Vinet, Alexandre - Der Glaube - Zweite Rede.

Joh. XX, 29.
Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben.

Wir haben den menschlichen Glauben genug erhoben; setzen wir ihn jetzt herab. Nachdem wir seine Wunder berichtet haben, lasst uns nun sein Elend schildern.

Die menschlichen Religionen haben ein Bedürfnis unserer Natur erkannt; sie haben es geübt, sie haben es unterhalten; aber sie haben es getäuscht.

Zunächst waren sie reine menschliche Erfindungen. Nicht dass der Glaube, als Triebfeder des Handelns und als Quelle der Kraft betrachtet, durchaus nötig habe, auf der Wahrheit zu ruhen; aber was falsch ist, kann nicht dauern und muss zum allerwenigsten einem neuen Irrtum Platz machen. Der Glaube an menschliche Institutionen kann fest und lebendig sein, so lange diese Institutionen im Verhältnis stehen zu dem Grade der Kultur der Geister; sobald diese Epoche vorüber, verdunstet der Glaube allmählig, gleichsam eine Klasse der Gesellschaft nach der andern trocken legend; die Hefe der Glaubensvorstellungen bleibt der Hefe des Volks; die höheren Klassen sind skeptisch oder gleichgültig, und die Denker sind Fatalisten oder Atheisten. Wenn, in einem außerordentlichen Falle, die alte Religion fortbesteht, so geschieht es, wie wir in der vorhergehenden Rede gesehen haben, auf Kosten der intellektuellen Bewegung und des Fortschrittes jeglicher Art; und gewöhnlich, statt der Seele Spannkraft zu geben, berauben diese alten Religionen sie derselben; und statt die Seele zu unterstützen, drücken sie dieselbe nieder.

In einer andern Beziehung ist der Glaube der Heiden noch weniger empfehlenswert. Er ist der Vervollkommnung des moralischen Menschen gänzlich fremd; oft sogar ist er ihr gerade entgegen. Er macht es sich zur Aufgabe, den Menschen zu trösten, noch häufiger, ihn zu beherrschen; nirgends ist sein letztes Ziel, den Menschen zu erneuen; nirgends erhebt er sich zu der erhabenen Idee, ihn sein Glück in seiner Wiedergeburt finden zu lassen.

Sollen wir etwas von dem Glauben der Deisten sagen? Um, in einer Epoche, wie die unsere, ihn genau abzuschätzen, müsste man ihm zunächst entziehen können, was er unwillkürlich dem Evangelium entlehnt hat. Der Deismus unserer Tage ist mehr oder weniger gefärbt mit Christentum; daher kommt es, dass er nicht notwendiger Weise, wie der des Altertums, in den Fatalismus aufgeht. Aber wie er auch sein mag, und wenn wir ihn auch in seiner besten Qualität nehmen, so müssen wir doch gestehen, dass der Glaube der Deisten nur eine Meinung ist, eine sehr unbestimmte, sehr schwankende Meinung, welche, als Triebfeder des Handelns, dem Glauben der Heiden nicht gleichkommt. Hätte der Deismus wenigstens Fakiren, welche sich, um ihrer Gottheit zu gefallen, unter den Wagenrädern derselben zermalmen lassen, so würden wir zugestehen, dass der Deismus eine Religion ist.

Auch sehen wir nicht ohne eine Art von Vergnügen, dass die Ungläubigen unserer Tage, nicht wissend, was sie mit ihrer natürlichen Religion machen sollen, und verfolgt von dem Bedürfnis zu glauben, sich offen an andere Gegenstände wenden, und sich - bemerkenswerte Sache! - eine Religion ohne Gottheit bilden. Ich spreche hier nicht von den Geizigen, welche, nach St. Paulus, wahre Götzendiener sind, noch von den Sinnlichen, welche, nach demselben Apostel, aus dem Bauch ihren Gott machen. Es gibt Seelen, welche weniger tief gefallen sind, welche, ihrem Ursprunge weniger ungetreu, das Bedürfnis, den Durst nach dem Unendlichen bewahrt, aber welche den wahren Namen desselben verlernt haben. Dieses Verlangen nach der Gottheit und nach der Religion, welches sie ohne ihr Vorwissen quält, lässt sie auf der Erde irgend einen Gegenstand der Anbetung suchen; denn der Mensch muss etwas anbeten. Es ist schwer, zu sagen, wie man dahin gelangt, Gegenstände mit einem Charakter von Unendlichkeit zu bekleiden, deren endliche Natur uns auf der Stelle in die Auge springen muss; aber es ist gewiss, dass diese Täuschung häufig vorkommt. Die Einen machen aus der Wissenschaft den Gegenstand ihrer leidenschaftlichen Gottesverehrung; die Andern, den Genius der Menschheit vor sich beschwörend, oder, wie sie es nennen, das Ideal derselben, widmen ihrer Vervollkommnung, ihrem Triumph, eben so ideal, Alles, was sie an Zuneigung, Gedanken und Kraft besitzen. Noch Andere, und dies ist in unsern Tagen die größte Zahl, haben sich eine Religion aus der politischen Freiheit gemacht; der Triumph von gewissen Rechtsprinzipien in der Gesellschaft ist für sie, was für den Christen das Reich Gottes und das ewige Leben ist; sie haben ihren Kultus, ihre Andacht, ihren Fanatismus; und dieselben Menschen, welche den Mystizismus der christlichen Sekten mitleidig belächeln, haben auch ihren Mystizismus, der weniger gefühlvoll, weniger geistig, aber desto unbegreiflicher ist.

So, meine Brüder, allen entgegenstrebenden Bemühungen und allen Behauptungen zum Trotz, hat jeder seine Religion, zweifelt nicht daran; jeder hat seinen Kultus; jeder vergöttert etwas; und, wenn man nicht weiß, welcher Idee man Weihrauch streuen soll, vergöttert man sich selbst.

Damit, meine Brüder, hat der Abfall in Edens Garten begonnen; und so, wie es sein Beginn gewesen ist, so ist es auch sein letzter Ausgang. Im Grunde laufen alle anderen Apotheosen, wenn man sie in der Nähe besteht, darauf hinaus. In der Wissenschaft, in der Vernunft, in der Freiheit huldigt man nur sich selbst; nichts desto weniger stellt sich der Glaube an sich selbst auch als ein besonderer Kultus dar, den zu betrachten es der Mühe wert ist. Er besteht in der absurdesten Ideenverwechselung. Indem das Subjekt und das Objekt sich in einer und derselben Individualität vereinigen, so betet der Anbeter sich an, glaubt der Gläubige an sich; das heißt so viel, da der Kultus immer eine Beziehung von Ungleichheit voraussetzt, dass sich dasselbe Individuum sich selbst untergeordnet findet, und, da der Glaube eine Autorität voraussetzt, dass sich die Autorität der Autorität unterwirft. Diese Verdrehung der Begriffe nimmt uns nicht mehr Wunder, seitdem wir in unsern Geist die unbegreifliche Meinung haben eindringen lassen, dass wir durch uns selbst etwas sind, und dass der Zweig unabhängig von dem Stamme bestehen kann; nach diesem müssen wir natürlich bald über und bald unter uns stehen, muss das Ich bald der Herr, und bald der Diener des Ich sein. Und so leben, nach Wahl und systematisch, Männer, welche für weise gelten. Sie haben Glauben in sich selbst, in ihre Weisheit, in ihre Kraft, in ihren Willen, in ihre Tugend; und wenn es diesem Glauben gelungen ist, festen Boden in ihrem Herzen zu fassen, so ist er fähig, nach Außen hin sehr große Wirkungen hervorzubringen. Ich habe gesagt, groß, aber ich verweise Euch in Bezug hierauf an Jesus Christus selbst, welcher uns erklärt, dass, „wer erhaben ist vor den Menschen, vor Gott ein Gräuel ist.“

Mögt Ihr, meine Brüder, diesen Glauben an Ideen, diesen Glauben an sich selbst lieben, als den Glauben der Heiden an eingebildete Gottheiten? Und wie kann man nicht erkennen, dass, abgesehen von dem Charakter von Stolz und Irreligiosität, den beide Glaubensarten an sich tragen, sie, nach rein menschlichen Begriffen, außerordentlich mangelhaft sind? Hier ist der Ort, auf die Unklugheit hinzuweisen, mit welcher man den subjektiven Glauben, wie ihn die Schule nennt, über den objektiven Glauben erhoben hat, indem man zu verstehen gibt, dass das Wesentliche ist, fest zu glauben, welches übrigens auch der Gegenstand des Glaubens sein mag; ohne Zweifel meinte man, diesen Grundsatz nur auf die Nuancen der Wahrheit anzuwenden, nicht auf die Wahrheit selbst; aber wie leicht ist der Übergang! Wie will man leugnen, dass die Männer, von denen wir oben redeten, den subjektiven Glauben in einem hohen Grade besitzen? dass dieser Glaube in ihnen eine lebendige und intensive Kraft ist, gleich fähig zum Widerstande wie zur Bewegung? Aber ist denn dieses da die ganze Frage? und handelt es sich nur darum, stark zu sein, ohne je Rechenschaft über die Anwendung seiner Kraft zu geben? Welches sind denn die Wirkungen des so sehr gerühmten Glaubens des Menschen an den Menschen? Ist der Glaube geeignet, ihn ganz zu bilden? Lässt er nicht in seinem Innern unermessliche Lücken? Bildet er ihn nicht, um es besser auszudrücken, im umgekehrten Sinn, und in einer Art, ihn zu entstellen? Wenn alle Säfte nach einem Theile des Körpers drängen, was wird da der übrige Körper? Wenn alle Huldigungen des Menschen an den Menschen gerichtet sind, was wird da Gott? Welch eine Monstrosität ist also nicht ein Glaube, der sich bis zu einem solchen Punkte verirrt hat, der so verfälscht ist?

Und glaubet nur nicht, dass dieser Glaube, selbst in seiner eignen Sphäre, immer die Vorzüge habe, die man ihm zuschreibt. Es gibt, ich gestehe es, unbiegsame Seelen, welche das Alter noch starrer macht, und welche in ihrem Aberglauben sterben, bis zum Ende, Fanatiker der Aufklärung, der Zivilisation und der Freiheit. Aber die Mehrzahl enttäuscht sich und besinnt sich vor dem Tode; man hat mehrere ihres früheren Kultus lachen und die Überreste ihrer alten Götzen mit Verachtung unter die Füße treten sehen. Die Seele übersättigt sich leicht mit dem, was nicht wahr ist, und der Widerwille entspricht dann dem früheren Enthusiasmus.

Ihr werdet dahin kommen, Ihr, die Ihr an die Wiedergeburt des Menschengeschlechts durch die politische Freiheit glaubt; Ihr, die Ihr nicht gesehen habt, dass es für den Menschen, bevor er sich nicht zum Sklaven Gottes gemacht hat, keine Freiheit gibt; Ihr werdet über Eure Träume wehklagen, die vielleicht die Volks-Leidenschaften blutig gemacht haben. Ihr werdet dahin kommen, Ihr, die Ihr durchdrungen ward von Eurer angeborenen Großmut, von der Uneigennützigkeit Eurer Gesinnungen, der Reinheit Eurer Absichten; Ihr, die Ihr, mit einem Wort, Glauben in Euch selbst hattet. Wenn tausend demütigende Fehltritte Euch von Eurer Schwachheit überzeugt haben werden; wenn, enttäuscht über die Andern, Ihr es auch über Euch selbst sein werdet; wenn Ihr wie Brutus sagen werdet: O Tugend, du bist nur ein Schattenbild! was wird Euch bleiben? was so vielen andern geblieben ist: die Vergnügungen des Egoismus oder der Sinnlichkeit, letzter Bodensatz aller Irrtümer, unreines Überbleibsel aller falschen Systeme; wenn nicht jedoch es Euch dann gegeben ist, in Stelle Eures Glaubens, der Euch verlässt, einen bessern Glauben anzunehmen, der niemals verlässt, und den Euch zu verkündigen uns übrig bleibt.

Wir verkündigen Euch den Glauben des Evangeliums; macht Euch mit seinen Merkmalen vertraut, und lernt seine Vortrefflichkeit kennen.

Nirgends ist die Wichtigkeit des Glaubens so hoch angeschlagen, als im Evangelium. Und zunächst, bei einem ersten Blicke stehen bleibend, erfahrt Ihr, dass es der Glaube ist, welcher errettet, nicht für die Zeit, sondern für die Ewigkeit.

„Ihr werdet selig durch den Glauben,“ sagt St. Paulus. „Denn so du mit deinem Munde Jesum Christum bekennst, und so du in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn1) von den Toten auferwecket hat, so wirst du selig. Christus ist die Quelle der Seligkeit für alle, die glauben.“ Erstes Kennzeichen des christlichen Glaubens. Die Seligkeit ist daran geknüpft.

Aber seht ihn deshalb nicht wie einen Akt des Verdienstes an. Während in den andern Religionen der Glaube ein eigenwilliges Werk ist, an welches es der Gottheit gefallen hat, ein Verdienst oder eine Belohnung zu knüpfen, ein Werk ohne einen andern Werth als den zufälligen, welchen ihm das Versprechen von oben beilegt, - ist der Glaube im Evangelium hingestellt, als eine innere Kraft, eine eigne Tugend besitzend, als einen direkten Einfluss auf das Leben, und durch das Leben auf die Seligkeit habend. Der Glaube im Evangelium macht nur selig, weil er erneuet; der Glaube ist weniger das Mittel zum Heil, als das Heil selbst; weniger der Weg des Lebens, als das Leben selbst. Der Glaube besteht darin, in dem Herzen Dinge aufzunehmen, welche geeignet sind, es umzuwandeln. Der Christ hat in Bezug auf Gott, auf sich selbst, auf das Leben Überzeugungen, welche ganz verschieden von denen der Welt sind, wenn überhaupt die Welt über diese Dinge etwas hat, was Überzeugungen ähnlich steht. Die Lehre des Evangeliums ist eine solche, dass, sobald sie in einen durch Gewissensbisse und durch die Schrecken des künftigen Gerichts bewegten Geist dringt, sie bei ihm eine Freude und eine Dankbarkeit erzeugt, deren unvermeidliche Wirkung die ist, ihn in einer Richtung fortzutreiben, welche der gerade entgegengesetzt ist, die er bis dahin verfolgt hatte. Er hat den Frieden gefunden; könnte er sich von der Quelle des Friedens entfernen? könnte er sich zu den ausgehöhlten Zisternen verirren, welche kein Wasser enthalten, während er neben sich Quellen lebendigen Wassers hat, welche ewiges Leben ausströmen? Wird er nicht dem gehorchen, der für ihn gehorsam war bis zum Tode am Kreuz? Wird er sich nicht dieser Vorsehung unterwerfen, welche, indem sie ihm den einzigen Sohn des Vaters gegeben, ihm bewiesen hat, dass sie in allen Dingen nur sein Glück wollen kann? Wird der seine Brüder hassen, der Gott liebt? Wird der nicht beten, welcher weiß, dass der Geist Gottes selbst für die Getreuen mit unaussprechlichen Seufzern bittet? Ja, der christliche Glaube ist die Besiegung der Welt; der christliche Glaube schließt alle Elemente eines heiligen Lebens in sich; und was es besser beweist, als unsere Auseinandersetzungen, ist das reine, das volle, das konsequente Leben so vieler, wovon das Christentum uns allein das Beispiel liefert; es sind vor Allem diese erstaunenswürdigen Revolutionen, welche aus einem wahrhaft Bekehrten eine neue Kreatur machen; welche die zornigen Seelen zur Sanftmut, die heftigen Naturen zur Geduld, die stolzen Geister zur Demuth, die verstellten Charaktere zur Aufrichtigkeit, die beunruhigten Herzen zur Ruhe geneigt machen; mit einem Wort, welche in dem Menschen eine neue Seele erschaffen, fähig zu all den Tugenden, welche den sie früher tyrannisierenden Lastern entgegengesetzt sind.

Die Einheit des Lebens muss der Einheit des Prinzips und seiner Unermesslichkeit entsprechen. Der Glaube an etwas Endliches kann nur endliche Tugenden hervorbringen, der Glaube an etwas unvollkommenes nur unvollkommene Tugenden, der an etwas Vorübergehendes nur vorübergehende Resultate. Aber Gott ist das Prinzip, welches alles Prinzipe umschließt; noch mehr, er ist das Prinzip, welches sie Alle regelt und belebt; Alles ist falsch, verstümmelt, wenn es sich nicht auf Gott bezieht, der die Wahrheit selbst ist, die ganze Wahrheit; Alles ist Lüge, wenn es sich auf einen lügenhaften Gott bezieht; aber Alles ist wahr, vollständig, zusammenhängend, fruchtbar, was den wahren Gott zum Prinzip hat. Welcher Theil von dem Felde der Moral könnte unfruchtbar und verloren bleiben unter einem Einfluss, dem nichts entgeht? Welcher Tugend könnte Gott nicht vorstehen? welcher Pflicht könnte er entbinden? Er, der die Gerechtigkeit, die Güte, die höchste Schönheit ist, wie sollte er nicht Alles an sich ziehen, was recht, groß und schön ist? Aus diesem Grunde ist die Kenntnis Gottes, des wahren Gottes, das einzige Prinzip der vollkommenen Moral, und es ist sehr unsinnig, ihr ein anderes geben zu wollen.

Und fordert von dem christlichen Glauben nicht bloß die auffallenden Dinge; er hat das Eigentümliche, dass er alle Saiten unserer Seele zugleich in Spannung erhält, und dass sein Einfluss sich auf allen Punkten zugleich verbreitet. Wir haben Leonidas an den Thermopylen für die Rettung Griechenlands sterben sehen. Der christliche Glaube würde einem Christen dasselbe lehren; aber er würde ihm auch tausend kleine alltägliche Opfer möglich machen; er würde die Seele gegen die inneren Angriffe des Zornes, des Neides und des falschen Ruhmes wappnen. Tat der Glaube des Leonidas all diese Dinge?

Diese unendliche Mannigfaltigkeit, diese Unermesslichkeit der Anwendung des christlichen Glaubens erklärt sich noch besser durch das vorherrschende Kennzeichen dieses Glaubens, welches die Liebe ist. Die Liebe schreibt sich keine Grenzen vor. Wenn in dem Herzen des Christen nur ein Gefühl des gesetzlichen Rechts wäre, so würde er versuchen, seine Aufgabe abzumessen, er würde sich genaue Grenzen vorzeichnen, er würde wissen, wo er stehen bleiben müsste; aber indem er gehorcht, weil er liebt, indem er den liebt, den man nicht zu sehr lieben kann, überlässt er sich dem Drange seines Herzens, wie sich der weltliche Mensch seiner Leidenschaft überlässt; er sagt niemals und kann niemals sagen: es ist genug; er würde fürchten, nicht mehr zu lieben, von dem Augenblick, wo er zu seiner Liebe gesagt hätte: du kannst bis dahin gehen, aber nicht weiter. Die Liebe kennt weder die Vorsicht, noch den Rückhalt, sie will immer mehr, sie entzündet sich durch ihre eigene Bewegung, wächst selbst durch ihre Opfer, gedenkt zu empfangen in dem Maße, als sie gibt, und ist sich selbst ihre Belohnung; denn die wahre Belohnung dafür, dass man liebt, ist, noch mehr zu lieben. Wo wird also in seinen Anwendungen ein Glaube stehen bleiben, der in Liebe aufgeht?

Es ist hiernach beinahe unnötig, zu beweisen, dass der christliche Glaube ein energisches Prinzip des Handelns ist. Sich enthalten und ertragen, bilden nur die Hälfte einer auf Liebe begründeten Moral. Weit entfernt, sich auf den Charakter einer gehorsamen Passivität zu beschränken, sucht und mehrt die heilige Ungeduld der Liebe die Gelegenheiten, wo sie dem rettenden Gotte, von dem sie ausgeht, ihre Wärme zeigen kann. Den ausdrücklichen Vermahnungen des Evangeliums und dem Beispiele Jesu Christi getreu, dessen heilige Tätigkeit niemals nachlässt, erschafft sich die christliche Liebe in jedem Augenblicke neue Sphären der Arbeit und neue, zu erobernde Gebiete. Brauchen wir dies zu beweisen? Werden nicht die Feinde des Christentums die ersten sein, eine Tätigkeit zuzugestehen, worüber sie sich täglich beklagen und beunruhigen? Die, welche den christlichen Glauben des Fanatismus beschuldigen, geben sie dadurch nicht der in ihm wohnenden Kraft zum Handeln ein schönes Zeugnis? Christus hat den Glauben, den er in die Welt brachte, wohl bezeichnet, wenn er mit so viel Kraft sagt: „Wenn ihr Glauben habt, als ein Senfkorn, und saget zu diesem Maulbeerbaum: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer; so wird er euch gehorsam sein.“ So groß ist sogar die Macht des christlichen Glaubens, dass, lange vor der Erscheinung Christi, als der Glaube sich nur an dem Schatten Dessen, der da kommen sollte, nährte, schon die antizipierten Christen des alten Bundes durch ihren Glauben zu den heldenmütigsten Bemühungen und zu den außerordentlichsten Werken befähigt wurden. Leset, im 11ten Kapitel der Epistel an die Hebräer, die Schilderung von alle dem, was der Glaube die Christen des alten Bundes hat tun lassen; stellt neben diese Schilderung das Bild, welches Euch in dieser Beziehung die Kirche seit den apostolischen Tagen bis auf unsere Zeit darbietet, und Ihr werdet nicht zweifeln, dass, wenn der Glaube im Allgemeinen ein Prinzip des Handelns ist, der christliche Glaube das stärkste von allen sei.

Ein letztes Kennzeichen dieses Glaubens ist seine Gewissheit. Ich spreche nicht von dieser Vereinigung äußerer Beweise, diesem mächtigen Bollwerke der christlichen Offenbarungen, für welches die Ungläubigen unserer Tage eine so wenig philosophische Verachtung affektieren, und welches von Hunderten kaum Einer zu prüfen sich die Mühe gibt. Ich spreche nicht davon, weil sie nicht allen Gläubigen gleich zugänglich sind. Aber der wahre Christ hat einen noch bessern Beweis: er hat Gott gegenwärtig in seinem Herzen; er fühlt in jedem Augenblicke das Wirken des Geistes Gottes in seinem Innern. Er liebt, er hat also die Wahrheit. Dieser Beweis ist nicht von der Art, ihn durch Worte mittheilen zu können; aber eben so werden ihn auch Worte nicht nehmen können. Ihr werdet dem Christen nicht beweisen, dass er Gott nicht liebt, und wenn er ihn liebt, werdet Ihr es zu behaupten wagen, dass er ihn nicht kennt? Ich habe schon einmal gefragt und ich wiederhole diese Frage: Derjenige, welcher Gott liebt, täuscht er sich? ist er nicht in der Wahrheit? und wenn das Christentum allein die Kraft zu lieben gibt, ist da nicht das Christentum allein die Wahrheit? Das ist die Gewissheit, deren sich die Gläubigen erfreuen; ich füge nicht hinzu, dass sie durch den heiligen Geist unterhalten und belebt wird; ich spreche nur von den augenscheinlichen Tatsachen, von Tatsachen, welche die Ungläubigen wie die Gläubigen feststellen können, und beschränke mich darauf, zu sagen: Der Glaube des wahren Christen hat als Kennzeichen eine Gewissheit, welche die jedes andern Glaubens übertrifft.

Das ist, o Männer der großen Welt, o Denker, o stolze Urheber und Leiter der Dinge dieser Welt, das ist der Glaube, den ich Eurem glaubensleeren und glaubensdurstigen, oder Eurem durch seinen Glauben getäuschten Herzen vorschlage. Gewiss, es hängt weder von mir ab, Euch, auf Grund der Schilderung, welche ich davon entwerfe, zu seiner Annahme zu vermögen, noch von Euch selbst, Euch, auf Grund dieser einfachen Darstellung, dazu zu bekennen. Die Vernunftschlüsse wandeln den Menschen nicht um; es ist das Leben, welches das Leben lehrt; es ist Gott, der Gott offenbaret. Aber ist denn das, was wir gesagt haben, ohne Zweck und ohne irgend eine Anwendung? O nein, sobald es uns gelungen ist, Euch wenigstens die Fehler Eures Glaubens und die Überlegenheit des christlichen Glaubens in Bezug auf das Leben und das Handeln begreiflich zu machen.

Was den ersten Punkt betrifft; so glaube ich, dass er gegen den Widerspruch gesichert ist. Was den zweiten anlangt, so haben wir, wie es uns scheint, Alles bewiesen, was wir zu beweisen hatten.

Es war nicht unsere Aufgabe, Euch zu beweisen, dass die christliche Religion wahr ist, dass die Offenbarungen, auf welche sie sich stützt, authentisch sind. Unser einziger Zweck war, zu beweisen, dass die christliche Religion, wie alle übrigen, einem Bedürfnisse der menschlichen Seele huldigt, aber dass sie, was keine andere getan, dieses Bedürfnis befriedigt hat; dass sie dem Menschen ein Prinzip der Kraft und des Handelns liefert, dessen unterscheidende Kennzeichen sich in keinem anderen Glauben vereinigt finden; dass der christliche Glaube eine Intensivität, eine Allgemeinheit der Anwendung, eine Erhabenheit der Tendenz, eine Gewissheit hat, wie kein anderer, dass er in allen diesen Beziehungen einen Typus der Vollkommenheit darbietet, welcher bisher in keiner menschlichen Erfindung verwirklicht worden ist; und dass, wenn Gott selbst der Welt einen Glauben gegeben hätte, es unmöglich ist, dass er ihn in irgend einer Beziehung besser gegeben hätte.

Hiernach kann es ziemlich überflüssig erscheinen, zu untersuchen, ob die christliche Religion wahr ist. Uns genügt dieser Beweis, und wir wünschen sehnlichst, dass er für Euch so schlagend sein mag, als er es für uns gewesen ist.

Möchte dies, durch die Gnade Gottes, das Resultat dieser Rede sein!

1)
im Text stand hier fehlerhaft 'dich'
Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/v/vinet/vinet_reden/vinet_reden_der_glaube_-_zweite_rede.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain