alle streben nach einem hohen Ziele.

Der Urheber der Religion, der zugleich auch der Urheber der Natur ist, kennt besser als einer die Anlage des Menschen und die große Kunst, dieselbe auszubilden. Allen setzt er zum Ziel die schwierigsten Unternehmungen heroischer Tapferkeit; alle führt er auf die Bahn erhabener Größe. Er weiß, dass wenige dorthin gelangen; aber auf diese Weise führt er viele zur zweiten Stufe und sofort zur höheren; kurz er sorgt, dass keiner durch Trägheit zurückbleibe, sondern dass jeder so hoch steige, als es seine Kräfte erlauben.

Die Natur gab allen Vögeln Flügel; aber dadurch wollte sie weder, dass alle gleich hoch fliegen, noch dass sie von der Erde, wo ihre Nahrung bereitet ist, verbannt sein sollen. Sie unterscheiden sich dadurch von den Tieren auf der Erde, dass sie von denselben abgesondert sind und jeden Augenblick sich über dieselben erheben können. Du willst sie fangen. Alle schwingen ihre Flügel und suchen die Freiheit. Obgleich alle beflügelt sind, so suchen sie doch nicht auf gleiche Weise die Nahrung. Der eine lässt sich nur herab auf die höchste Spitze des steilen Felsens, der andere steigt hernieder bis in die Hälfte des Berges, der dritte bis in die Ebene. Der eine hält sich beständig im niedrigen Gebüsche auf, der andere verlässt. nie die Gipfel der höchsten Bäume, wieder ein anderer sucht seine Nahrung auf der Erde.

Der Mensch ist geschaffen zu einer hohen Bestimmung, zu einem Ziele, welches über alles Irdische hinausreicht. Solange wir diese irdische Hülle tragen, dürfen wir auf der Erde wandeln und von ihr uns nähren. Aber der Geist, der in uns ist, soll davon nichts verkosten. Der Himmel ist sein Element. Auch er soll auf der Erde wohnen; aber stets getrennt von ihr, stets bereit, sie zu verlassen, um seine hohe Bestimmung zu erreichen, immer frei und erhaben über alle irdischen Güter. Das ist's, was den Menschen von allen irdischen und vernunftlosen Geschöpfen unterscheidet, was Natur und Religion von ihm fordern und was die Vollendung seiner Natur ausmacht. So nur bleibt die Menschenwürde und unsere Freiheit gesichert, so bleiben die Rechte der Natur, die man nicht verlegen darf, ungekränkt; aber es sind nicht alle von uns Adler und Tauben, dass sie über diese niedrige Atmosphäre sich erheben könnten. Jeder richtet seinen Flug dorthin, wo die Himmelsluft weht, die allein unsere Fittige lenkt, soweit seine Kräfte reichen und soweit ihn jene trägt. Die Religion gebietet da nicht mehr, sie lädt bloß ein und rät. Hast du keinen Mut, ohne treue Gefährtin zu leben? Wähle sie dir, die Religion verbietet dir's nicht, sie billigt es dir vielmehr. Liebe sie mit Zärtlichkeit, das gebietet die Religion. Aber diese Liebe soll derjenigen untergeordnet sein, die du dem Urheber aller Dinge schuldig bist, der nicht nur für dieses kurze Leben, sondern für die ganze unermessliche Ewigkeit dein Bräutigam sein soll. Die Natur will's, die Religion macht es dir zur Pflicht. Hast du nicht das Herz, das Haus, die Felder zu verlassen, die deinen Schatz ausmachen? Behalte sie, die Religion gestattet dir's. Aber du darfst dein Herz nicht davon einnehmen lassen, das ja einem höheren Wesen, dem Herrn aller Dinge angehört. Du magst sie besitzen; aber dein Herz soll nur der einnehmen, der das Ziel und Ende deines ganzen Wesens ist. Es huldigen dir mit Ehrfurcht deine Untertanen. Empfange diese Huldigung, aber bewahre sie ganz dem Allerhöchsten, dem allein Achtung und Ehre gebührt, dessen geringer Diener du bist. In seinem Namen forderst du sie; willst du sie nun für dich annehmen, so ist das Anmaßung gegen ihn, es ist ein Diebstahl, den die Religion verbietet.

Überhaupt gibt die Religion keine Vorschrift über die verschiedenen Stufen, welche die Natur in der Menschenfamilie angeordnet hat, aber sie heiligt sie alle. Überall nimmt sie in Schutz den Adel des Menschen und die Rechte der Gottheit den Adel des Menschen, dessen kein anderer Gegenstand außer dem Unendlichen würdig ist; die Rechte der Gottheit, welche das ganze Herz des ihm geweihten Geschöpfes verlangen. Und wenn die Religion einen Teil der Menschen etwa außer dem gewöhnlichen Wege der Natur zu einer vollkommeneren Huldigung vor Gott beruft, so widerspricht sie darin nicht der Natur, sondern sie erhöht dieselbe.

1)
legendärer römischer Volksheld Gaius Mucius Scaevola her, welcher der Sage nach im Jahre 508 v. Chr. seine rechte Hand bei dem fehlgeschlagenen Versuch opferte, den Etruskerkönig Lars Porsenna zu ermorden.
2)
Gnaeus Marcius Coriolanus (auch Gaius Marcius Coriolanus oder kurz Coriolan; * vor 527 v. Chr. in Rom; † um 488 v. Chr. in Antium) war der Sage nach ein römischer Held und Feldherr, dessen Stolz, Unverstand und Starrsinn zu Auseinandersetzungen mit den Plebejern führten. Er wurde aus Rom verbannt und führte daraufhin einen Krieg gegen seine eigene Heimatstadt, den er erst auf Bitten seiner Mutter abbrach.
3)
Marcus Atilius Regulus († um 250 v. Chr.) war ein römischer Politiker und Feldherr während des Ersten Punischen Krieges.
4)
Abradatas (griechisch: Αβραδάτας ; fl. 6. Jahrhundert v. Chr.) War ein wahrscheinlich fiktiver König von Susa,
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