Calvin, Jean - Zweck und Gebrauch des Gesetzes.

Calvin, Jean - Zweck und Gebrauch des Gesetzes.

Abschnitt 217.

Insofern im Gesetz der Unterschied zwischen gut und böse gelehrt wird, ist es zur sittlichen Erziehung der Menschen gegeben und hat als Regel eines guten und gerechten Lebens zu gelten. Dieser Zweck ist sofort einleuchtend: denn niemand wird leugnen wollen, dass Gott uns im Gesetz vorschreibt, was recht und gut ist, damit wir nicht während unsers ganzen Lebens unsicher umhertappen. Ist Gottes Wille das vollkommene Gesetz der Gerechtigkeit, so kann er allein uns Richtung und Ziel stecken. Zwar besitzt der Mensch schon von Natur eine gewisse Kenntnis von gut und böse, vermöge deren er sittlich verantwortlich und unentschuldbar wird: und kein Volk hat dies Licht gänzlich ersticken können; denn es gibt noch in der größten Barbarei irgendwelche Gesetze. Weil aber das oberste Stück der Gerechtigkeit der Gehorsam gegen Gott ist, hat der Herr seinem auserwählten Volk einen besonderen Vorzug geschenkt, indem er ihm gleichsam als Unterpfand der Annahme zur Kindschaft Unterricht und Lehre über einen gerechten Wandel gab. Darauf gründen sich die Sätze, die wir immer wieder bei Mose lesen: „Ich gebiete dir, dass du halten oder tun sollst“ usw. Weil wir übrigens fleischlich sind und unter die Sünde verkauft, so haben wir durchaus keine Fähigkeit, das Gesetz mit seinen geistlichen Ansprüchen zu erfüllen: ja Paulus lehrt (Röm. 8, 7), dass unser fleischlicher Sinn sich wider die im Gesetz erforderte Gerechtigkeit auflehnt. Wer also das Gesetz lediglich als eine sittliche Belehrung betrachtet, hält sich einseitig nur an ein Stück: denn solange wir in unserer verderbten Natur bleiben, wird uns die Belehrung nichts nützen. Vielmehr wenn das Gesetz in die Mitte tritt, fällt auf unser Haupt wie ein Blitz aus dem Himmel Gottes Fluch. Aus der Fülle der Zeugnisse für diese Wahrheit bringe ich nur das eine Wort des Paulus bei (Röm. 7, 12): „Das Gebot ist heilig, recht und gut. Aber die Sünde, auf dass sie erscheine, wie sie Sünde ist, hat mir durch das Gute den Tod gewirket.“ Es klingt zwar hart, was der Apostel anderwärts sagt (Röm. 4, 15), dass das Gesetz Zorn anrichte und dass es (Gal. 3, 19) gegeben ward, um die Sünde zu mehren. Es stoßen sich daran aber nur Menschen, die nach gemeiner Weltweisheit urteilen. Es handelt sich hier um den rechten theologischen Gebrauch des Gesetzes, das nichts anderes kann, als unsere Ungerechtigkeit aufdecken und dadurch uns den Fluch bringen (Gal. 3, 10). Hier erheben sich nun die beunruhigenden Fragen, wozu denn gefordert wird, was wir nicht leisten können, - warum Gott der armen Menschen spottet, indem er ihnen eine vollständig niederdrückende Last auflegt, was überhaupt ein Gesetz nützen soll, wenn doch die Kraft fehlt, es zu halten, - wie uns eine Sünde angerechnet werden kann, wenn wir zwischen gut und böse gar keine freie Wahl haben, sondern von Natur immer dem Bösen unterliegen müssen. Solch verfängliche Fragen auszudenken sind die Feinde Gottes überaus erfinderisch. Aber wenn sie alles ausgespieen haben, was ihr fanatischer Unglaube ihnen eingab, werden sie sich hinreichend durch das eigene Gewissen widerlegt fühlen: sie werden gestehen müssen, dass das Gesetz recht ist, und dass sie selbst mit Recht verdammt werden, wenn sie es absichtlich übertreten. Mögen sie wider Gott murren, dass er ihnen eine ungerechte Last auflegte, so wird ihnen doch die natürliche Empfindung sagen, dass man trotz alledem dem Herrn schuldig ist, was er fordert.

So haben wir zu untersuchen, wo die Schuld der Leistungsunfähigkeit eigentlich sitzt. Gewiss werden die Menschen sie von sich selbst abwälzen wollen. Aber vergeblich: denn das Gewissen widerspricht und erhebt seine unentrinnbare Anklage. Die heilige Schrift lehrt aber, dass es durch die Verderbnis unserer Natur geschehen ist, wenn unser Sinn wider das Gesetz ankämpft und dieses sich wiederum gegen uns richtet. Adam hat sich und uns ins Verderben gestürzt, indem er von Gott, dem Quell aller Gerechtigkeit, abtrat. Daher ist es denn gekommen, dass uns für den schuldigen Gehorsam gegen Gott nicht nur die Kräfte fehlen, sondern dass wir in blinder und verderblicher Auflehnung sogar auch sein Joch abzuschütteln versuchen. So schließt Paulus, dass wir alle verflucht sind, weil das Gesetz jedem Übertreter den Fluch droht. Lächerlich ist dagegen die Behauptung, dass es in jedermanns freiem Willen stehe, die Übertretung zu lassen: denn in uns findet sich ein durch und durch verkehrtes Wesen. Die Behauptung aber, dass Gott doch nichts Unmögliches fordern könne, ist äußerst oberflächlich: denn wir müssen auch bei den geringsten Dingen nicht bloß unserer Schwachheit, sondern unserer völligen Leistungsunfähigkeit innewerden. Dass aber das Gesetz uns den Tod bringt (2. Kor. 3, 6), gereicht demselben nicht zum Vorwurf: denn dies ist ein in seiner Natur ursprünglich nicht begründetes Übel, sondern fällt uns zur Last. Es bleibt also unerschüttert, dass das Gesetz nicht bloß zur Belehrung gegeben ist, damit die Menschen es befolgen sollen, sondern auch um sie von ihrer Sünde zu überführen, damit sie ihres Verderbens innewerden: sie schauen hier Gotte gerechte Strafe und ihren eigenen Fluch wie in einem Spiegel. Solche Erkenntnis an sich müsste uns freilich in die schrecklichste Verzweiflung stürzen, wenn wir nicht aus diesem tiefen Abgrund wieder auftauchen dürften. Weil aber die Menschen in wahnsinniger Selbstüberhebung ein gerechtes und gar noch lobenswertes Leben zu führen glauben, müssen sie erst zu Boden geschlagen werden. Sie müssen ihren Fluch empfinden, um dann bei Gottes Erbarmen Zuflucht zu suchen. Sie müssen ihre Schwachheit erfahren, um die Hilfe des heiligen Geistes anzuflehen, die ihnen sonst sehr gleichgültig war. So ist es nützlich, dass das Gesetz sie tötet: denn aus diesem Tode erwächst neues Leben. Dies geschieht aber in doppelter Weise: der Mensch lässt den blinden und hochmütigen Aberglauben an seine eigene Gerechtigkeit fahren und beginnt in Christo zu suchen, was er bis dahin fälschlich bei sich selbst zu finden glaubte; dass er vor Gott wohlgefällig werde, will er also nicht mehr durch Verdienst eigener Werke, sondern durch die Versöhnung aus freier Gnade erreichen. Zum andern lernt der Mensch, dass er auch nicht das kleinste Stück des Gesetzes erfüllen kann, wenn er nicht aus Gottes Geist wiedergeboren wird, wodurch Leute, die sonst Knechte der Sünde waren, erst der Gerechtigkeit zu leben anfangen.

Aus alledem ergibt sich noch eine weitere fruchtbare Erkenntnis: solange wir nicht erneuert sind und Gott uns für das steinerne Herz ein fleischernes gab, werden die Gebote, die wir nach der Verkehrtheit unseres Sinnes durch und durch verabscheuen, vergeblich unser äußeres Ohr treffen. Hat aber Gott sein Gesetz in unser Herz geschrieben, dann ist auch die äußere Lehre und Predigt nicht unnütz. Es ist Gottes Art, seine Kinder innerlich durch den Geist der Wiedergeburt, äußerlich durch sein Wort zu regieren, auf welches sie ernstlich merken sollen. Weil sie aber noch immer von ganzer Erfüllung weit entfernt bleiben, lernen sie aus der Predigt des Gesetzes nicht nur, was recht ist, sondern auch, dass sie der freien Gnade und Barmherzigkeit bedürfen, wollen sie anders trotz der Schwachheit, die ihr Gewissen ihnen noch immer vorhält, durch Vergebung vor Gott wohlgefällig sein.

Übrigens redet Paulus zuweilen so, als wäre das Gesetz ganz abgeschafft und ginge heutzutage die Gläubigen nichts mehr an. Wir haben darum zu untersuchen, wie er dies meint. Dabei ist erstlich klar, dass er nicht vom Gesetz an sich diese Behauptung tut, sondern nur insofern es eine besondere Eigenart an sich trägt, welche einen Gegensatz zum Evangelium bildet. Um jedes Missverständnis auszuschließen, musste Paulus so reden, als stünden Gesetz und Evangelium im Widerstreit, was doch nicht in Wahrheit zutrifft, sondern nur bei den verkehrten Behauptungen der Gegner. Sie gaben vor, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt würde: gestand man dies zu, so war die Gerechtigkeit des Glaubens abgeschafft und das Evangelium dahin gefallen. Sie klammerten sich außerdem an das dem alttestamentlichen Volke auferlegte Joch, als wäre nicht durch Christi Blut Freiheit erworben. In diesen Erörterungen musste Paulus herausheben, was dem Gesetz Moses eigentümlich war, um es scharf Christo und dem Evangelium entgegen zu stellen. Gewiss stimmen Christus und Mose schließlich aufs Beste zusammen: aber es ist nützlich, sie um der Klarheit willen auch einmal in ihrer scheinbar gegensätzlichen Eigenart zu betrachten. Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet Paulus das Gesetz (2. Kor. 3, 7) als „Buchstaben“. Denn Mose hatte kein anderes Amt, als in Gottes Namen zu reden: das bloße Reden hilft aber nichts, sondern bringt den Tod; denn wenn die Stimme des Gesetzes nur bis ins Ohr dringt, muss sie Fluch und Verderbnis gebären. Sind doch mit dem Gesetz Drohungen und Verheißungen untrennbar verbunden. Daraus folgt, dass wir aus dem Gesetz die Seligkeit nur erlangen, wenn wir seinen Geboten in allen Stücken Genüge tun. Gewiss verheißt das Gesetz Leben, aber nur demjenigen, der alles erfüllt, was er verlangt. Dagegen droht es den Tod den Übertretern, und wer nur im geringsten Stück gefallen ist, wird danach in Verderben und Verdammnis gestoßen. So muss unter dem Gesetz jedermann verzweifeln.

Was endlich die Zeremonien angeht, die an das Gesetz gehängt waren und mit denen Gott sein alttestamentliches Volk allmählich zum Glauben an das Evangelium erziehen wollte, so zieht Paulus auch sie in Betracht, wenn er Gesetz und Evangelium miteinander vergleicht. Daraus folgt, dass, wenn man den Mose von Christus losreißt, sein Amt freilich aufgehört hat. Aber an sich bewegt es sich in derselben Bahn, die Christus schließlich zu Ende führte. Wenn die Zeremonien mit der Ankunft des Herrn dahin fielen, so fand dadurch ihre Wahrheit eine kräftigere Bestätigung, als wenn ihr Gebrauch äußerlich fortgedauert hätte. Denn wir können nun wissen, dass Gott in den Zeremonien dieselbe Wesenheit, die er uns wirklich geschenkt hat, den Vätern wie in einem Spiegel zeigte. Es ist also ein schwerer Irrtum, dieses Stück der Lehre, welches wir bei Mose finden, als unnütz ganz zu verwerfen und zu verachten.

Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, 2. Band

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