Döllinger, Johann Joseph Ignaz von - Offener Brief an den Erzbischof Gregor von Scherr

Döllinger, Johann Joseph Ignaz von - Offener Brief an den Erzbischof Gregor von Scherr

28. März 1871

Eure Exzellenz haben mich in zwei Schreiben aufgefordert, mich über meine Stellung zu den von Ihnen verkündeten römischen Beschlüssen vom 18. Juli 1870 zu erklären.

Aus dem Kreise Ihres Domkapitels verlautet, daß Sie gesonnen seien, mit Straf- und Zwangsmitteln gegen mich vorzugehen, wie sie sonst nur gegen solche Priester, welche sich grober sittlicher Vergehen schuldig gemacht haben, und auch gegen diese nur in sehr seltenen Fällen, angewendet werden. Es soll dies geschehen, wenn ich nicht in bestimmter Frist meine Unterwerfung unter die beiden neuen Glaubensartikel von der Allgewalt und Unfehlbarkeit des Papstes erkläre.

Zugleich wird versichert, daß in naher Zeit wieder eine Zusammenkunft und Beratung deutscher Bischöfe zu Fulda stattfinden werde.

Als im Jahre 1848 eine Versammlung aller deutschen Bischöfe zu Würzburg gehalten wurde, erwies man mir die Ehre, mich zu derselben einzuladen, und nahm ich an den dort gepflogenen Verhandlungen Teil. Vielleicht könnten nun Eure Exzellenz veranlassen, daß auch auf dieser bevorstehenden Versammlung mir, nicht etwa eine Teilnahme an den Beratungen, sondern nur ein geneigtes Gehör für wenige Stunden bewilligt würde.

Ich bin nämlich erbötig, vor der hohen Versammlung folgende Sätze zu erweisen, welche für die gegenwärtige Lage der deutschen Kirche und für meine persönliche Stellung von entscheidender Wichtigkeit sein dürften.

Erstens: Die neuen Glaubensdekrete stützen sich zur Begründung aus der heiligen Schrift auf die Stellen Matth. 16,18; Joh. 21,17 und, was die Unfehlbarkeit betrifft, auf die Stelle Lucas 22,32, mit welcher dieselbe, biblisch angesehen, steht und fällt. Wir sind nun aber durch einen feierlichen Eid, welchen ich zweimal geleistet habe, verpflichtet, die heilige Schrift „nicht anders als nach dem einstimmigen Consensus der Väter anzunehmen und auszulegen“. Die Kirchenväter haben alle, ohne Ausnahme, die fraglichen Stellen in einem von dem neuen Dekrete völlig verschiedenen Sinne ausgelegt, und namentlich in der Stelle Lukas 22, 32 nichts weniger als eine allen Päpsten verliehene Unfehlbarkeit gefunden. Demnach würde ich, wenn ich mit den Dekreten diese Deutung, ohne welche dieselben des biblischen Fundaments entbehren, annehmen wollte, einen Eidbruch begehen. Dies vor den versammelten Bischöfen darzutun, bin ich, wie gesagt, bereit.

Zweitens: In mehreren bischöflichen Hirtenbriefen und Kundgebungen aus der jüngsten Zeit wird die Behauptung entwickelt oder der geschichtliche Nachweis versucht, daß die neue, zu Rom verkündigte Lehre von der päpstlichen Allgewalt über jeden einzelnen Christen und von der päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubensentscheidungen in der Kirche von Anbeginn an durch alle Jahrhunderte hindurch und immer allgemein, oder doch beinahe allgemein, geglaubt und gelehrt worden sei. Diese Behauptung beruht, wie ich nachzuweisen bereit bin, auf einer vollständigen Verkennung der kirchlichen Überlieferung im ersten Jahrtausend der Kirche und einer Entstellung ihrer Geschichte; sie steht im Widerspruche mit den klarsten Tatsachen und Zeugnissen.

Drittens: Ich erbiete mich ferner, den Beweis zu führen, daß die Bischöfe der romanischen Länder, Spanien, Italien, Südamerika, Frankreich, welche in Rom die immense Mehrheit gebildet haben, nebst ihrem Klerus, schon durch die Lehrbücher, aus welchen sie zur Zeit ihrer Seminar-Bildung ihre Kenntnisse geschöpft haben, bezüglich der Materie von der päpstlichen Gewalt irre geführt worden waren, da die in diesen Büchern angeführten Beweisstellen großenteils falsch, erdichtet oder entstellt sind. Ich will dies nachweisen einmal an den beiden Hauptwerken und Lieblingsbüchern der heutigen theologischen Schulen und Seminarien, der Moraltheologie des Sanct Alfons Liguori, speziell dem darin befindlichen Traktate vom Papste, und der Theologie des Jesuiten Perrone, dann auch an den zur Zeit des Konzils in Rom ausgeteilten Schriften des Erzbischofs Cardoni und des Bischofs Ghilardi, sowie endlich an der Theologie des Wiener Theologen Schwetz.

Viertens: Ich berufe mich auf die Tatsache, und erbiete mich sie öffentlich zu beweisen, daß zwei allgemeine Konzilien und mehrere Päpste bereits im 15. Jahrhundert durch feierliche, von den Konzilien verkündigte, von den Päpsten wiederholt bestätigte Dekrete die Frage von dem Machtumfange des Papstes und von seiner Unfehlbarkeit entschieden haben, und daß die Dekrete vom 18. Juli 1870 im grellen Widerspruche mit diesen Beschlüssen stehen, also unmöglich verbindlich sein können.

Fünftens glaube ich auch dies beweisen zu können, daß die neuen Dekrete schlechthin unvereinbar sind mit den Verfassungen der europäischen Staaten, insbesondere mit der bayerischen Verfassung, und daß ich schon durch den Eid auf diese Verfassung, welchen ich erst neuerlich wieder, bei meinem Eintritt in die Kammer der Reichsräte, geschworen habe, mich in der Unmöglichkeit befinde, die neuen Dekrete, und in deren notwendiger Folge die Bullen Unam Sanctam und Cum ex apostolatus officio, den Syllabus Pius' IX. und so viele andere päpstliche Aussprüche und Gesetze, die nun als unfehlbare Entscheidungen gelten sollen und im unauflöslichen Konflikt mit den Staatsgesetzen stehen, anzunehmen. Ich berufe mich in dieser Beziehung auf das Gutachten der juristischen Fakultät in München, und erbiete mich zugleich, es auf den Wahrspruch jeder deutschen Juristenfakultät, welche etwa Eure Exzellenz mir bezeichnen würde, ankommen zu lassen.

Für die von mir vorgeschlagene oder vielmehr erbetene Konferenz stelle ich nur zwei Bedingungen: die erste, daß meine Angaben mit den etwaigen Gegenreden zu Protokoll genommen und die Veröffentlichung desselben nachher gestattet werde; die zweite, daß einem wissenschaftlich gebildeten Manne meiner Wahl bei der Konferenz zugegen zu sein erlaubt werde.

Sollte dies in Fulda und vor den deutschen Bischöfen nicht erreichbar sein, so erlaube ich mir ehrerbietigst, eine andere Bitte vorzutragen. Geruhen Eure Exzellenz aus Mitgliedern Ihres Domkapitels eine Kommission zu bilden, vor welcher ich meine Sache in der eben bezeichneten Weise zu führen vermöchte. Mehrere dieser hochwürdigen Herren sind Doktoren und waren früher Professoren der Theologie, zugleich auch ehedem meine Schüler. Ich darf hoffen, daß es ihnen immerhin angenehmer sein wird, in einer ruhigen Besprechung mit mir zu verkehren, mich wenn möglich mit Gründen und Tatsachen zu widerlegen, als vom Richterstuhl herab geistliche Kriminal-Sentenzen gegen mich zu entwerfen und sie dann Eurer Exzellenz zur Fulminierung, wie man sagt, zu unterbreiten. Wollen Eure Exzellenz selbst bei der Konferenz den Vorsitz führen und sich herablassen, mich bezüglich meiner etwaigen Irrtümer in Anführung und Auslegung von Zeugnissen und Tatsachen zurechtzuweisen, so würde ich mir dies zu hoher Ehre rechnen, und könnte die Sache der Wahrheit dabei nur gewinnen. Und wenn Sie die Anwendung Ihrer oberhirtlichen Gewalt an mir in Aussicht stellen, so darf ich mich doch wohl der Hoffnung hingeben, daß es das schönste, edelste und wohltätigste, das am meisten Christus ähnliche Attribut dieser Gewalt sei, nämlich das Lehramt, welches Sie zunächst an mir zu üben vorziehen würden. Werde ich mit Zeugnissen und Tatsachen überführt, so verpflichte ich mich hiemit, öffentlichen Widerruf zu leisten, alles, was ich über diese Sache geschrieben, zurückzunehmen und mich selber zu widerlegen. Für die Kirche und den Geisterfrieden könnten die Folgen in jedem Falle nur erwünscht sein.

Denn es handelt sich hiebei nicht bloß um meine Person: Tausende im Klerus, hunderttausende in der Laienwelt denken wie ich, und halten die neuen Glaubensartikel für unannehmbar. Bis heute hat noch kein einziger, selbst von denen, welche eine Unterwerfungs-Erklärung ausgestellt haben, mir gesagt, daß er wirklich von der Wahrheit dieser Sätze überzeugt sei. Alle meine Freunde und Bekannten bestätigen mir, daß sie die gleiche Erfahrung machen. „Kein Einziger glaubt daran“, höre ich von Tag zu Tag aus jedem Munde. Eine Konferenz, wie die von mir vorgeschlagene, und die Veröffentlichung des Protokolls wird daher jedenfalls eine von Unzähligen ersehnte höhere Klarheit gewähren.

Vielleicht werden Eure Exzellenz mich auf den unter Ihrem Namen vor kurzem erschienenen Hirtenbrief als auf eine Quelle verweisen, aus der ich hinreichende Belehrung und Berichtigung meiner Meinung schöpfen könnte. Aber ich muß bekennen, daß er gerade die entgegengesetzte Wirkung auf mich hervorgebracht hat, und ich mache mich anheischig, den Nachweis zu liefern, daß hier eine lange Reihe von mißverstandenen, entstellten, verstümmelten oder erdichteten Zeugnissen vorliegt, welche, zusammen mit der Verschweigung gewichtiger Tatsachen und entgegengesetzter Zeugnisse, ein der wirklichen Überlieferung völlig unähnliches Bild entwirft. Gewiß hat derjenige, den Eure Exzellenz mit dieser Aufgabe betraut haben, die Fälschungen nicht selber ersonnen, sondern sie aus gutem Glauben von anderen (von Cardoni u. a.) entlehnt; sollte er jedoch gesonnen sein, seine Arbeit in der vorgeschlagenen Konferenz zu verteidigen, so würde er mich bereit finden, binnen wenigen Stunden entweder meine Behauptung zu erhärten oder, falls mir dies nicht gelänge, ihm öffentliche Ehrenerklärung zu leisten. Nur die eine Bedingung glaube ich bei der Tragweite der Sache stellen zu sollen, daß die k. Staatsregierung ersucht werde, einen in geschichtlichen und kirchenrechtlichen Materien bewanderten Staatsbeamten als Zeugen der Konferenz beiwohnen zu lassen. Da die Sache auch für alle Regierungen von hoher Bedeutung ist, so darf wohl angenommen werden, daß dies staatlicherseits nicht werde verweigert werden.

Es fehlt in vergangenen Zeiten der Kirche nicht an Tatsachen, welche zeigen, daß mein Vorschlag den Prinzipien wie der Praxis der Kirche entspricht. So wurde im Jahre 411 eine Konferenz von 286 katholischen und 279 donatistischen Bischöfen in drei Sitzungen unter dem Vorsitze des kaiserlichen Staatsbeamten Marcellinus gehalten und die streitige Lehre von der Kirche durchgesprochen, worauf der letztere zu Gunsten der katholischen Bischöfe sich entschied. Im Jahre 1433 erschienen böhmische Calixtiner auf dem Konzil zu Basel; ein schon 18 Jahre vorher auf der Constanzer Synode erlassenes Dekret über die Kommunion unter Einer Gestalt ward nun einer neuen Besprechung und Prüfung unterzogen, und die Folge waren die auch von dem päpstlichen Stuhle anerkannten Kompaktaten, welche den Böhmen ein sehr wichtiges und tiefgreifendes, dem älteren Beschlusse derogierendes Zugeständnis machen. Noch größere Ähnlichkeit mit der von mir vorgeschlagenen Verhandlung hat die in der französischen Geschichte so berühmte Konferenz zwischen dem Bischof Du Perron von Evreux und dem protestantischen Staatsmanne und Gelehrten Du Plessis-Mornay, die im Jahre 1600 zu Fontainebleau auf Veranstaltung des Königs Heinrich IV. stattfand. Es handelte sich um den Nachweis, daß Mornay in seinem Buche von der Eucharistie eine beträchtliche Anzahl von Stellen gefälscht oder unrichtig angezogen habe. Heinrich führte selber den Vorsitz, die angesehensten Männer beider Kirchen waren als Zeugen gegenwärtig. Sie ward nach einigen Tagen und nachdem eine Anzahl von Stellen, die Mornay angeführt hatte, geprüft worden waren, durch die Krankheit des letzteren unterbrochen, brachte jedoch auch so eine der katholischen Sache ungemein günstige Wirkung in den damals so gespannten Gemütern hervor.

Hochwürdigster Erzbischof! Ich stelle es ganz Ihrem Ermessen anheim, welche Form Sie der von mir gewünschten und gewiß unzähligen Katholiken Deutschlands willkommenen Konferenz geben, welche Männer sie noch zuziehen oder mir entgegenstellen wollen; an berufsmäßigen Theologen, welche gewiß bereitwilligst Ihrer Einladung folgen werden, ist in Ihrer Diözese kein Mangel. Daß eine Glaubensfrage eben so sehr Angelegenheit der Laien als der Geistlichen sei, und auch jene einen Anteil an der wissenschaftlichen Erforschung und Konstatierung der Tradition nehmen dürfen, zeigt die Praxis der Kirche und haben die Päpste und die Theologen anerkannt. Hier, wo es sich um geschichtliche Beweisführung handelt, unterwerfe ich mich gerne auch dem Urteile der angesehensten Historiker deutscher Nation und katholischen Bekenntnisses. Männer wie Ficker, Reumont, Höfler, Arneth, Kampschulte, Cornelius, Lorenz, Wegele, Aschbach, mögen ihrerseits urteilen, ob meine Beweisführung kritisch und historisch richtig sei oder nicht.

Eure Exzellenz haben ehedem mein Buch über das erste Zeitalter der Kirche, das apostolische, mit Ihrem Beifalle beehrt, und in Deutschland wurde es allgemein von katholischer Seite als eine treue Darstellung der Zeit der Grundlegung betrachtet; selbst aus dem jesuitisch-ultramontanen Kreise ist kein erheblicher Tadel bekannt geworden. Wenn nun aber die neuen Dekrete Wahrheit enthalten, dann trifft mich der Vorwurf, die Geschichte der Apostel verkehrt dargestellt zu haben. Der ganze Abschnitt meines Buches über die Verfassung der ältesten Kirche, meine Darstellung des Verhältnisses, in welchem Paulus und die übrigen Apostel zu Petrus standen, das alles ist dann grundfalsch, und ich müßte mein eigenes Buch verdammen und bekennen, daß ich weder die Apostelgeschichte des Lukas noch die Briefe der Apostel verstanden habe.

Die neue vatikanische Doktrin legt dem Papste die ganze Fülle der Gewalt (totam plenitudinem potestatis) über die ganze Kirche, wie über jeden einzelnen Laien, Priester, Bischof, bei, — eine Gewalt, welche zugleich die wahrhaft bischöfliche und wiederum die spezifisch päpstliche sein soll, welche alles, was nur immer Glauben, Sitte, Lebenspflichten, Disziplin berührt, in sich begreifen soll, welche jeden, den Monarchen wie den Tagelöhner, unmittelbar ergreifen, strafen, ihm gebieten und verbieten kann. Sorgfältig sind die Worte so gestellt, daß für die Bischöfe schlechterdings keine andere Stellung und Autorität, als die, welche päpstlichen Kommissären oder Bevollmächtigten zukommt, übrig bleibt. Damit ist denn, wie jeder Kenner der Geschichte und der Väter zugeben wird, der altkirchliche Episkopat in seinem innersten Wesen aufgelöst, und ein apostolisches Institut, dem nach dem Urteile der Kirchenväter die höchste Bedeutung und Autorität in der Kirche zukommt, zu einem wesenlosen Schatten verflüchtigt. Denn zwei Bischöfe in demselben Sprengel, einen, der zugleich Papst ist, und einen, der bloß Bischof ist, wird doch Niemand für denkbar halten, und ein päpstlicher Vikar oder Diözesankommissär ist eben kein Bischof, kein Nachfolger der Apostel; er kann durch die ihm von Rom verliehenen Gewalten sehr mächtig sein, so lange sein Auftraggeber ihn eben walten läßt, gleichwie auch ein von dem Papste mit einer Privilegienfülle ausgestatteter Jesuit oder Mendikantenmönch große Macht besitzt, und ich weiß wohl, daß in Rom den Bischöfen diese Aussicht auf Vergrößerung ihrer Macht eröffnet worden ist, — daß man ihnen oft gesagt hat: je unwiderstehlicher der Papst ist, desto stärker werdet ihr sein; denn von seiner Machtfülle werden reiche Strahlen sich auf euch herabsenken. Die Bischöfe der Minorität haben das Täuschende dieser Verheißungen wohl durchschaut, sie haben, wie die offizielle „Analytische Synopsis“ zeigt, wohl erkannt, daß sie, wenn der Universal-Episkopat des Papstes aufgerichtet sein werde, wohl noch kirchliche Würdenträger, aber keineswegs mehr wahre Bischöfe sein würden. Sie selber, hochwürdigster Herr, haben an der Deputation Teil genommen, welche am 15. Juli dem Papste die dringendsten Gegenvorstellungen machte, Vorstellungen, denen Herr von Ketteler noch durch einen Fußfall Nachdruck zu geben versuchte. Bekanntlich sind diese Vorstellungen vergeblich geblieben.

Der ganze Trost, der den um den Verlust ihrer altkirchlichen Würde trauernden Prälaten gespendet wurde, beschränkte sich darauf, daß im Dekrete gesagt wurde, die bischöfliche Gewalt sei eine „ordentliche“ (nämlich eine potestas ordinaria subdelegata, wie die römischen Kanonisten sich auszudrücken pflegen), und der Papst rechne es zu seiner Aufgabe, sie zu unterstützen, was mit einem verstümmelten Ausspruche Gregor's des Großen belegt wurde, einer Stelle, die, wenn man sie nebst anderen vollständig angeführt hätte, freilich der Welt gezeigt haben würde, daß dieser Papst des siebenten Jahrhunderts ein solches Universal-Episkopat, wie man es jetzt aufgerichtet hat, mit dem tiefsten Abscheu, als eine blasphemische Usurpation von sich wegwies.

Überhaupt hat es an Bitten, Vorstellungen, Warnungen vor dem Konzil und noch während desselben nicht gefehlt. Sie selbst, hochwürdigster Herr, haben sich daran durch Unterschrift beteiligt. Die Bischöfe der Minorität haben in einer am 12. Januar an den Papst gerichteten, auch von Ihnen unterzeichneten Ansprache erklärt, daß „die Aussprüche und Handlungen der Kirchenväter, die echten Urkunden der Geschichte und der katholische Lehrbegriff selbst ernste Schwierigkeiten darböten, welche der Proklamierung der Unfehlbarkeitslehre sich widersetzten“; sie sind damals vor einer Erörterung dieser Schwierigkeiten, wie sie sagen, erschrocken und haben den Papst gebeten, ihnen die Notwendigkeit einer solchen Beratung nicht aufzuerlegen, das heißt, auf das Dogma seiner Unfehlbarkeit zu verzichten. Als aber der Papst darauf bestand, daß das Konzil sich damit befasse, haben die deutschen Bischöfe am 11. März eingehende Konferenzen über die Unfehlbarkeitsfrage, welche durch gewählte Deputationen beider Teile geführt würden, begehrt. Sie wurden nicht gestattet, es blieb bei den Reden in der allerdings jede geordnete Diskussion unmöglich machenden Aula. Wie unentbehrlich aber und dringendst geboten prüfende Konferenzen gewesen seien, dafür will ich hier nur Ein Beispiel anführen.

Eine beträchtliche Anzahl italienischer Bischöfe verlangte in einer nun gedruckten Eingabe, daß die päpstliche Unfehlbarkeit zum Glaubenssatz erhoben werde, weil zwei Männer, welche beide Italiener und der Stolz der Nation seien, Thomas von Aquin und Alfons von Liguori, diese zwei hellstrahlenden Lichter der Kirche, so gelehrt hätten. Nun war bekannt und von mir sowohl als von Gratry bereits erinnert worden, daß Thomas durch eine lange Reihe erdichteter Zeugnisse betrogen worden sei, wie er sich denn in der Tat für seine Lehre durchweg nur auf solche Fälschungen und nie auf echte Stellen der Väter oder Konzilien beruft. Und was Liguori betrifft, so reichte ein Blick in seine Schrift hin, um einem kundigen Theologen zu zeigen, daß er es noch schlimmer als Thomas mit gefälschten Stellen getrieben habe. Meine Hinweisung auf den Betrug, welchem Thomas unterlegen war, hatte in Rom großes Aufsehen erregt; der Verfasser einer in Rom damals entworfenen und gegen mich gerichteten Schrift sagt: rings um ihn herum habe sich ein Geschrei darüber erhoben. Es wäre also unumgänglich notwendig gewesen, die Sache doch zu prüfen. Freilich würde diese Prüfung, wenn sie umfassend und gründlich angestellt worden wäre, sehr weit geführt, sie würde das Ergebnis geliefert haben, daß die Theorie der päpstlichen Unfehlbarkeit nur durch eine lange Kette berechneter Erdichtungen und Fälschungen in die Kirche eingeführt und dann durch Gewalt, durch Unterdrückung der alten Lehre und durch die mannigfaltigen dem Herrscher zu Gebote stehenden Mittel und Künste ausgebreitet und behauptet worden sei. So waren denn alle Bemühungen, Vorstellungen und Bitten vergeblich; nichts wurde bewilligt, und doch hatte man das Vorbild des sonst so oft angeführten Konzils von Florenz vor Augen, wo die Behauptung der Griechen, daß man ihnen gefälschte Texte der Väter vorlege, zu monatelangen, mit größter Sorgfalt angestellten Untersuchungen und Diskussionen geführt hatte. Es ist Ew. Exzellenz gewiß bekannt, daß man von jeher von einem wahren ökumenischen Konzil, wenn es dogmatische Beschlüsse erlassen sollte, die genauste und reifste Prüfung der Tradition als Bedingung des Geltens gefordert hat. Wie kontrastiert auch das Verfahren zu Trient in diesem Punkte mit dem, was 1870 in Rom geschah! Freilich hätte die Schrift des Erzbischofs Cardoni, welche in der Vorbereitungs-Kommission schon angenommen war und nun auch den versammelten Bischöfen als Beweisführung gelten sollte, nicht eine Stunde lang die Prüfung ausgehalten.

Mir ist in der ganzen Geschichte der Kirche unter den als allgemein berufenen Konzilien nur eines bekannt, auf welchem die Machthabenden, gleichwie auf dem jüngsten, jede gründliche Erörterung der Tradition verhindert haben, und das ist das zweite von Ephesus vom Jahre 449: dort, auf der sogenannten Räubersynode, geschah es mit Gewalt und tumultuarischer Tyrannei; auf dem vatikanischen war es die der Versammlung auferlegte Geschäftsordnung, die päpstliche Kommission und der Wille der Majorität, welcher es nicht zu einer ordentlichen und eindringenden Prüfung kommen ließ. Sie würde allerdings sehr bedenkliche und mißliebige Dinge zu Tage gefördert haben, aber sie hätte auch die Kirche vor einer Verwirrung, welche auch Ihnen beklagenswert erscheint, bewahrt. Wenn Sie nun gleichwohl behaupten, daß die vatikanische Versammlung völlig frei gewesen sei, so nehmen Sie wohl das Wort „frei“ in einem Sinne, den man sonst in theologischen Kreisen nicht damit verbindet. Theologisch frei ist ein Konzil nur dann, wenn freie Untersuchung und Erörterung aller Bedenken und Schwierigkeiten stattgefunden hat, wenn die Einwürfe zugelassen und nach den Regeln, welche die Ermittelung der Tradition erheischt, geprüft worden sind. Daß hiezu auch nicht der bescheidenste Anfang gemacht worden, daß in der Tat der immensen Majorität der Bischöfe aus den romanischen Ländern entweder der Wille oder die Einsicht mangelte, um Wahrheit und Lüge, Rechtes und Falsches gehörig von einander zu sondern, das beweisen die Schriften, die in Italien erschienen und in Rom verteilt wurden, wie z. B. die des Dominikaners und Bischofs von Mondovi, Ghilardi; das beweist ferner die Tatsache, daß hunderte dieser Bischöfe sich auf die unantastbare Autorität des Alfons Liguori stützen konnten, ohne zu erröten.

Bekanntlich haben die Jesuiten, als sie den Plan faßten, den päpstlichen Absolutismus in Kirche und Staat, in Lehre und Verwaltung zum Glaubenssatz erheben zu lassen, das sogenannte sacrificio dell' intelletto erfunden und ihre Anhänger und Jünger versichert, viele und darunter sogar Bischöfe auch wirklich überredet, die schönste Gott dargebrachte Huldigung und der edelste christliche Heroismus bestehe darin, daß der Mensch dem eigenen Geisteslichte, der selbsterworbenen Erkenntnis und gewonnenen Einsicht entsagend, sich mit blindem Glauben dem untrüglichen päpstlichen Magisterium, als der einzigen sichern Quelle religiöser Erkenntnis, in die Arme werfe. Es ist diesem Orden allerdings in weitem Umfange gelungen, die Geistesträgheit in den Augen Unzähliger zur Würde eines religiös verdienstlichen Opfers zu erheben, und mitunter selbst Männer, welche vermöge ihrer sonstigen Bildung zur Anstellung der geschichtlichen Prüfung wohl befähigt wären, zum Verzicht auf dieselbe zu bewegen. Aber die deutschen Bischöfe sind doch, soweit sich hier nach ihren Hirtenbriefen urteilen läßt, noch nicht bis zu dieser Stufe der Verblendung herabgestiegen. Sie lassen auch der menschlichen Wissenschaft, der menschlichen Prüfung und Forschung, noch ihr Recht und ihre Wirkungs-Sphäre. Sie berufen sich selber auf die Geschichte, wie eben auch der unter Ihrem Namen erschienene Hirtenbrief getan.

In dem mir eben zugekommenen Pastoralschreiben des Herrn Bischofs Lothar von Kübel in Freiburg heißt es S. 9: „Bekommt der Papst neue Offenbarungen? Kann er neue Glaubensartikel machen? Gewiß nicht. Er kann nur erklären, daß eine Lehre in der heiligen Schrift und Überlieferung enthalten, also von Gott geoffenbart sei, und deshalb von allen geglaubt werden müsse.“ Ich zweifle nicht, daß Ew. Exzellenz und die übrigen deutschen Bischöfe mit diesen Worten einverstanden sind. Dann aber handelt es sich in der gegenwärtigen verworrenen Lage der Kirche um eine rein geschichtliche Frage, welche denn auch einzig mit den hiefür zu Gebote stehenden Mitteln und nach den Regeln, welche für jede historische Forschung, jede Ermittelung vergangener, also der Geschichte angehöriger Tatsachen gelten, behandelt und entschieden werden muß. Es gibt hier keine besondern geheimen Quellen, aus denen die Päpste allein zu schöpfen das Recht oder die Macht hätten. Papst und Bischöfe müssen sich hier notwendig so zu sagen unter die Herrschaft des gemeinen Rechts stellen, das heißt, sie müssen, wenn ihre Beschlüsse Bestand haben sollen, jenes Verfahren anwenden, jenes Zeugenverhör mit der erforderlichen Sichtung und kritischen Prüfung vornehmen, welches, nach dem allgemeinen Consensus aller in geschichtlichen Dingen urteilsfähigen Menschen aller Zeiten und Völker, allein Wahrheit und Gewißheit zu liefern im Stande ist. Zwei Fragen mußten also und müssen noch jetzt nach diesem Verfahren beantwortet werden. Erstens: ist es wahr, daß die drei Aussprüche Christi über Petrus von Anfang an in der ganzen Kirche und durch alle Jahrhunderte hindurch in dem Sinne, welcher ihnen jetzt untergelegt wird, nämlich von einer allen Päpsten damit verliehenen Unfehlbarkeit und schrankenlosen Universal-Herrschaft, verstanden worden sind? Zweitens: ist es wahr, daß die kirchliche Überlieferung aller Zeiten, in den Schriften der Väter und den Tatsachen der Geschichte, die allgemeine Anerkennung dieses päpstlichen Doppelrechtes aufweist?

Wenn diese Fragen mit Nein beantwortet werden müssen, so darf nicht etwa, wie Herr von Kübel und andere tun, an den Beistand des heiligen Geistes, der dem Papste zugesichert sei, und an den ihm deshalb gebührenden Glaubensgehorsam appelliert werden; denn ob er wirklich dieses Beistandes sich erfreue, das soll eben erst geschichtlich nachgewiesen werden. Wo ist dies bis jetzt geschehen? Nicht auf dem Konzil, denn dort hat man, wie Cardoni's Hauptschrift beweist, selbst Fälschungen nicht gescheut und eine völlig unwahre Darstellung der Tradition, mit Verschweigung der schlagendsten Tatsachen und Gegenzeugnisse, gegeben, und dies ist es eben, was zu beweisen ich mich erbiete.

Und hier bitte ich Ew. Exzellenz, erwägen zu wollen, daß die Lehre, zu der wir uns jetzt bekennen sollen, nach der Natur der Sache, nach der eigenen Erklärung des Papstes, nach dem Geständnisse aller Infallibilisten, einen oder vielmehr den Fundamental-Artikel des Glaubens bildet, daß es sich direkt um die regula fidei, um die Norm handelt, welche über das, was zu glauben oder nicht zu glauben sei, entscheiden muß. Künftig würde jeder katholische Christ auf die Frage, warum er dies oder jenes glaube, nur antworten können und dürfen: „Ich glaube es oder verwerfe es, weil der unfehlbare Papst es zu glauben oder zu verwerfen geboten hat.“ Dieses oberste Glaubensprinzip darf, wie es notwendig sonnenklar in der heil. Schrift verzeichnet sein müßte, niemals in der Kirche verdunkelt gewesen sein; es muß in jeder Zeit, bei jedem Volke, wie ein hell leuchtendes Gestirn die ganze Kirche beherrscht haben, muß an die Spitze alles Unterrichts gestellt worden sein; und wir hatten alle noch des Aufschlusses: wie es denn zu erklären sei, daß erst nach 1830 Jahren die Kirche auf den Gedanken gekommen sei, eine Lehre, welche der Papst in dem an Ew. Exzellenz gerichteten Schreiben vom 28. Oktober ipsum fundamentale principium catholicae fidei ac doctrinae nennt, zum Glaubensartikel zu machen! Wie ist es denn nur möglich gewesen, daß die Päpste Jahrhunderte lang ganzen Ländern, ganzen theologischen Schulen die Leugnung dieses fundamentalen Glaubenssatzes nachgesehen haben? Und war denn da eine Einheit der Kirche, wo man im Fundamente des Glaubens selbst geschieden war? Und — darf ich es noch beifügen? — wie ist es denn gekommen, daß Ew. Exzellenz selber so lange und so beharrlich gegen die Verkündigung dieses Dogmas sich gesträubt haben! — Weil es nicht opportun sei, sagen Sie. Aber kann es denn jemals „inopportun“ sein, den Gläubigen den Schlüssel zum ganzen Glaubensgebäude zu geben, den Fundamental-Artikel, von welchem alle anderen abhängen, zu verkünden? Da stehen wir ja alle schwindelnd vor einem Abgrunde, der sich am 18. Juli vor uns aufgetan hat!

Wer die ungeheuere Tragweite der jüngsten Beschlüsse ermessen will, dem ist dringend zu empfehlen, daß er immer das dritte Kapitel des Konzil-Dekretes mit dem vierten gehörig zusammennehme und sich vergegenwärtige, welch ein System der vollendetsten Universalherrschaft und geistlichen Diktatur uns hier entgegentritt. Es ist die ganze Gewaltfülle über die gesamte Kirche wie über jeden Einzelmenschen, wie sie die Päpste seit Gregor VII. in Anspruch genommen, wie sie in den zahlreichen Bullen seit der Bulle Unam sanctam ausgesprochen ist, welche fortan von jedem Katholiken geglaubt und im Leben anerkannt werden soll. Diese Gewalt ist schrankenlos, unberechenbar, sie kann überall eingreifen, wo, wie Innocenz III. sagt, Sünde ist, kann jeden strafen, duldet keine Appellation, und ist souveräne Willkür, denn der Papst trägt nach dem Ausdrucke Bonifacius' des Achten alle Rechte im Schrein seiner Brust. Da er nun unfehlbar geworden ist, so kann er im Momente, mit dem einen Wörtchen „orbi“ (d. h., daß er sich an die ganze Kirche wende), jede Satzung, jede Lehre, jede Forderung zum untrüglichen und unwidersprechlichen Glaubenssatze machen. Ihm gegenüber besteht kein Recht, keine persönliche oder korporative Freiheit, oder, wie die Kanonisten sagen, das Tribunal Gottes und des Papstes ist ein und dasselbe. Dieses System trägt seinen romanischen Ursprung an der Stirne und wird nie in germanischen Ländern durchzudringen vermögen. Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger kann ich diese Lehre nicht annehmen. Nicht als Christ: denn sie ist unverträglich mit dem Geiste des Evangeliums und mit den klaren Aussprüchen Christi und der Apostel; sie will gerade das Imperium dieser Welt aufrichten, welches Christus ablehnte, will die Herrschaft über die Gemeinden, welche Petrus allen und sich selbst verbot. Nicht als Theologe: denn die gesamte echte Tradition der Kirche steht ihr unversöhnlich entgegen. Nicht als Geschichtskenner kann ich sie annehmen: denn als solcher weiß ich, daß das beharrliche Streben, diese Theorie der Weltherrschaft zu verwirklichen, Europa Ströme von Blut gekostet, ganze Länder verwirrt und heruntergebracht, den schönen organischen Verfassungsbau der älteren Kirche zerrüttet und die ärgsten Mißbräuche in der Kirche erzeugt, genährt und festgehalten hat. Als Bürger endlich muß ich sie von mir weisen, weil sie mit ihren Ansprüchen auf Unterwerfung der Staaten und Monarchen und der ganzen politischen Ordnung unter die päpstliche Gewalt, und durch die eximierte Stellung, welche sie für den Klerus fordert, den Grund legt zu endloser, verderblicher Zwietracht zwischen Staat und Kirche, zwischen Geistlichen und Laien. Denn das kann ich mir nicht verbergen, daß diese Lehre, an deren Folgen das alte deutsche Reich zu Grunde gegangen ist, falls sie bei dem katholischen Teil der deutschen Nation herrschend würde, sofort auch den Keim eines unheilbaren Siechtums in das eben erbaute neue Reich verpflanzen würde.

Genehmigen etc.

München, 28. März 1871.

J. v. Döllinger.

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