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Calvin, Jean - Psalm 119.

Calvin, Jean - Psalm 119.

Inhaltsangabe: Weil dieser Psalm von verschiedenen Dingen handelt, lässt sich schwer sein Inhalt in Kürze darlegen. Indessen treten zwei Hauptpunkte heraus. Der Prophet ermahnt die Kinder Gottes, auf Frömmigkeit und ein heiliges Leben bedacht zu sein; sodann gibt er die Regel und Weise echter Gottesverehrung an: die Gläubigen sollen sich ganz der Lehre des Gesetzes unterstellen. Indessen mischt der Dichter auch immer wieder Verheißungen unter, um die Verehrer Gottes desto mehr zu einem frommen und gerechten Leben zu ermutigen. Auch Klagen über die gottlose Verachtung des Gesetzes fügt er ein, damit man sich nicht durch das böse Beispiel in unheiliges Wesen hineinziehen lasse. Dabei geht der Gedanke mehrfach von einem Stück auf das andere über, ohne einen geschlossenen Zusammenhang einzuhalten. Es wird sich darum empfehlen, das Einzelne am gegebenen Orte zu besprechen.

1 Wohl denen, die ohne Tadel leben, die im Gesetze des Herrn wandeln! 2 Wohl denen, die seine Zeugnisse halten, die ihn von ganzem Herzen suchen! 3 Denn welche auf seinen Wegen wandeln, die tun kein Übels. 4 Du hast geboten, fleißig zu halten deine Befehle. 5 O dass mein Leben deine Satzungen mit ganzem Ernst hielte! 6 Wenn ich schaue auf alle deine Gebote, so werde ich nicht zuschanden. 7 Ich danke dir von rechtem Herzen, dass du mich lehrest die Rechte deiner Gerechtigkeit. 8 Deine Satzungen will ich halten; verlass mich nicht gar zu lange.

In diesem Psalm fangen ja acht Verse mit dem gleichen Buchstaben des hebräischen Alphabets an. Es geschieht dies offenbar zur Unterstützung des Gedächtnisses, wie denn der Psalm eine Lehre enthält, die unter den Kindern Gottes unablässig bedacht werden sollte. Über den Verfasser wage ich nichts zu behaupten, weil ein bestimmter Fingerzeig sich dem Psalm nicht entnehmen lässt. Da aber David unter allen Psalmdichtern der hervorragendste war, werde ich kein Bedenken tragen, mich seines Namens hier und da zu bedienen. Über die am häufigsten vorkommenden Worte wird es gut sein, einiges voranzuschicken. Das Wort „Gesetz“ bedeutet eigentlich Unterweisung oder Lehre: es wird zur Bezeichnung der gesamten Gesetzesoffenbarung gebraucht. Das Wort, welches wir mit „Satzungen“ wiedergeben, bezieht sich vornehmlich auf die von Gott verordneten, gottesdienstlichen Gebräuche, die ihre bestimmte Ordnung haben sollten. Die „Befehle“ sind mehr diejenigen Vorschriften, die auf eine natürliche Billigkeit zielen. „Rechte“ sind im allgemeinen Gebote oder Vorschriften. Die „Zeugnisse“ deuten auf die Lehre des Gesetzes, jedoch unter dem bestimmten Gesichtspunkt, dass Gott sich in demselben gleichsam in Bundesverhandlungen eingelassen hat. Warum die Vorschriften des Gesetzes als Recht und Gerechtigkeit bezeichnet werden, ist hinlänglich bekannt: wir sollen wissen, dass Gott nichts anderes anordnet, als was recht und billig ist, dass also der Mensch nach keiner anderen Regel vollkommener Heiligkeit ausschauen soll, als dass er sein Leben im Gehorsam gegen das Gesetz führe. Ungefähr in demselben Sinne ist von den Wegen Gottes die Rede: wer von den Linien des Gesetzes nicht abweicht, darf sicher sein, dass er vor jedem Irrweg bewahrt bleibt. Im Übrigen wird man die einzelnen Ausdrücke nicht gar zu peinlich unterscheiden dürfen: der Zusammenhang des Psalms zeigt, dass es sich um lauter verwandte, fast sich deckende Begriffe handelt. Um uns Ehrfurcht vor dem Gesetz zu erwecken, rühmt der Prophet dasselbe mit verschiedenen Worten und legt uns doch immer die gleiche Lehre ans Herz.

V. 1. Wohl denen, die ohne Tadel leben. Das ist derselbe überraschende Satz, der am Anfang des Psalmbuchs steht. Während alle Sterblichen eine natürliche Sehnsucht nach Glück haben, gehen sie doch nicht auf geradem Weg der Glückseligkeit entgegen, sondern wollen lieber auf zahllosen Irrwegen in ihr Verderben laufen. Solche Gedankenlosigkeit und Blindheit straft der Geist Gottes mir Recht. Der Sinn der Worte ist nun klar, - wenn nur nicht ein jeder durch seine Lust sich in tierischem Triebe nach der entgegen gesetzten Richtung ziehen ließe. Weil man in möglichst weiter Entfernung von Gott das größte Glück sucht, verwirft man als eine Fabel, was der Geist über Frömmigkeit und Gottesverehrung verkündet. Das zweite Satzglied zeigt nun mit völliger Deutlichkeit, worin ein frommes und gerechtes Leben besteht: man soll im Gesetze des Herrn wandeln. Wenn jemand seinen Lebensweg nach eigenem Gutdünken einrichtet, wird er nur in die Irre gehen und sich trotz des Beifalls einer ganzen Welt vergeblich abmühen. Indessen ließe sich fragen, ob der Prophet allen denjenigen die Hoffnung auf Glück verschließen will, die den Herrn nicht in vollkommener Weise verehren. Aber dann könnten allein die Engel glücklich sein, da man auf Erden eine vollkommene Erfüllung des Gesetzes nirgend finden wird. Die Lösung ist leicht. Wenn den Kindern Gottes ein untadeliges Wesen zugemutet wird, soll doch die Vergebung durch freie Gnade nicht ausgeschaltet werden, auf welcher allein ihr Heil ruht. Das Glück der Verehrer Gottes schließt nicht aus, dass sie zur Barmherzigkeit ihre Zuflucht nehmen müssen: denn ihre Vollkommenheit ist nur eine halbe. So heißen diejenigen glücklich, welche Gottes Gesetz treulich halten; zugleich aber erfüllt sich (Ps. 32, 2): „Wohl dem Menschen, dem der Herr die Missetat nicht zurechnet.“ Der zweite Vers bekräftigt dieselbe Lehre, indem er diejenigen glücklich preist, die nicht für sich selbst klug sind oder eine willkürliche Heiligkeit sich ausdenken, sondern sich dem Bund Gottes und der Lehre des Gesetzes ergeben. Damit wir aber wissen, dass Gott mit einem Dienst vor Augen durchaus nicht zufrieden ist, wird gefordert, dass man ihn von ganzem Herzen suche. Wenn Gott allein der zuständige Richter unseres Lebens ist, reicht es sicherlich nicht hin, dass man mit Füßen und Händen Gehorsam leiste: an erster Stelle muss die Aufrichtigkeit des Herzens stehen.

V. 3. Denn welche auf seinen Wegen wandeln usw. Es scheint ein sehr gewöhnlicher und allgemein anerkannter Satz, dass derjenige nicht sündigt, der Gott zum Führer nimmt. Doch ist diese Erinnerung aus einem doppelten Grunde nötig. Einmal sollen wir lernen, unser ganzes Leben von Gott regieren zu lassen. Sodann sollen wir eifriger und aufmerksamer auf seine Lehre merken. Jedermann gibt zu, dass man vor Irrwegen sich nicht zu fürchten braucht, wenn man dem Herrn gehorcht: dabei schwenkt doch ein jeder zu seinen Irrfahrten ab. Ist solche Frechheit und Lüsternheit nicht ein Beweis dafür, dass man die eigenen Träume höher schätzt als Gottes gewisses Gesetz? Und entschuldigt man sich nicht bei jedem Sündenfall mit Gedankenlosigkeit? Als ob noch niemals jemand mit Wissen und Willen gesündigt hätte! Und als ob nicht das Gesetz Gottes uns Weisheit genug böte, damit wir uns hüten, indem es allen sündhaften Begierden einen Zügel anlegt und uns dadurch von allen Übertretungen zurückhält. So gibt der Prophet zu verstehen, dass Leute, die in Gottes Gesetz unterwiesen wurden, sich nicht mit Unwissenheit entschuldigen können, weil sie absichtlich sich blind stellen. Würden sie auf Gottes Stimme merken, so wären sie gegen alle Nachstellungen Satans gerüstet. Um uns nun Furcht einzuflößen, sagt der Prophet im vierten Verse, dass Gott seine Befehle fleißig gehalten wissen will: daraus folgt, dass ihre Verachtung nicht ungestraft bleiben wird. Und indem er Gott in zweiter Person anredet: Du hast geboten, - stellt er ihn sich als Richter vor Augen.

V. 5. O dass mein Leben deine Satzungen mit ganzem Ernst hielte! Buchstäblich: „O dass meine Wege darauf gerichtet wären, deine Satzungen zu halten!“ Wenn uns auch Gott deutlich in seinem Gesetz unterweist, bedürfen wir doch wegen der Trägheit unseres Geistes und der Widerspenstigkeit unseres Herzens, dass in jedem Augenblick sein Geist unsern Weg lenke. Darum soll unser oberstes Gebetsanliegen sein, dass Gott uns einen Sinn schenke, der Weisheit nur aus einem Gesetz schöpfen will, dazu ein gelehriges und folgsames Herz. Dann (V. 6) wird hinzugefügt, dass man niemals einen Rat oder eine Tat wird zu bereuen haben, wenn man auf die Beobachtung des göttlichen Gesetzes bedacht ist. Dass ich auf Gottes Gebot „schaue“, bedeutet, dass ich eignen Plänen keinen Raum gebe, noch meine Ratschlüsse nach dem Sinn des Fleisches gestalte, sondern allein auf den Weg bedacht bin, der von Gottes Geboten weder zur Rechten noch zur Linken abweicht. Mögen mich die meisten Leute verurteilen, wenn ich in Ehrfurcht an Gottes Gebot mich halte, so darf ich doch mit dem Propheten sagen: Ich werde nicht zuschanden. Wir dürfen zufrieden sein, wenn wir ein gutes Gewissen vor Gott, den Engeln und dem ganzen himmlischen Heer haben. Würden wir uns von der Meinung der Welt abhängig machen, so kämen wir aus dem Schwanken nicht heraus. Es heißt aber, dass wir auf alle Gebote Gottes schauen sollen: denn unter so vielen Nachstellungen des Satans, in der uns umgebenden, dichten Finsternis und bei unserer großen Stumpfheit bedarf es eines ungewöhnlichen Eifers, wenn wir in jedem Stücke schuldlos dastehen wollen. Darum sollen wir uns bei jeder einzelnen Tat Gottes Gesetz ins Gedächtnis rufen, welches uns vor dem Fall bewahrt.

V. 7. Ich danke dir von rechtem Herzen usw. Zu weiterer Bestätigung wird es als eine einzigartige Gnadengabe Gottes anerkannt, wenn jemand im Gesetz gute Fortschritte macht. Die Danksagung hat den Sinn: Herr, du schenkst mir ein unvergleichliches Gut, wenn du mich in deinem Gesetz unterweisest. Darum soll man im Leben nichts eifriger begehren als dies. Wären wir doch davon unerschütterlich überzeugt. Indem wir eifrig auf unsern Nutzen bedacht sind, lassen wir uns keinen irdischen Vorteil entgehen, - was aber die Hauptsache wäre, übersehen wir. Die „Rechte deiner Gerechtigkeit“ sind die Vorschriften des Gesetzes, welche die vollkommene Gerechtigkeit in sich enthalten. Es lehrt uns also dieser Vers, dass niemand von ganzem Herzen den Herrn loben kann, der in seiner Schule nicht dahin fortgeschritten ist, dass er sein Leben zum Gehorsam gegen ihn bilden lasse. Denn es wäre eine gar zu hohle Heuchelei, wollten wir Gott mit dem Mund und der Zunge loben, während unser Leben ihm Schande macht.

V. 8. Deine Satzungen will ich halten. Der Prophet bezeugt zuerst, dass er sich vornimmt, Gottes Gesetz zu halten. Aber im Bewusstsein der eigenen Schwachheit fügt er die Bitte an: Verlass mich nicht. Dass Gottes Gnade ihn nicht verlassen soll, kann in doppeltem Sinne verstanden werden. Entweder schwebt der Gedanke vor, dass Gott einem Menschen seinen Geist entziehen könnte. Oder aber Gott scheint sich von einem Menschen zurückgezogen zu haben, wenn er Unglück ihn treffen lässt. Diese letztere Auslegung ist die passendere, weil ja der Dichter nicht gar zu lange sich verlassen sehen möchte. Er will sich also nicht gänzlich dem entziehen, dass sein Glaube durch Versuchungen erprobt werde: aber er fürchtet zu versagen, wenn die Prüfung zu lange ausgedehnt wird. Darum wünscht er, dass Gott auf seine Schwachheit Rücksicht nehme. Alles in allem will er sagen: Du siehst, mein Gott, welche Vorsätze ich hege; aber weil ich ein Mensch bin, wollest du die Zeichen deiner Gunst nicht länger vor mir verbergen, noch deine Hilfe länger aufschieben, als mir gut ist, damit ich nicht, wenn ich mich für verlassen halte, vom rechten Wege frommen Strebens ablenke.

9 Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? Wenn er sich hält nach deinen Worten, 10 Ich suche dich von ganzem Herzen; lass mich nicht abirren von deinen Geboten. 11 Ich behalte dein Wort in meinem Herzen, auf dass ich nicht wider sich sündige. 12 Gelobet seiest du, Herr, lehre mich deine Satzungen. 13 Ich will mit meinen Lippen erzählen alle Rechte deines Mundes. 14 Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse als über allerlei Reichtum. 15 Ich sinne über dem, was du befohlen hast, und schaue auf deine Wege. 16 Ich habe Lust zu deinen Satzungen und vergesse deiner Worte nicht.

V. 9. Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? usw. Es wird mit andern Worten wiederholt, was schon früher gesagt war: wie sehr auch die Menschen in ihren Tagen sich schmeicheln, - es ist doch in ihrem Leben nichts rein, bis sie sich ganz an Gottes Wort hängen. Um uns desto wirksamer zu bewegen, nennt der Prophet absichtlich die jungen Leute. Damit will er gewiss den Männern und Greisen nicht den Zügel lockern, als ob sie ihr Leben selbst regieren und sich in ihrer Klugheit ein eigenes Gesetz sein dürften. Aber das Jünglingsalter stellt die Menschen an den Scheideweg, wo sie sich eine bestimmte Lebensrichtung wählen sollen. Darum ist die Meinung: will jemand einen Plan für sein Leben machen, so wird er guten Fortgang nur gewinnen, wenn er das Gesetz Gottes als Lehrer und Führer sich vorstellt. So birgt unser Wort auch eine ernste Mahnung, dass man die Charakterbildung früh angreife und nicht auf spätere Zeit verschiebe, wie auch Salomo sagt (Pred. 12, 1): „Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre herzutreten, da du wirst sagen: sie gefallen mir nicht.“ In der Tat sehen wir, dass der Verzug dem Menschen nur Verhärtung in seinen Fehlern bringt: Leute, die bereits ins Mannesalter gekommen sind, strengen sich zu spät an, sich zu bessern. Auch aus einem anderen Grunde werden die Jünglinge genannt: sie bedürfen gleichsam eines doppelten Zügels, weil die fleischlichen Begierden in ihnen besonders rege sind; je weniger sie selbst Maß halten können, desto mehr bedarf ihre Lüsternheit eines Zügels. So hat der Prophet guten Grund, sie insbesondere zu eifriger Beschäftigung mit dem Gesetz zu ermahnen. Dabei soll man einen Schluss vom Größeren auf das Kleinere ziehen, so dass es Jünglinge, die daran sich halten, rein und unversehrt bleiben lässt, so wird es ohne Zweifel ein ganz treffliches Heilmittel wider die Laster sein, wenn im reiferen Alter die Begierden sich abgekühlt haben. Der ungeheure Haufe von Bösem im gemeinen Leben kommt daher, dass jedermann sich in seiner Unreinigkeit gehen lässt oder mehr auf den eignen Geist als auf die himmlische Lehre gibt. Treue Selbstbewahrung ist eben nur dort, wo man sich nach Gottes Wort in Schranken hält. Stattdessen wollen die einen selbst klug sein und geraten dadurch in Satans Schlingen; bei den andern ist es Trägheit, die sie ihr sündhaftes Leben förmlich hegen lässt.

V. 10. Ich suche dich von ganzem Herzen. Obwohl der Prophet mit Recht von seinem aufrichtigen Streben sprechen kann, möchte er doch einen Fall aus Schwachheit vermeiden und fleht darum Gott um Hilfe an. Lass mich nicht abirren von deinen Geboten. Dabei rühmt er doch nicht etwa, dass er sich selbst zubereitet und aus eigenem Triebe angefangen habe, Gott zu suchen; aber indem er die Gnade preist, die ihm geschenkt ward, streckt er sich in Sehnsucht der beständigen Beharrung entgegen. Dies ist die rechte Weise des Gebets, dass Gott uns die Hand darbieten möge, wenn er uns in einer Gemütsverfassung findet, in der wir nichts eifriger begehren, als recht zu tun. Auf der einen Seite also macht uns Gott Mut, um die Gabe der Beharrung zu bitten, wenn er unserm Herzen die rechte Gesinnung einhaucht. Auf der andern Seite weckt er uns doch auf, dass wir auch für die Zukunft nicht sicher und lässig werden, als hätten wir unsern Dienst schon getan, sondern um den Geist der Weisheit bitten, damit er uns in jedem Augenblick leite, und um den Geist der Kraft, damit er uns stütze. Denn David stellt hier sein eignes Beispiel als Regel auf: je mehr sich jemand von Gott unterstützt fühlt, ein umso größerer Ernst und Eifer soll ihn treiben, seine fortgehende Hilfe zu erbitten. Denn wenn uns des Herrn Hand nicht zurückhält, müssen wir sofort abirren. Dass er uns unter Umständen abirren lässt, will nicht gerade sagen, dass er uns auf den Irrweg leitet und die Neigung dazu in unser Herz hinein gibt. Der Ausdruck will lediglich daran erinnern, dass unsre Neigung zur Sünde uns sofort in den Irrtum gleiten lässt, sobald Gottes Hand uns etwas weniger festhält. Auch dies prägt unser Satz ein, dass vom Wege abirrt, wer auch nur um ein Kleines von Gottes Geboten abweicht.

V. 11. Ich behalte dein Wort in meinem Herzen. Da dieser Psalm nicht bloß aus persönlichem Bedürfnis gedichtet wurde, sollen wir uns sagen, dass David jedes Mal, wenn er sein Beispiel uns vorstellt, auch eine Vorschrift für unser Verhalten geben will. Unsere Stelle lehrt nun, dass wir erst dann gerüstet sind, uns vor Satans Nachstellungen zu hüten, wenn Gottes Gesetz unserm Herzen tief eingeprägt ward; denn wenn es nicht ganz und gar unser Herz erfüllt, werden wir nur zu leicht immer wieder fallen. Wie ein Mensch, der seine Weisheit nur aus Kommentaren bezog, nicht aber das Buch selbst stets vor Augen hat, sehr bald seine Unwissenheit verraten wird, so wird uns auch der Satan leicht erhaschen und mit seinen Schlingen umgeben, wenn wir nicht Gottes Lehre einsaugen und uns ganz in sie versenken. Die rechte Bewahrung, dass ich nicht sündige, besteht darin, dass ich nicht bloß obenhin von Gottes Gesetz koste, oder es beim Lesen überfliege, sondern dass ich es tief in meiner Seele berge. Noch einmal empfangen wir dabei die Erinnerung, dass die Menschen trotz aller Überzeugung von ihrer Klugheit doch jedes rechten Urteils entbehren, wenn nicht Gott ihr Lehrer ist.

V. 12. Gelobet seiest du, Herr! War auch der Prophet so weit fortgeschritten, dass er nicht bloß als einer von Gottes Jüngern, sondern als öffentlicher Lehrer der Gemeinde dastand, so weiß er doch, dass auch der Vollkommenste bis zum Ende seines Lebens sich noch im Lauf befindet, und lässt darum nicht ab, um den Geist der Weisheit zu bitten: Lehre mich deine Satzungen. Aus diesem Satz können wir im Allgemeinen entnehmen, dass uns der Scharfblick fehlt, das Licht des Gesetzes zu schauen, welches uns doch vor Augen schwebt, - bis Gott uns durch den Geist der Erkenntnis erleuchtet. Darum zeigen sich viele dem hellen Licht der Lehre gegenüber blind: weil sie auf ihren Scharfsinn vertrauen, versäumen sie die geheime Erleuchtung durch den Geist. Zum andern sollen wir lernen, dass kein Sterblicher eine Erkenntnis besitzt, die nicht ständigen Wachstums bedürfte. Wenn ein Prophet, dem Gott ein so ehrenvolles Amt übertragen hatte, sich noch als Schüler bekennen muss, welche Gedankenlosigkeit wäre es dann, wenn wir, die wir so weit hinter ihm zurückstehen, uns nicht nach Fortschritt ausstrecken wollten! Zudem bringt er ja nicht eigene Verdienste vor, um zu erlangen, was er bittet, sondern beschwört Gott bei seiner Herrlichkeit. Indem er voranstellt, dass dem Herrn Lob gebührt, schöpft er eben daraus die Zuversicht auf Erhörung, dass Gott preiswürdig ist wegen seiner unermesslichen Güte, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

V. 13. Ich will mit meinen Lippen erzählen usw. In diesem Vers bezeugt der Dichter, dass er Gottes Gesetz nicht bloß in sein Herz verschlossen hat, sondern sich auch Mühe gab, viele Mitjünger zum Gehorsam gegen Gott herbeizuführen. An sich könnte es ein recht kaltes Ding sein, über Gottes Gesetz Worte zu machen, wie wir denn Heuchler zungenfertig über die ganze Lehre der Frömmigkeit schwätzen hören, der sie doch innerlich sehr fern stehen. Aber was der Prophet soeben von der aufrichtigen Stimmung seines Herzens bekennen durfte, gilt auch für die Rede seiner Zunge. Bestätigt er doch sofort noch einmal (V. 14), dass seine Mühe um die Belehrung anderer aus ehrlichem und ungeheucheltem Herzen kam. Er darf bezeugen, dass Gottes Wort ihm eine nicht geringere Freude war, als allerlei Reichtum der Welt. So stellt er die fromme Liebe zum Gesetz, die ihn erfüllte, in Gegensatz zu der sündhaften Begier, an welcher fast die ganze Welt leidet. Er will etwa sagen: während der menschliche Sinn sonst durch Reichtum sich fesseln lässt, ist mir ein Fortschritt in der Lehre der Frömmigkeit nicht minder süß, als wenn äußerster Überfluss mir zuteil würde.

V. 15. Ich sinne über dem, was du befohlen hast. Es ist festzuhalten, woran ich schon erinnerte, dass der Prophet sich hier nicht ruhmsüchtig aufbläht, sondern sich anderen als Beispiel zur Nachfolge darstellt. Wir wissen, wie die meisten Menschen irdischen Sorgen derartig ergeben sind, dass keine Zeit und Muße zur Betrachtung der göttlichen Lehre bleibt. Um diese Kälte und Trägheit zu bessern, weist der Prophet mit gutem Grunde auf den erforderlichen Fleiß und die rechte Aufmerksamkeit hin. Und selbst wenn die Welt uns nicht ganz gefangen hielte, wissen wir doch, wie leicht bei den täglichen Versuchungen Gottes Gesetz in Vergessenheit gerät. Darum mahnt uns der Prophet zu fortwährender Übung und heißt uns allen Eifer daran setzen. Und weil das Menschenleben nur zu gern auf Irrwegen sich ergeht und wir durch fleischliche Begierden uns hierhin und dorthin ablenken lassen, erklärt der Dichter, dass er auf Gottes Wege schauen will. Darnach (V. 16) wiederholt er, dass dieses eifrige Gedenken seine höchste Lust ist. Denn wer nicht frisch und mit Freuden seinen Geist auf Gottes Gesetz richtet, wird nur kalte und gar zu langsame Fortschritte in demselben machen. So bezeichnet es den Anfang eines rechten Lebens, dass Gottes Gesetz durch seine Lieblichkeit uns locke. Das ist auch das einzige Mittel, die Lüste des Fleisches zu zähmen und zu heilen. Denn woran anders hätten wir von Natur Lust als am Laster? Nach jener Seite werden wir uns immer wieder neigen, wenn nicht die Lust am Gesetz uns nach der andern Seite zieht.

17 Erweise deinem Knecht die Wohltat, dass ich lebe, und dein Wort halte. 18 Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz. 19 Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir. 20 Meine Seele ist zermalmet vor Verlangen nach deinen Rechten allezeit. 21 Du schiltst die Stolzen; verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. 22 Wende von mir Schmach und Verachtung; denn ich halte deine Zeugnisse. 23 Es sitzen auch die Fürsten und reden wider mich; aber dein Knecht sinnet über deine Satzungen. 24 Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen, die sind meine Ratsleute.

V. 17. Erweise deinem Knecht die Wohltat, dass ich lebe. Man könnte auch übersetzen: „Tue wohl deinem Knecht, so werde ich leben“, d. h. so werde ich mich glücklich fühlen. Besser aber ist es, den Satz ununterbrochen zusammenzuschließen. So erbittet es der Prophet als die höchste Wohltat, dass er in seinem Leben Gottes Wort halte und sich ganz dem Herrn ergebe. So hängen die beiden Stücke miteinander zusammen; wir sollen keinen anderen Lebenszweck kennen, als dass wir uns in der Verehrung Gottes üben. Der Dichter wünscht sich nur ein solches Leben, in welchem er sich als ein wahrer und treuer Verehrer Gottes beweisen will. Jedermann wünscht sich ein langes Leben von Gott, und die ganze Welt läuft um die Wette diesem Ziel entgegen: wofür wir aber leben sollen, bedenkt kaum der Hundertste. Um uns von dieser tierischen Stimmung zu befreien, stellt uns der Prophet den rechten Zweck des Lebens vor. Dabei prägt er ein, dass es auf einer besonderen Gnadenwirkung des Geistes ruht, wenn jemand Gottes Gesetz beobachtet. Sein Gebet wäre eine Heuchelei gewesen, wenn er in seinem freien Willen die Kraft zum Halten des göttlichen Gesetzes gefunden hätte. Damit hängt der Inhalt des nächsten Verses eng zusammen. An das Bekenntnis, dass die Kraft zum Gehorsam den Menschen von Gott geschenkt werden muss, schließt sich das andere, dass wir alle blind sind, bis Gott die Augen unseres Geistes erleuchtet. Es ist freilich wahr, dass uns Gott durch sein Wort erleuchtet; aber der Prophet gibt zu verstehen, dass wir gegenüber diesem hellen Lichte blind sind, wenn nicht der Herr die Decke von unseren Augen nimmt. Wenn aber Gott dies Amt für sich in Anspruch nimmt, so erinnert er uns auch, dass ein Heilmittel für unsere Blindheit bereitliegt, - wenn wir nur nicht im Vertrauen auf eigenen Scharfsinn die angebotene Gabe der Erleuchtung verachten. Weiter wollen wir lernen, dass die Erleuchtung uns nicht unter Verachtung des äußeren Wortes zu einem verborgenen Geisteswirken hinrücken will, wie viele Schwärmer sich nur für geistlich halten, wenn sie an die Stelle von Gottes Wort ihre Träume setzen. Der Prophet deutet auf ein ganz anderes Ziel der Erleuchtung: sie soll uns Augen geben, das lebendig machende Licht zu sehen, welches uns Gott in seinem Wort zeigt. Als ein Wunder bezeichnet er die Lehre des Gesetzes, um uns dadurch zu demütigen, dass wir zu dieser Höhe aufschauen müssen. Des Weiteren sollen wir uns der göttlichen Gnade desto bedürftiger fühlen, die uns zum Verständnis von Geheimnissen anleitet, welche über unseren Verstand gehen. Wir sehen daraus, dass unter dem Gesetz nicht bloß die zehn Gebote zu verstehen sind, sondern der Bund ewigen Heils, den Gott mit uns geschlossen hat, samt seinen Beigaben. Und wenn wir wissen, dass Christus, in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen liegen (Kol. 2, 3), das Ende des Gesetzes ist (Röm. 10, 4), so werden wir uns nicht wundern, wenn der Prophet dasselbe wegen seiner geheimnisvollen Erhabenheit rühmt.

V. 19. Ich bin ein Gast auf Erden. Es lohnt sich zu untersuchen, weshalb sich der Prophet als einen Fremdling in der Welt bezeichnet. Unheiligen und irdisch gesinnten Menschen liegt ja nichts anderes am Herzen, als hier bequem zu leben. Wer aber weiß, dass wir laufen müssen, und dass das Erbe für uns im Himmel niedergelegt ist, heftet sich nicht an hinfällige Dinge und verwickelt sich nicht in dieselben, sondern streckt sich dem Ziel seiner Berufung entgegen. Der Sinn der Worte ist also: Herr, da ich eilig durch dies irdische Leben hindurchgehen muss, was sollte aus mir werden, wenn ich der Lehre deines Gesetzes beraubt würde? Daraus wollen wir lernen, womit der Anfang gemacht werden muss, will man anders frisch zu Gott vordringen. Die Bitte: Verbirg deine Gebote nicht vor mir – will besagen: Lass meine Augen nicht dagegen verschlossen sein. Denn wer nicht mit geistlichen Augen begabt ist, sieht und sieht doch nicht: es ist ihm verborgen, was doch klar vor Augen liegt. Um aber zu zeigen, dass er nicht so bloß obenhin betet, erklärt der Prophet weiter (V. 20), dass er ganz und gar von Eifer für das Gesetz glüht. Denn dass seine Seele zermalmet ist, drückt einen ganz besonders heftigen Drang aus. Von einem Menschen, der seine Gedanken so begierig auf irgendeine Sache richtet, dass sie ihm fast vergehen, sagt man, dass er sich durch seine Maßlosigkeit verzehrt: so ist auch der Prophet durch die glühende Sehnsucht aufgezehrt. Zugleich bezeugt er seine Beharrlichkeit: allezeit richtet sich sein Verlangen auf Gottes Gesetz. Es wird öfter vorkommen, dass jemand einen sehr eifrigen Anlauf nimmt, aber die Glut verfliegt. Es gilt also, standhaft zu sein, damit der Geist nicht der Sache überdrüssig werde und erschlaffe.

V. 21. Du schiltst die Stolzen usw. Ohne Zweifel will der Prophet sagen, dass Gottes Gerichte ihn gelehrt haben, seinen Geist eifrig auf das Gesetz zu richten. In der Tat sollen wir nicht warten, bis Gott uns selbst mit seinen Ruten trifft: es wäre eine gar zu große Sorglosigkeit, wollten wir uns nicht schon durch die Schläge weisen lassen, mit denen er sich and den Gottlosen und den Verächtern seines Worte rächt. Sicherlich ist es auch eine ganz besondere Barmherzigkeit, wenn Gott uns verschont und nur aus der Ferne schreckt, wenn er uns von der Züchtigung unberührt bleiben lässt und doch zu sich zieht. Mit gutem Grunde werden alle Ungläubigen als „Stolze“ bezeichnet: denn allein der Glaube macht uns demütig, und alle Auflehnung erwächst aus dem Hochmut. Hier sehen wir nun, wie nützlich es ist, mit gespannter Aufmerksamkeit die Gerichte zu betrachten, mit denen Gott solch hochfahrendes Wesen niederwirft. Denn solange die Schwachen sehen, dass die Gottlosen in ihrer Raserei sich wider den Herrn erheben, frech jegliches Joch abwerfen und ungestraft alle Frömmigkeit verspotten, fangen sie an zu zweifeln, ob ein Gott als Richter im Himmel sitzt. Lässt nun auch der Herr die Sache eine Zeitlang gehen, so sollen wir doch, sobald er ein Strafexempel vollzieht, mit Sicherheit feststellen, dass seine Drohungen gegen die Übertreter des Gesetzes nicht vergeblich waren. Dann soll uns in den Sinn kommen: Verflucht sind, die von deinen Geboten abirren. Bei diesem „Abirren“ haben wir übrigens nicht an jeden Fehltritt zu denken, sondern an die zügellose Frechheit im Sündigen, welche aus unfrommer Verachtung Gottes geboren wird. Gewiss lautet der Satz ganz allgemein (5. Mos. 27, 26): „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt.“ Weil aber Gott in väterlicher Nachsicht trägt, die in Schwachheit hinken, wird hier insbesondere von den Gerichten gehandelt, die er gegen die Verworfenen ausübt. Deren Zweck aber ist nach der Aussage Jesajas (26, 9), dass die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit lernen sollen.

V. 22. Wende von mir Schmach und Verachtung. Dieser Vers kann auf doppelte Weise verstanden werden. Wir wissen, dass die Kinder Gottes trotz ihres rechtschaffenen Verhaltens vielen Verleumdungen ausgesetzt sind. Darum können die Gläubigen mit gutem Grunde begehren, dass Gott wider die giftigen Zungen es offenbar mache, dass sie echte Frömmigkeit pflegen. So würde sich der passende Sinn ergeben: Herr, da ich ein gutes Gewissen habe, und du Zeuge meiner wahrhaftigen Lauterkeit bist, lass nicht zu, dass die Frevler falsche Anschuldigungen auf mich häufen und Schande über mein Leben bringen. Umfassender wird aber der Gedanke, wenn man die Sätze in einem Zuge liest, wobei sich etwa der Sinn ergibt: Lass nicht zu, dass die Gottlosen deshalb meiner spotten, weil ich mich bestrebe, dein Gesetz zu halten. Denn seit Anbeginn geht diese Gottlosigkeit in der Welt im Schwange, dass man den Verehrern Gottes ihren einfältigen Gehorsam zum Vorwurf macht und in den Spott hinabzieht. Auch heute werden den Kindern Gottes die gleichen Vorwürfe entgegengeschleudert, als ob sie gar zu feine Leute sein wollten, weil sie mit der herrschenden Lebensführung sich nicht zufrieden geben. Schon Petrus hat bezeugt (1. Petr. 4, 4), dass man die Christen für unsinnig hält, weil sie nicht in den Wegen der Welt mitlaufen. Dieser Spott, welcher über die reine Beobachtung des göttlichen Gesetzes ergeht, ist nun auch eine Schmach für Gottes Namen selbst: darum bittet der Prophet mit Recht, dass derartige Schmähreden niedergehalten werden möchten. Der nächste Vers lässt noch deutlicher ersehen, wie nötig diese Bitte ist: gingen doch die Spottreden nicht bloß vom gemeinen Volk und verächtlichen Leuten aus, sondern sogar von den „Fürsten“, welche das Richteramt innehatten. Denn dass sie „sitzen“, deutet nicht bloß auf unwürdige Reden im Winkel oder an ihren Schenktischen, sondern auf eine öffentliche und rechtmäßige Gerichtssitzung. Darum wird gesagt: auch die Fürsten. Dies deutet einen Gegensatz an zwischen dem heimlichen Murmeln des Volkes und ihrem frechen, öffentlichen Urteil, so dass die Sache noch unwürdiger erscheint. Trotz allem ist der Dichter in seinem frommen Streben standhaft geblieben. Während der Satan versuchte, ihn mit diesem Kunstgriff zur Verzweiflung zu treiben, kann er sagen: Aber dein Knecht sinnet über deine Satzungen. In der Betrachtung des göttlichen Gesetzes hat er ein Heilmittel gefunden. Wir lernen hier, dass es nichts Neues ist, wenn der Richter dieser Welt die Knechte Gottes ungerecht unterdrücken und ihre Frömmigkeit schmähen. Wenn David solcher Schmach nicht entgehen konnte, warum sollten wir heute von ihr verschont bleiben? Zugleich aber sollen wir lernen, dass nichts verkehrter ist, als sich von den Urteilen der Menschen abhängig zu machen: dabei müssten wir von Sekunde zu Sekunde schwanken. Es soll uns genug sein, dass wir dem Herrn gefallen, wenn uns auch die Menschen, und nicht bloß das gemeine Volk, sondern sogar die Richter in ungerechter Weise durchhecheln, von denen man doch eine größere Billigkeit hätte erwarten sollen.

V. 24. Ich habe Lust zu deinen Zeugnissen. Dies ist ein Beispiel seltener Tapferkeit, dass wir bei allen wider uns ergehenden, verkehrten Urteilen der Welt unsern Vorsatz nicht ändern noch ins Wanken kommen, sondern fortfahren, unsere Gedanken auf Gottes Gesetz zu richten. Der Prophet hat sich durch die Versuchung hindurch gerungen, indem er Gottes Zeugnisse seine Lust sein ließ. Wie bitter und lästig ihm auch die Ungerechtigkeit der Menschen war, wenn sie ihn lügnerisch verklagten, - es genügte ihm zum Ausgleich die Freude an Gottes Gesetz. Dass Gottes Zeugnisse seine Ratsleute sind, will besagen, dass er sich nicht mit der eigenen Meinung zufrieden gibt, sondern dass er sich durch Gottes Wort raten lässt. Dies wollen wir uns fleißig einprägen. Sehen wir doch, dass für gewöhnlich blinde Leidenschaften das Menschenleben regieren. Der Habsüchtige lässt sich nur durch den falschen, selbst gemachten Grundsatz beraten, dass es nichts Besseres gebe als Reichtum. Der Ehrgeizige strebt immer höher, weil er nichts Besseres kennt, als in der Welt eine ehrenvolle Stellung einzunehmen. Darum darf man sich nicht wundern, dass die Menschen so jämmerlich in die Irre gehen: sie lassen sich eben von bösen Ratgebern leiten. Erst dann wird den Betrügereien unseres Fleisches und der Welt der Zugang verschlossen sein, und wir werden unbesiegt wider alle Versuchungen stehen, wenn Gottes Wort uns regiert. Unsere einzige Klugheit soll es sein, getreulich dem zu folgen, was es vorschreibt.

25 Meine Seele klebt am Staube; erquicke mich nach deinem Wort. 26 Ich erzählte meine Wege, und du erhörtest mich; lehre mich deine Satzungen. 27 Unterweise mich den Weg deiner Befehle, so will ich sinnen über deinen Wundern. 28 Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet; stärke mich nach deinem Wort. 29 Wende von mir den falschen Weg, und begnadige mich mit deinem Gesetz. 30 Ich habe den Weg der Wahrheit erwählet; deine Rechte habe ich vor mich gestellet. 31 Ich hange an deinen Zeugnissen; Herr, lass mich nicht zuschanden werden! 32 Wenn du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote.

V. 25. Meine Seele klebt am Staube. Der Dichter will sagen, dass er bereits am Leben verzweifelte, als läge er im Grabe. Dies ist wert, dass wir es merken, damit es uns nicht verdrieße und mit Abscheu erfülle, durch einen vielfachen Tod hindurchzugehen, so oft es dem Herrn gut scheint. Der Prophet lehrt uns aber durch sein Beispiel, wenn auch nichts als Tod uns vor Augen steht und alle Hoffnung erloschen scheint, unsre Bitten doch an Gott zu richten, in dessen Hand, wie wir früher (Ps. 68, 21) hörten, Ausgänge aus dem Tode sind, und dessen eigentliches Amt es ist, Toten das Leben wiederzugeben. Weil aber hier ein schweres Ringen nötig ist, sollen wir unsere Gedanken auf Gottes Verheißungen richten: Erquicke mich nach deinem Wort. Darin liegt doch das Geständnis, dass uns keine Hoffnung übrig bleibt, wenn wir von Gottes Wort weichen. Weil aber der Herr versprochen hat, dass das Leben der Frommen in seiner Hand und seinem Schutz geborgen sein soll, richtet sich der Prophet zu neuer Lebenshoffnung auf, wenn er auch jetzt dem Grabe nahe ist.

V. 26. Ich erzählte meine Wege usw. Der Dichter bezeugt, dass sein Gebet von heuchlerischen Vorspiegelungen frei war, dass er andererseits es auch nicht machte wie die stolzen Leute, die im Vertrauen auf ihre Klugheit, Kraft und Hilfsmittel ihre Zuflucht nicht zu Gott nehmen. Dass er dem Herrn seine Wege darlegt, besagt, dass er ohne seine Hilfe nichts zu unternehmen oder anzugreifen wagt, sondern sich ganz von seiner Vorsehung abhängig macht, alle seine Pläne dem Belieben des Herrn unterstellt und alle seine Begehrungen seinem Herzen anvertraut. Und er tut dies rein und klar, spricht nicht mit der Zunge etwas aus, wie die Heuchler, wobei das Herz im verborgensten Grunde etwas anderes meint. Er fügt auch hinzu: Du erhörtest mich, was nicht wenig dazu beitrug, seine Hoffnung auch für die Zukunft zu stärken. Im zweiten Versglied bezeugt er wiederum, dass ihm nichts mehr am Herzen liegt, als wahre Erkenntnis des Gesetzes zu gewinnen. Manche Leute bringen zwar ihre Bitten vor Gott, wollen aber, dass er sich ihren törichten und begehrlichen Wünschen unterwerfe. Darum äußert es der Prophet als sein höchstes Anliegen: Lehre mich deine Satzungen. Er bekräftigt dies auch im nächsten Verse, indem er noch einmal um Unterweisung bittet. Diese beiden Sätze enthalten den bemerkenswerten Fingerzeig, dass uns das Lesen des Gesetzes mit den äußeren Augen nicht viel Nutzen bringt, wenn nicht die innere Belehrung durch Gottes Geist hinzukommt. Wo ich übersetzt habe, dass der Dichter über den Wundern in Gottes Gesetz „sinnen“ will, übersetzen andere: Ich will reden. Obwohl beides sprachlich möglich ist, passt unsere Deutung doch besser in den Zusammenhang. Denn die Worte lassen sich folgendermaßen auflösen: Wenn ich recht über deine Wunder soll nachdenken können, so musst du es schaffen, dass ich deine Gebote verstehe. Wissen wir doch, dass uns der Geschmack an Gottes Gesetz abgeht, bis Gott unseren Sinn reinigt und uns ein Verständnis für die wahre Weisheit schenkt. Aus dem verständnislosen Überdruss wird die Trägheit geboren; der Welt ist es lästig, auf Gottes Gesetz mit Ehrfurcht zu achten; es geht ihr der Geschmack für die darin verborgene, wunderbare Weisheit ab. Darum bittet der Prophet mit gutem Grunde, dass ihm durch die Gabe der Einsicht eine Tür aufgetan werden möge. Daraus wollen wir zugleich lernen, dass in demselben Maße, in welchem uns der Geist der Einsicht geschenkt ward, die Ehrfurcht vor Gottes Gesetz und der Eifer zu seiner Betrachtung in uns wachsen muss.

V. 28. Ich gräme mich, dass mir das Herz verschmachtet. Buchstäblich: „Meine Seele zerfließt vor Schmerz.“ Das hat ungefähr denselben Sinn wie die kurz vorher stehende Aussage: „Meine Seele klebt am Staube.“ Manche Ausleger finden hier freilich eine Anspielung an die Tränen; aber die Meinung wird einfach sein, dass die Kraft verfließt wie Wasser. Doch weiß der Prophet auch, dass jener äußerste Schmerz geheilt werden kann, wenn Gott seine Hand ausstreckt. Denn wie er zuvor, da er gleichsam entseelt am Boden lag, eine Hoffnung auf Wiedererweckung aus Gottes Gnade schöpfte (V. 25), so entnimmt er jetzt derselben Quelle die Zuversicht auf Wiedergewinnung neuer und völliger Lebenskraft, obwohl er schon ganz zerflossen ist. Er wiederholt die Wendung: nach deinem Wort. Denn ohne sein Wort wäre Gottes Machtwirken für uns bedeutungslos. Wenn aber der Herr uns begegnet, vermag uns seine Verheißung vollkommen zu stärken, auch wenn Mut und Kraft uns ganz vergangen waren.

V. 29. Wende von mir den falschen Weg. Weil der Dichter weiß, wie stark der Menschengeist zur Eitelkeit und Lüge neigt, bittet er zunächst um Reinigung seines Sinnes, damit er nicht in den Betrug des Satans sich verstricken lasse und in Irrtum falle. Damit er aber vor der Lüge sich hüten könne, bittet er, dass ihm die Schutzwehr des Gesetzes geschenkt werde: Begnadige mich mit deinem Gesetz. Einige übersetzen allerdings: „Schaffe, dass dein Gesetz mir angenehm werde.“ Dies wäre freilich eine nötige Bitte, weil dem Fleisch, welches durch das Gesetz gebändigt werden soll, dasselbe verhasst ist. Sprachlich aber wird diese Deutung unmöglich sein. Die Meinung ist also diese: weil wir in unserer Stumpfheit uns nur zu leicht von dem Irrtum umstricken lassen, soll Gott uns mit dem Geist der Klugheit rüsten. Dies geschieht dadurch, dass er uns in seinem Gesetz unterweist. Dass wir aber mit dem Gesetz „begnadigt“ werden, deutet darauf, welch unvergleichliche Wohltat uns Gott erweist, wenn er uns durch sein Gesetz leitet. Und da er uns dies aus freier Gnade schenkt, dürfen wir unbedenklich bitten, dass er uns des Genusses dieses Gutes würdige. Wenn übrigens der Prophet, welcher dem Herrn schon früher gedient hatte, sich jetzt nach einem neuen Fortschritt ausstreckt, gründet er doch seine Bitte nicht darauf, dass ihm ein reicherer Gnadenzufluss als Lohn für sein bisheriges Verdienst gegeben werden müsse, sondern gesteht, dass es sich um eine Gottesgabe aus freier Gnade handelt. Damit fällt der gottlose Aberglaube der Papisten, dass uns ein Gnadenzuwachs als verdienter Lohn zukomme.

V. 30. Ich habe den Weg der Wahrheit erwählet usw. In diesem und dem nächsten Vers spricht der Prophet seine Gesinnung aus, in der er nichts anders begehrt, als dem nachzufolgen, was recht und wahr ist. Mit guter Überlegung sagt er, dass es dasselbe „erwählet“ habe. Denn die alte Redewendung, dass das Menschenleben uns vor einen Scheideweg stellt, gilt nicht bloß für die Richtung im Allgemeinen, sondern für jede einzelne Handlung. Sobald wir auch nur das Geringste unternehmen, werden wir hierhin und dorthin gezogen, und wie im Wirbel des Sturmes mischen sich die verschiedensten Pläne. Darum erklärt der Prophet, dass er fest entschlossen ist, nicht von der Wahrheit abzuweichen, um in beständigem Fortschreiten auf dem rechten Weg zu bleiben. Er gibt freilich zu verstehen, dass er auf diese Weise von Versuchungen nicht verschont blieb: aber er hat obsiegt, weil er eifrig darauf bedacht war, das Gesetz zu halten. Eben darauf deutet das nächste Satzglied: Deine Recht hab ich vor mich gestellet. Denn die Wahl des Guten wird nur dadurch fest, dass die Gläubigen sich üben, ununterbrochen auf das Gesetz zu blicken, und ihre Augen nicht frei umherschweifen zu lassen. Im nächsten Verse berichtet der Dichter nicht bloß von dieser frommen Gesinnung, sondern fügt auch das Gebet hinzu, dass ihn der Spott gottloser Leute nicht irremachen möge, wenn er sich ganz an Gottes Gesetz hängt. Buchstäblich ließe sich übersetzen: „Ich klebe an deinen Zeugnissen.“ Wir begegnen hier demselben Wort wie kurz zuvor (V. 25): „Meine Seele klebt am Staube“, David will damit sagen: Ich klammere mich so zäh an Gottes Gesetz, dass nichts mich davon losreißen kann. Wenn er trotzdem fürchten muss, dass Schande und Schmach über ihn kommen, so können wir schließen, dass ein Mensch in demselben Maße, als er sich dem Herrn völlig übergibt, unruhige und giftige Zungen in Bewegung setzt.

V. 32. Wenn du mein Herz tröstest, buchstäblich: „weit machst“, usw. Die Meinung des Propheten ist, dass er Frische und Kraft besitzen und nicht mitten auf dem Wege ermatten wird, wenn Gott ihm den Trieb dazu ins Herz gibt. Zwischen den Zeilen lesen wir die Erinnerung, dass die Menschen nicht bloß träge sind, sondern sich nicht einmal einen Schritt dem Guten entgegenbewegen können, wenn nicht Gott ihr Herz weit und frei macht. Tut er aber dies, so werden wir nicht nur zu gehen, sondern sogar zu laufen imstande sein. Darin liegt auch der Hinweis, dass die wahre Beobachtung des Gesetzes sich nicht in äußeren Werken erschöpft, sondern dass ein freiwilliger Gehorsam erfordert wird, in welchem das Herz sich gleichsam weitet. Gewiss kann es dies nicht aus eigenem Entschluss; aber wenn Gott seine Härte und Widerspenstigkeit bessert, bringt es sich freiwillig dar und bleibt nicht weiter in seiner Engigkeit gehalten. Endlich aber lehrt uns diese Aussage, dass uns die Kräfte nicht fehlen werden, wenn Gott unserm Herzen diese rechte Weite schenkt: Er wird mit der rechten Gesinnung auch die Fähigkeit verleihen, so dass unsere Füße zum Laufen gerüstet sind.

33 Zeige mir, Herr, den Weg deiner Satzungen, dass ich sie bewahre bis ans Ende. 34 Unterweise mich, dass ich bewahre dein Gesetz und halte es von ganzem Herzen. 35 Führe mich auf dem Steige deiner Gebote; denn ich habe Lust dazu. 36 Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Geiz. 37 Wende meine Augen ab, dass sie nicht aufs Eitle sehen, sondern mache mich lebendig auf deinem Wege. 38 Bestätige deinem Knechte dein Wort, der ja deiner Furcht ergeben ist. 39 Wende von mir die Schmach, dich ich scheue; denn deine Gerichte sind gut. 40 Siehe, ich begehre deiner Befehle; mache mich lebendig in deiner Gerechtigkeit.

V. 33. Zeige mir, Herr, den Weg deiner Satzungen. Noch einmal wiederholt sich das Gebet, das wir in diesem Psalm immer wieder lesen: denn es ist sehr wichtig für uns, es in diesem Leben als die Hauptsache festzuhalten, dass Gott uns leite. Denken doch die meisten Menschen viel eher an alles andere, als dass sie dies sich vom Herrn erbitten sollten. Darum prägt uns der heilige Geist diesen Gebetswunsch, der uns beständig wiederkehren muss, auch immer wieder ein. Nicht bloß Anfänger, sondern auch diejenigen, die bereits große Fortschritte gemacht haben, sollen unablässig weiterstreben. Und weil der Geist der Erkenntnis von oben gegeben wird, sollen sie unter seinem verborgenen Antrieb bitten, dass sie eine Hinleitung zum wahren Verständnis des Gesetzes empfangen. Denn das zweite Satzglied zeigt, dass von demjenigen Teil der Lehre die Rede ist, der sich auf die sittliche Bildung des Menschenherzen bezieht: dass ich deine Gebote bewahre bis ans Ende. Die letzten Worte werden übrigens verschieden übersetzt. Nach unserer Wiedergabe würde der Prophet um die Gabe der Beharrung bitten. Denn Leute, die Gott wirksam belehrt, stärkt er zugleich auch, damit sie nicht mitten auf dem Wege ermüden, sondern ohne Erschlaffung beständig bis zum Ziel fortgehen. Andere übersetzen allerdings, dass ich deine Gebote bewahre „zum Lohn“. Dies würde auf die Erfahrung deuten, dass man sich nicht vergeblich müht, wenn man an Gottes Gebote sich hält. Empfehlenswerter wäre vielleicht noch eine andere Deutung: dass ich deine Gebote bewahre „als Ziel“, nämlich als das Ziel meines ganzen Lebens, dem ich bis zum Tode nachjage. Ich bin jedoch bei der geläufigeren Übersetzung geblieben.

V. 34. Unterweise mich, buchstäblich: „schenke mir die Weisheit“, dass ich bewahre dein Gesetz. Wahre Klugheit besteht also darin, dass wir allein durch Gottes Gesetz uns weisen lassen und uns in der Furcht und im Gehorsam gegen dasselbe halten. Indem aber der Prophet diese Weisheit als ein Geschenk von Gott erbittet, gesteht er, dass die Menschen in der fleischlichen Verblendung ihres Sinnes jede andere Richtung viel lieber einschlagen. Von der gewöhnlichen Menschenmeinung entfernt man sich sehr weit, wenn man allen Eifer an die Beobachtung des göttlichen Gesetzes wendet. Die Welt hält nur diejenigen für klug, die gut für ihren Vorteil sorgen, in irdischen Geschäften sich scharfsinnig und gewandt beweisen, vielleicht auch schlau die Einfältigen zu betrügen wissen. Dem gegenüber verkündet der Prophet, dass die Menschen solange von der rechten Einsicht verlassen sind, als nicht die Furcht Gottes bei ihnen die erste Stelle behauptet. Denn er wünscht sich allein die Klugheit, die es lernt, sich ganz der Leitung Gottes zu übergeben. Dabei gesteht er, dass dieselbe eine besondere Gabe Gottes ist, die man nicht mit eigener Kraft und Bemühung erwerben kann. Denn wenn in diesem Stück jeder sein eigener Lehrer sein könnte, wäre jenes Gebet überflüssig. Weil es aber ein nicht gewöhnliches Ding ist, Gottes Gesetz zu beobachten, bedient sich der Prophet eines doppelten Wortes; es liegt ihm daran, dass er dasselbe bewahre und halte. Er will etwa sagen: Herr, es ist ein hartes und schwieriges Ding, dein Gesetz mit seiner Forderung mehr als menschlicher Reinheit mit gebührender Genauigkeit zu halten, aber im Vertrauen auf das Licht deines himmlischen Geistes will ich davon doch nicht abstehen. Er spricht auch aus, dass er von ganzem Herzen sich dem Gebot ergeben will. So sollen wir wissen, dass Leute, die nur die äußeren Sinne im Zaum halten und sich nur vor offensichtlich tadelnswerten Dingen hüten, von der im Gesetz erforderten Gerechtigkeit noch weit entfernt sind. Gott will vor allem dem Herzen einen Zügel anlegen und dasselbe zu völliger Reinheit bilden, woraus dann die Früchte im Leben erwachsen sollen. Der Blick auf diese geistliche Erfüllung des Gesetzes lässt nur noch deutlicher erkennen, wie unentbehrlich hierfür die Erziehung durch Gott ist.

V. 35. Führe mich auf dem Steige deiner Gebote. Die stetige Wiederholung dieses Gedankens ist nicht überflüssig. Denn wenn auch die Menschen es sich zum Lebenszweck setzen, in der Schule Gottes vorwärts zu kommen, sehen sie sich doch durch die Lockungen der Welt hierhin und dorthin gezogen, schaffen sich auch selbst zahllose Ablenkungen. Bemerkenswert ist, was der Dichter im Folgenden sagt, dass er Lust zu Gottes Geboten habe. Es ist dies ein Zeichen seltener Tugend, wenn ein Mensch seine Sinne und Gedanken derartig sammelt, wenn er allen schmeichlerischen Reizen des Fleisches den Abschied gibt und seine Freude nirgend anders sucht als in der Verehrung Gottes. Und doch sieht der Prophet, dass ihm noch etwas fehlt, wenn er auch diese Stufe erstiegen hat. Darum fleht er von neuem um Gottes Hilfe, damit zu seiner Lust und Sehnsucht sich die volle Durchführung geselle, wie Paulus sagt (Phil. 2, 13): „Gott ist´ s, der in euch wirket beide, das Wollen und das Vollbringen.“ Wir wollen aber festhalten, dass der Psalmist sich nicht etwa einer eigenen guten Regung seiner Natur rühmt, sondern eine bereits empfangene Gnadengabe dem Herrn vorhält, damit er sein begonnenes Werk vollende. Er will etwa sagen: Herr, der du mir die Lust gegeben hast, füge auch die Kraft hinzu! Diese „Lust“ steht aber im Gegensatz zu den Lüsten des Fleisches, welche mit ihren Lockungen das Menschenherz gebunden halten.

V. 36. Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen. Darin liegt das Geständnis, dass das Menschenherz sich keineswegs der Gerechtigkeit Gottes zuneigt, sondern nach der entgegengesetzten Seite strebt. Wären wir von Natur und aus freien Stücken auf die Gerechtigkeit des Gesetzes gestimmt, so brauchten wir nicht erst zu bitten, dass Gott unser Herz neigen möge. Dasselbe hat von Natur lauter sündhafte Gedanken und ist der Widerspenstigkeit ergeben, bis Gott ihm eine andere Richtung gibt. Das zweite Satzglied zeigt, was die Menschen hindert, sich mit Eifer der Gerechtigkeit hinzugeben, nämlich der Geiz oder die Habsucht. Gewiss nennt der Dichter statt vieler Sünden nur eine, aber doch eben eine solche, die eine Wurzel alles Bösen ist (1. Tim. 6, 10); er will damit zeigen, dass ein schärferer Gegensatz gegen die Gerechtigkeit Gottes sich nicht denken lässt.

V. 37. Wende meine Augen ab usw. Diese Worte lehren, wie unsere Sinne von eitlen Dingen derartig in Anspruch genommen werden, dass ihnen das Streben nach dem Rechten und Guten fern liegen muss, bis sie gereinigt und umgestaltet werden. Wir ersehen auch, dass das verkehrte Wesen, welches nach der Aussage des vorigen Verses im Herzen der Menschen regiert, sich auch auf die äußeren Sinne erstreckt. Die Krankheit der bösen Lust ist nicht bloß in der Seele verborgen, sondern ergießt sich über den ganzen Körper, so dass weder Augen noch Ohren, weder Füße noch Hände ihre ursprüngliche, reine Natur behalten. Wir wissen ja, dass die Pest der Erbsünde ihren Sitz nicht bloß in einem Teil des Menschen aufschlägt, sondern Leib und Seele ganz in Besitz nimmt. Denn wenn Gottes besondere Gnade unsere Augen ablenken muss, dass sie nicht aufs Eitle sehen, so ergibt sich der Schluss, dass sie begierig in die ringsum vom Satan augestellten Fallen gehen, sobald wir sie nur öffnen. Wenn Satan nur seine Fallen stellte, wir aber die nötige Vorsicht besäßen, uns vor seinen Nachstellungen zu hüten, so könnte nicht eigentlich gesagt werden, dass Gott unsere Augen von der Eitelkeit ablenkt. Er muss dies aber tun, weil wir aus freien Stücken uns durch die bösen Lockungen anziehen lassen. Wir sollen uns also sagen: so oft wir die Augen aufschlagen, öffnen wir dem Teufel zwei Türen, durch welche er in unsere Seele eindringen kann, wenn nicht Gott die Macht seines Geistes dagegensetzt. Was hier aber von den Augen gesagt ist, gilt auch von den anderen Sinnen. Dem entspricht auch das nächste Satzglied: sondern mache mich lebendig auf deinem Wege. Wenn auch die Ausleger hier mancherlei andere Gedanken finden, scheint mir der rechte Sinn doch zu sein: „Herr, weil das Leben der Menschen verflucht ist, solange sie ihre Fähigkeiten der Sünde weihen, so gib, dass ich alle Kraft, die in mir ist, mit dem Geist der von dir erforderten Gerechtigkeit erfülle.“ Dass unsere Augen sehen, unsere Ohren hören, unsere Füße gehen und unsere Hände greifen, sind wertvolle Gaben Gottes; ein noch herrlicheres Geschenk ist es, dass wir vernünftiges Urteil und freien Willen besitzen. Dabei gibt es aber keinen Blick der Augen, keine Regung der Sinne und keine Gedanken, an denen nicht Sünde und Verkehrtheit hingen. Weil es aber so ist, übergibt sich der Prophet mit gutem Grunde ganz dem Herrn, damit er ihn töte und ihm dann den Anfang eines neuen Lebens schenke.

V. 38. Bestätige deinem Knecht dein Wort. Hier wird kurz auf das rechte und einzige Ziel des Betens hingewiesen, welches darin besteht, dass wir die Frucht der Verheißung Gottes empfangen. Daraus folgt, dass es verkehrt ist, seinen Gebetswünschen gedankenlos die Zügel schießen zu lassen. Sehen wir doch, dass der Prophet nichts anderes zu wünschen oder zu bitten sich erlaubt, als was Gott in seiner Herablassung ihm verheißen hat. Nur eine ganz unzeitige Kühnheit will zu Gott ohne die Einladung seines Wortes hindurch brechen. Das hieße, Gott seinem eignen Willen unterwerfen. Bemerkenswert ist der Grund, weshalb Gott seinem Knecht sein Wort bestätigen oder erfüllen soll: der ja deiner Furcht (ergeben ist), wobei allerdings das Zeitwort in der Übersetzung ergänzt werden musste. Der Prophet will sagen, dass er nicht wie unheilige Menschen nur auf irdische Vorteile bedacht ist, noch die Verheißungen Gottes missbraucht, um Vergnügen für sein Fleisch zu gewinnen, sondern dass er sich die Furcht und Verehrung Gottes zum Ziel setzt. Sicherlich dürfen wir am gewissesten auf Erhörung hoffen, wenn wir unsere Gebetswünsche nicht vom Dienst Gottes trennen, sondern eben dies Eine begehren, dass er in uns herrsche.

V. 39. Wende von mir die Schmach usw. Es ist nicht ganz klar, an welcherlei Schmach man denken soll. David konnte sich daran erinnern, dass viele Verleumder auf der Wacht standen, die eifrig die Gelegenheit zur Schmähung ergriffen, wenn sie ihn in irgendeinem Fehler ertappten. So würde er sich mit gutem Grunde fürchten, durch seine Schuld in solche Schmach zu fallen. Er konnte auch daran denken, dass böse Menschen die Besten in ihrer Frechheit schmähen und ihre guten Taten verleumderisch missdeuten. Als Grund seiner Bitte gibt er an: Deine Gerichte sind gut. Gott schlägt die bösen Zungen nieder, welche das Gift ihrer Frechheit gegen unschuldige Leute und treue Gesetzesverehrer ausspritzen.

V. 40. Siehe, ich begehre deiner Befehle. Noch einmal wiederholt der Prophet, was er soeben schon bezeugte, dass er eine fromme Gesinnung hege und von Herzen auf einen rechtschaffenen Wandel bedacht sei. Nur dies stehe noch aus, dass Gott das angefangene Werk vollende: Mache mich lebendig in deiner Gerechtigkeit. Dies dürfte ebensoviel bedeuten, wie das frühere Gebet (V. 37): „Mache mich lebendig auf deinem Wege.“ Denn unter Gerechtigkeit sind hier wohl Gottes gerechte Forderungen oder die Lebensregel seines Gesetzes zu verstehen. So würden die beiden Glieder des Verses sich trefflich zusammenschließen: Herr, schon dies ruht auf dem herrlichen Wirken deiner Gnade, dass du die heilige Sehnsucht nach Erfüllung deines Gesetzes mir ins Herz gegeben hast; es fehlt aber noch, dass diese sittliche Tüchtigkeit sich über mein ganzes Leben erstreckt. Da indes „Gerechtigkeit“ auch Gottes gnädige Hilfsbereitschaft bedeuten kann, wäre eine anderes Verständnis nicht ausgeschlossen: Gemäß deiner Güte, welche du den Deinen zu erweisen pflegst, schenke mir neues Leben, schütze und halte mich.

41 Herr, lass mir deine Gnade widerfahren, deine Hilfe nach deinem Wort, 42 dass ich ein Wort antworten möge meinem Lästerer; denn ich verlasse mich auf dein Wort. 43 Und nimm nicht ganz und gar von meinem Munde das Wort der Wahrheit; denn ich hoffe auf deine Rechte. 44 Ich will dein Gesetz halten allewege, immer und ewiglich. 45 So werde ich wandeln in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle. 46 Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen, und schäme mich nicht, 47 und habe Lust an deinen Geboten, und sind mir lieb, 48 und hebe meine Hände auf zu deinen Geboten, die mir lieb sind, und sinne über deine Satzungen.

V. 41. Herr, lass mir deine Gnade widerfahren. Indem die Gnade an die erste, die Hilfe an die zweite Stelle gesetzt wird, folgt, wie dies der natürlichen Ordnung entspricht, die Wirkung der Ursache. So gesteht der Dichter, dass er nicht anders gerettet werden kann als durch Gottes reines Erbarmen. Indem er aber Rettung durch seine Gnade sich wünscht, stützt er sich zugleich auf Gottes verheißenes Wort, wie wir dies schon anderwärts sahen. Im nächsten Verse rühmt er, dass ihm die beste Verteidigung wider die Lästerungen der Feinde zur Verfügung steht, weil er sich auf Gottes Wort verlassen hat. Man kann diesen Satz als einen Wunsch oder als die Aussage zuversichtlicher Erwartung verstehen. In jedem Falle werden wir darauf hingewiesen, dass es niemals an schmähsüchtigen Leuten fehlen wird, welche die Kinder Gottes trotz vollster Unschuld unablässig verfolgen. Ihre Schmähungen werden sich nicht bloß auf die Person, sondern auch auf den Glauben der Gotteskinder beziehen. David setzt ihnen seine Hoffnung auf den Herrn entgegen und will etwa sagen: Ich weiß, was ich auf die falschen Angriffe antworten soll, weil Gott nicht betrügen wird, die auf ihn hoffen. Dabei spricht er doch nicht einfach vom Vertrauen auf Gott, sondern vom Vertrauen auf sein Wort, welches ja die Unterlage unserer Zuversicht bildet. Beachtenswert ist nun, dass sein eigenes Wort, mit welchem er dem Lästerer antworten will, mit Gottes Wort in Beziehung steht. Müssten wir doch von der Frechheit der Gottlosen erdrückt werden, wenn wir nicht aus Gottes Wort unser Verteidigungswort schöpfen dürften. Wer gegen die Angriffe der Welt unbesiegt standhalten will, lasse sich hier den Quell der Stärke zeigen: es gilt, dass man sich auf Gottes Wort verlasse. Der Geist Gottes befiehlt uns, dass wir, auf dieses gestützt, die giftigen Lästerungen unfrommer Leute mutig verachten sollen: um sie zu widerlegen soll sich zum Wort, auf das wir hoffen, das Wort des Bekenntnisses gesellen.

V. 43. Nimm nicht von meinem Munde das Wort der Wahrheit. Man könnte fragen, warum der Dichter seine Zunge und nicht sein Herz mit dem Wort der Wahrheit gerüstet sehen will, welches letztere doch wichtiger wäre. Er will aber natürlich dies nicht ausschließen, sondern etwa sagen: Herr, halte nicht bloß mein Herz durch den Glauben aufrecht, damit ich nicht von den Versuchungen erdrückt werde, sondern schenke auch meiner Zunge die volle Unbefangenheit, unter den Menschen dich ohne Furcht zu rühmen. Weiter könnte man fragen, warum er nur nicht ganz und gar vom Wort der Wahrheit verlassen sein möchte. Die Meinung kann doch nicht sein, dass er für kurze Zeit wenigstens wehrlos und nackt dastehen will. Die Lösung der Schwierigkeit können wir aus der eigenen Erfahrung entnehmen. Bei der Schwachheit des Fleisches ist es fast unvermeidlich, dass auch die Stärksten zuweilen zittern, wenn Satan sie heftiger angreift. Und obgleich der Glaube nicht unterliegt, fühlen wir doch, wie er wankt. Insbesondere wird uns nicht immer die Geistesgegenwart geschenkt, unentwegt unsere Zunge zu gebrauchen und in steter Bereitschaft auf den Spott der Gottlosen zu antworten. Im Bewusstsein solcher Schwachheit mäßigt David sein Gebet etwa in dem Sinne: Sollte mir die wünschenswerte Zuversicht der Rede auch nicht immer zur Verfügung stehen, so gib doch nicht zu, dass ich allzu lange verstummen müsse. Wir sollen daraus lernen, dass wir die Kraft mutigen Redens ebenso wenig in unserer Gewalt haben wie die Stimmung des Herzens. Soweit Gott unsere Zunge regiert, ist sie zu freimütigem Bekenntnis gerüstet. Sobald er uns den Geist der Tapferkeit entzieht, wird das Herz nicht nur müde, sondern liegt ganz am Boden, und auch die Zunge verstummt. Der Dichter gibt auch den Grund seiner zuversichtlichen Bitte an: denn ich hoffe auf deine Rechte. Der Zusammenhang ergibt, dass wir bei diesem Ausdruck nicht bloß an die Vorschriften des Gesetzes zu denken haben, sondern auch an seine Verheißungen, auf welche sich recht eigentlich unsere Hoffnung stützt.

V. 44. Ich will dein Gesetz halten allewege. Hier verspricht David, dass er nicht bloß wenige Tage, sondern bis ans Ende seines Lebens sich eifrig um das Gesetz bemühen will. Die mehrfache Wiederholung: immer und ewiglich – ist doch kein überflüssiger Wortschwall, sondern gibt zu verstehen, dass immer neue Versuchungen die Gläubigen aus der Furcht Gottes heraus werfen und ihnen den Eifer für das Gesetz entreißen können, wenn sie nicht mit aller Kraft zum Widerstand sich rüsten. Darum erinnert der Dichter an die Schwierigkeiten, damit er sich jederzeit zum Kampf bereithalte. Im nächsten Vers rühmt er, dass ihm, der ernstlich nach Gottes Geboten fragt, darum ein ebener und unbehinderter Weg gegeben sein wird. Denn dies heißt wandeln in weitem Raum. Wir wissen ja, dass die Wege der Menschen meistens dornig und beengt sind; weil sie selbst sich allerlei Hindernisse schaffen, oder sich auf Umwege verlieren. So kommt es, dass man für seine Anmaßung büßen muss, weil man dem Worte Gottes sich nicht unterwerfen noch sich von demselben leiten lassen will: denn Gott legt uns auf allen Seiten Schlingen, gräbt Gruben, erschwert die Wege durch Unebenheiten, oder lässt sie ganz in einem Abgrund enden; und je schlauer ein Mensch ist, desto mehr müht er sich in seinen Ängsten ab. Unser Vers lehrt dagegen, dass man im schlichten Gehorsam gegen Gott den Lohn gewinnt, mit ruhigem und gesichertem Herzen seine Straße zu ziehen. Kommen auch enge Wege, so finden wir doch einen Ausgang. Freilich geschieht es, dass die Gläubigen zuweilen ratlos hängen bleiben, wenn sie sich auch folgsam gegen Gott beweisen. Aber es erfüllt sich doch, was Paulus sagt (2. Kor. 4, 8): „Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht.“ Denn es ist Gottes Sache, den Weg durch unwegsames Gebiet zu zeigen. Unter allem Druck der Angst wandeln sie doch in weitem Raum, weil sie den zweifelhaften Ausgang dem Herrn anvertrauen, unter dessen Führung sie auf einen freien Ausweg aus dem Abgrund ohne allen Zweifel hoffen dürfen.

V. 46. Ich rede von deinen Zeugnissen. Was David vorher erbeten hat, scheint er sich jetzt mit Sicherheit zu versprechen. Zuvor sagt er: Nimm dein Wort nicht aus meinem Munde. Jetzt richtet er sich nach Erhörung dieses Gebetes hoch auf: die Sprache soll ihm nicht versagen, auch wenn er vor Königen reden muss. Der Sinn ist ohne Zweifel, dass er auch gegen den Widerspruch einer ganzen Welt sich die Geistesgegenwart zuerkennt, frisch und frei Gottes Ruhm zu verteidigen. Er nennt aber die Könige, weil sie vor andern schrecklich sind und durch ihr hochfahrendes Wesen den Zeugen Gottes den Mund verschließen. Zuweilen allerdings weichen wir schon sehr unbedeutenden Menschen: sobald jemand dem Worte Gottes widerspricht, ziehen wir uns furchtsam zurück, und der Freimut, zu dem wir uns ursprünglich bekannten, verschwindet. Am meisten aber verrät sich unsere Furchtsamkeit, wenn es gilt, vor Königsthronen aufzutreten. Eben darum sagt David, dass er nicht bloß gegenüber unberühmten Feinden tapfer standhalten, sondern selbst vor Königen fest und unerschrocken stehen werde. Also erst dann haben wir den rechten Fortschritt in Gottes Wort gemacht, wenn unser Sinn gegen alle menschlichen Schrecken und Angriffe, die ihn niederzuwerfen suchen, derartig gewappnet ist, dass wir uns selbst vor dem Anblick von Königen nicht scheuen. Es wäre gar zu unwürdig, wenn ihr hohler Glanz die Herrlichkeit Gottes in den Schatten stellen sollte.

V. 47. Und habe Lust an deinen Geboten. Schon früher hat David ähnliches ausgesprochen. Er hat Gottes Gebote mit solcher Liebe umfasst, dass er nichts Süßeres kennt, als ständig an sie zu denken. Diese seine Lust ist der Ausdruck brennender Liebe. Dasselbe sagt die nächste Wendung: Ich hebe meine Hände auf zu deinen Geboten. Denn was wir mit ausgestreckten Händen ergreifen, ist sicher der Gegenstand unseres dringenden Begehrens. In diesem Bilde wird also die glühende Sehnsucht beschrieben. Wollte jemand mit äußerer Gebärde solche Stimmung ausdrücken, während er doch in allen Geschäften des Lebens sich über Gottes Gebot hinwegsetzt, so wäre ja dies mehr als hässliche Heuchelei. Und noch einmal wird bestätigt, dass jene ernste und brennende Neigung daraus erwächst, dass das Gesetz durch seine Süßigkeit unsere Seele an sich gefesselt hat: Deine Gebote sind mir lieb. Endlich erklärt der Dichter, dass er über dieselben nachdenke; denn eben auf jene stille Versenkung, in welcher die Kinder Gottes sich üben, wird mit den meisten Auslegern der Ausdruck bezogen werden müssen: Ich sinne über deinen Satzungen.

49 Gedenke deinem Knechte an dein Wort, auf welches du mich lässest hoffen. 50 Das ist mein Trost in meinem Elende; denn dein Wort erquicket mich. 51 Die Stolzen verspotten mich ganz und gar; dennoch weiche ich nicht von deinem Gesetz. 52 Herr, wenn ich gedenke, wie du von der Welt her gerichtet hast, so werde ich getröstet. 53 Ich bin entbrannt über die Gottlosen, die dein Gesetz verlassen. 54 Deine Satzungen sind mein Lied in dem Hause meiner Wallfahrt. 55 Herr, ich gedenke des Nachts an deinen Namen, und halte dein Gesetz. 56 Das ist mir geschehen, weil ich deine Befehle halte.

V. 49. Gedenke deinem Knechte an dein Wort. Diese Bitte zielt darauf, dass Gott tatsächlich geben möge, was er versprochen hat: denn eben der Erfolg beweist, dass Gott seines Wortes gedenkt. Dass aber von den Verheißungen die Rede ist, ergibt sich aus dem Schluss des Verses, wo das Wort als Unterlage der Hoffnung erscheint. Das hat doch nur einen Sinn, wenn Gnade angeboten wurde. Im nächsten Vers bezeugt David, dass er, obwohl Gott ihn noch immer in der Schwebe hielt, doch auf seinem Wort ausruht. Dabei lässt er ersehen, dass er in den Beschwerden und Sorgen nicht nach eitlen Tröstungen griff, wie die Welt hierhin und dorthin umzuschauen pflegt, um das Elend zu lindern, und wie sie irgendwelche Vergnügungen, die gerade lockend scheinen, als Pflaster auf die Schmerzen legt. Der Prophet dagegen erklärt, dass er mit Gottes Wort allein sich zufrieden gebe: wenn auch alles andre ihm fehlte, fand er dort volles Leben. Zwischen den Zeilen kann man doch lesen, dass er allen Mut verloren haben würde, wenn er ihn nicht aus Gottes Wort neu hätte schöpfen dürfen. Und sicherlich fehlt unheiligen Menschen, obwohl sie in ihrem Elend einen aufgeblasenen Geist zur Schau tragen, jede innere Lebenskraft. Darum sagt der Prophet mit Recht, dass die Gläubigen Leben und Kraft in ihrem Elend nur dann besitzen, wenn Gottes Wort sie erquicket oder ihnen Leben schafft. Wenn wir uns darum recht in des Herrn Wort versenken, werden wir mitten im Tode leben, und es gibt keine noch so schwere Traurigkeit, die durch dieses Mittel nicht geheilt würde. Wenn wir aber in unserm Unglück der Erleichterung entbehren müssen, ist es unsere Schuld. Denn unter Verachtung und Hintansetzung des göttlichen Wortes betrügen wir uns mutwillig mit eitlen Tröstungen.

V. 51. Sie Stolzen verspotten mich. Dies ist ein überaus nützliches Vorbild: ist auch unsere Einfältigkeit den Spöttereien der Gottlosen ausgesetzt, so sollen wir doch lernen, ihr hochfahrendes Wesen fest und standhaft abzuweisen; niemals soll der Überdruss an Gottes Gesetz uns beschleichen. Denn viele sehen wir gerade dieser Versuchung unterliegen, die sonst der Furcht Gottes nicht abgeneigt wären. Zu allen Zeiten war die Erde mit unheiligen Gottesverächtern angefüllt: heute aber trägt sie dieselben im Übermaß. Wenn wir also ihrem Spott gegenüber nicht ganz hart werden, wird die Festigkeit unsers Glaubens verloren gehen. Die Ungläubigen bezeichnet der Dichter aber mit ihrem eigentlichen Namen, indem er sie die „Stolzen“ nennt. Denn darin besteht die Weisheit solcher Leute, dass sie den Herrn verachten, seine Gerichte für nichts halten, alle Frömmigkeit mit Füßen treten, ja das Himmelreich verspeien. Und sie würden nicht so frech daherstürmen, wenn nicht der Stolz sie blind machte. Bemerkenswert ist auch der Zusatz, dass sie den Frommen ganz und gar verspotten; er wurde also nicht nur das eine oder andere Mal von ihnen umgetrieben, sondern der Streit erneuerte sich täglich. Daraus schließen wir, dass ihre Überzahl sie besonders kühn machte, wie denn die Frommen, die dem Herrn mit wahrer Ehrfurcht dienen, immer in der Minderzahl sind. Wollen wir also innerlich unversehrt bleiben, so müssen wir gegen den großen Schwarm und Haufen ankämpfen.

V. 52. Ich gedenke, wie du von der Welt her gerichtet hast. David erinnert sich der Gerichte, durch welche Gott sich als Richter der Welt von jeher bewiesen und die Unantastbarkeit seines Gesetzes eingeprägt hat. Solche Bekräftigung ist uns sehr nötig: denn wenn man Gottes Hand nicht offenbar sehen kann, macht seine Lehre oft wenig Eindruck. Nimmt aber der Herr Rache an den Gottlosen, so bekräftigt er, was er geredet hat. Zum Wort kommt der tatsächliche Erweis. Dass aber der Sänger sich Beispiele des Gerichtes Gottes schon aus der ältesten Zeit vergegenwärtigen kann, lässt ersehen, dass nur unsere Undankbarkeit und Gedankenlosigkeit daran schuld sind, wenn uns nicht viele Gerichtstaten Gottes zur Stärkung des Glaubens einfallen. Denn es ist kein Zeitalter vorübergegangen, in welchem Gott zu diesem Zweck nicht deutliche Beweise gegeben hätte, so dass man in Wahrheit sagen kann, dass ein ununterbrochener Strom der Gerichte Gottes durch alle Zeiten geflossen ist; aber wir übersehen ihn, weil wir uns nicht herbeilassen, die Augen aufzutun. Sollte aber jemand einwenden, dass es die Art der Gerichte Gottes nicht ist, zu trösten, sondern ganz im Gegenteil Schrecken zu erregen, so ist die Antwort leicht: durch Gottes Gerichte werden die Gläubigen erschreckt, soweit es ihnen zur Abtötung des Fleisches förderlich ist; soweit sie aber daraus erkennen, dass Gott für das Menschengeschlecht sorgt, bietet sich ihnen darin ein reicher Stoff des Trostes. Denn sie ziehen den Schluss, dass die Gottlosen doch endlich vor Gottes Richterstuhl kommen müssen, nachdem ihr Übermut eine Zeitlang gewährt hat, dass aber sie selbst ohne Zweifel Rettung erfahren werden, nachdem sie geduldig unter solchem Hüter ihres Heils ihren Dienst getan haben.

V. 53. Ich bin entbrannt über die Gottlosen. In seinem brennenden Eifer trägt der Dichter nicht nur schwer an den Gesetzesübertretungen, sondern hegt geradezu einen entsetzlichen Abscheu vor der verbrecherischen Frechheit, die Gottes Gesetz für nichts achtet. Wir wollen uns aber einprägen, dass es keine neue Art des Ärgernisses ist, wenn viele das Joch abschütteln und sich im Übermut gegen Gott erheben. Ich halte diese Erinnerung für nötig, weil viele durch die Verderbnis der Zeit sich zu der faden Entschuldigung verleiten lassen, dass man mit den Wölfen heulen müsse. Nun sehen wir aber, dass schon zu Davids Zeit viele von der Frömmigkeit abtraten: dadurch hat er sich doch so wenig erschüttern oder zu Falle bringen lassen, dass die Furcht Gottes vielmehr einen heiligen Zorn in seiner Seele entzündete. Wenn wir uns also auf allen Seiten von bösen Beispielen umgeben sehen, was sollen wir anders tun, als dass wir den Abscheu in uns wachrufen? Wenn David auch auf der einen Seite Gottes Geduld sich vorstellte, so war er doch von dem unausbleiblichen Eintreffen der Strafen Gottes fest überzeugt.

V. 54. Deine Satzungen sind mein Lied. Der Dichter wiederholt in einer anderen Ausdrucksweise, dass Gottes Gesetz die einzige oder beste Freude seines Lebens war. Denn Gesang ist ein Zeichen der Freude. Weil nun die Heiligen als Kinder Gottes und Erben des Himmels auf Erden nur Gäste sind, könnte man im Allgemeinen an den irdischen Lebenslauf denken, wenn David von dem Hause seiner Wallfahrt spricht. Doch scheint der Ausdruck auf seine besondere Lage zu deuten; obwohl er aus dem Vaterlande vertrieben war, stand er doch nicht ab, aus dem Gesetz Gottes Trost für sein Unglück, ja Freude zu schöpfen, welche die Trauer seiner Verbannung überwog. Es war ein Zeichen seltener Tugend, dass er sich dem Herrn nicht entfremden ließ, obwohl er den Anblick des Tempels entbehren musste, zu den Opfern nicht kommen konnte und überhaupt der Übungen der Frömmigkeit beraubt war. So dient der Hinweis auf das Haus seiner Wallfahrt zur Steigerung: obwohl aus dem Vaterlande vertrieben, hielt er doch Gottes Gesetz tief im Herzen fest; und obwohl die Bitterkeit der Verbannung ihn hätte niederdrücken können, erhob er sich durch Betrachtung des Gesetzes zu fröhlichem Mut.

V. 55. Herr, ich gedenke usw. Die beiden Aussagen des Verses sind in ungetrenntem Zusammenhang zu lesen. Denn eben weil der Prophet an den Herrn denkt, kann er sagen: Ich halte dein Gesetz. Denn die Verachtung des Gesetzes kommt daher, dass fast niemand auf Gott schaut. Wenn daher die Schrift das unfromme Treiben der Menschen brandmarken will, sagt sie, dass sie Gottes vergessen (Ps. 50, 22; 78, 11; 106, 21). Demgegenüber erinnert David, dass allein das Gedenken an Gott ausreicht, uns in seiner Furcht und in der Beobachtung des Gesetzes festzuhalten. Wenn Gottes Majestät vor unserem Geiste steht, muss ja der Eindruck davon uns demütig machen; so wird dieser Gedanke uns zur Frömmigkeit reizen. Dass der Dichter des Nachts an Gottes Namen gedenkt, sagt er, weil dann fast alle Menschen bewusstlos zu sein pflegen: wenn andere schlafen, begegnet ihm selbst im Schlaf der Herr. Auch unter einem anderen Gesichtspunkt wird auf die Nacht hingewiesen: obwohl ein Zeuge und Mahner zugegen war und Finsternis alles deckte, war David nicht weniger darauf gestimmt, Gottes zu gedenken, als wenn er auf offener Schaubühne sich bewegt hätte.

V. 56. Das ist mir geschehen usw. Dabei denkt der Prophet ohne Zweifel an alle Wohltaten Gottes: anschaulich weist er vor Gottes Angesicht auf dieselben hin. Zugleich will er aber auch daran erinnern, dass Gott durch eine besondere Befreiungstat für sein rechtschaffenes Verhalten Zeugnis gegeben habe. Doch rühmt er sich nicht irgendwelches Verdienstes, - wie denn die Pharisäer alle derartigen Schriftaussagen auf das Verdienst der Werke beziehen. Der Prophet hatte indes keine andere Absicht, als sich in Gegensatz zu den Verächtern Gottes zu stellen, welche alle freudigen Erlebnisse ihren Bemühungen oder dem Glück zuschreiben, Gottes Vorsehung aber mit unfrommem Schweigen bedecken. Darum weist er sich und uns auf Gott und erinnert, dass bei ihm als dem gerechten Richter der Lohn für die Frömmigkeit aufbehalten liegt. Vielleicht schlägt er mit diesem heiligen Rühmen auch die böswilligen Verleumdungen gottloser Leute nieder, die ihm ja, wie wir anderwärts sahen, hart zusetzten.

57 Ich habe gesagt, Herr, das soll mein Erbe sein, dass ich deine Worte halte. 58 Ich flehe vor deinem Angesichte von ganzem Herzen: Sei mir gnädig nach deinem Wort. 59 Ich betrachte meine Wege, und kehre meine Füße zu deinen Zeugnissen. 60 Ich eile und säume mich nicht, zu halten deine Gebote. 61 Der Gottlosen Rotte beraubet mich; aber ich vergesse deines Gesetzes nicht. 62 Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken für die Rechte deiner Gerechtigkeit. 63 Ich halte mich zu denen, die dich fürchten und deine Befehle halten. 64 Herr, die Erde ist voll deiner Güte; lehre mich deine Satzungen.

V. 57. Bei anderer Abteilung der Worte wäre auch die Übersetzung möglich: „Der Herr ist mein Erbe; so habe ich gesagt, damit ich deine Worte halte.“ Der Ausdrucksweise, dass Gott das Erbe der Gläubigen ist, weil er allein zu ihrer völligen Glückseligkeit ausreicht, sind wir schon öfter begegnet. Und wenn er uns zu seinem Eigentum erwählt hat, ist es gewiss billig, dass wir unsererseits in ihm allein ausruhen. Sind wir aber mit ihm allein zufrieden, so wird sich unser Herz auch geneigt fühlen, sein Gesetz zu halten. Ja, es wird dies unsre höchste Freude und unser fester Vorsatz sein, wogegen wir den Lüsten des Fleisches den Abschied geben. Obgleich also diese Auslegung einen guten Gedanken und eine nützliche Lehre ergibt, scheint mir die vorangestellte Übersetzung doch noch einfacher: Ich habe bei mir beschlossen, dass es mein bestes Erbstück sein soll, Gottes Gesetz zu halten. Damit ist das bekannte Wort des Paulus nahe verwandt (1. Tim. 6, 6): „Gottseligkeit ist der größte Gewinn.“ David vergleicht den Gehorsam gegen das Gesetz mit allen Scheingütern, welche die Menschen in ihrer Begehrlichkeit an sich reißen, und will etwa sagen: Mag ein jeder begehren, wozu sein Sinn ihn treibt, und mag er seiner Ergötzungen sich freuen, - ich habe keinen Grund, andere zu beneiden, wenn wir nur dies Teil ungeschmälert bleibt, dass ich an Gottes Wort mich halte.

V. 58. Ich flehe vor deinem Angesichte. David hat nicht abgelassen zu beten, wie es sich geziemte; denn ohne Gebet würde der Glaube müßig daliegen. Dass er vor Gottes Angesicht betet, deutet auf eine vertraute Aussprache, zu welcher Gott seine Knechte zulässt und einlädt. Den Hauptinhalt seiner Bitten gibt er dahin an, dass er im Vertrauen auf das Wort Gott um seine Barmherzigkeit gebeten habe: Sei mir gnädig nach deinem Wort. Wir wollen uns hier also erstlich einprägen, dass wir aus der Trägheit aufwachen und unsern Glauben im Gebet üben sollen. Sodann soll es das Hauptstück des Gebets sein, Gott möge nach seiner unverdienten Güte sich uns persönlich zeigen, unseren Jammer ansehen und unserem Mangel zu Hilfe kommen. Wenn auch der Herr in mannigfacher Weise uns hilft, wie denn unsere Bedürfnisse zahllos sind, soll es doch unser oberster und einziger Wunsch sein, dass er sich unser erbarme, woraus alles Übrige fließt. Damit wir aber unsere Bitten nicht voll Ungewissheit in die Luft ausströmen, sollen wir zum dritten wissen, dass Gott in seinen Verheißungen sich uns freiwillig gleichsam zum Schuldner gibt.

V. 59. Ich betrachte meine Wege. Nachdem der Prophet – dies ist in kurzem der Gedanke – über den Sinn seines Lebens nachgedacht, fasst er allein den Vorsatz, der Lehre des Gesetzes zu folgen. Dabei wirft er einen stillen Seitenblick auf die Irrwege der Menschen, die sich jämmerlich hierhin und dorthin umtreiben und in ihrer Gedankenlosigkeit völlig gehen lassen. Zwar hält ein jeder scharfen Ausblick und wendet allen Eifer an, zu erreichen, was ihm gut dünkt; aber eben in dieser Wahl zeigen sich alle blind. Mit geschlossen Augen stürzen sie kopfüber vorwärts oder verlieren sich sorglos in Eitelkeiten. Sicherlich betrachtet niemand klüglich seine Wege. Darum erklärt sich der Prophet mit gutem Grunde für den richtigen Lebensgrundsatz, dass man aus der Gedankenlosigkeit aufwache, seine Wege bedenke und endlich einmal nüchtern erwäge, was es eigentlich heißt, sein Leben richtig zu ordnen. Zweitens lehrt er dann, dass ein Mensch, der ernstlich sein Leben regeln will, nichts Besseres ergreifen kann, als dass er dem Herrn folge, wohin er ihn ruft. Wären die Menschen in ihrer Gedankenlosigkeit nicht stumpf, so würden sie sicherlich um die Wette darnach laufen, Gott allein zum Lebensführer zu erwählen.

V. 60. Ich eile usw. Jetzt berichtet der Prophet, mit welchem Eifer er dem Herrn seinen Gehorsam angeboten hat. Denn dass er eilt, ist ein Ausdruck für einen glühenden Eifer. Erläuternd und erweiternd fügt er hinzu: uns säume nicht. Wie der Hebräer sagt: „Ich rede und schweige nicht“, - um ein offenes und rückhaltloses Reden zu beschreiben, so besagt auch dieser Doppelausdruck: „Ich eile und säume nicht“, - dass David ohne jeden Verzug und Aufenthalt vorwärts strebt. Und wenn wir unsere Trägheit uns vergegenwärtigen und auf der andern Seite alle Hemmungen, die Satan unaufhörlich auf unsern Weg wirft, so werden wir schließen dürfen, dass David diesen Zusatz nicht ohne Grund gemacht hat. Denn wenn man auch wahrhaftig und von Herzen sich der Gerechtigkeit Gottes zur Verfügung zu stellen wünscht, so wissen wir doch, was Paulus sagt (Röm. 7, 15. 18 f.), dass er nicht leisten konnte, was er wollte. Wenn also auch kein äußeres Hindernis uns aufhalten sollte, sind wir doch innerlich in so viele Widerstände verstrickt, dass nichts schwerer ist, als ungesäumt zur Erfüllung des göttlichen Gesetzes zu eilen. Im Übrigen wollen wir festhalten, dass der Prophet hier vergleichsweise redet im Blick auf solche Leute, die während des größten Teils ihres Lebens im Rückstand bleiben und nicht bloß zögernd und langsam dem Herrn nahen, sondern voller Bedenken überhaupt stehen bleiben, oder die durch viel verschlungene Umwege sich am Vorwärtskommen hindern. Der Prophet war also in der Verehrung Gottes nicht etwa eifriger als Paulus, sondern will mit diesen Worten nur dartun, dass er wacker darnach ringt, seinen Lauf unbehindert zu vollenden. Sein Beispiel lehrt, dass es ein hohles Gerede ist, wenn wir unsere Trägheit mit den Hindernissen, welche die Welt uns bereitet, oder mit der eignen Schwachheit entschuldigen.

V. 61. Der Gottlosen Rotte beraubet mich. Möglich wäre auch die Übersetzung: „Die Stricke der Gottlosen haben mich umfangen.“ In jedem Falle bezeugt der Prophet, dass er trotz aller Versuchungen, mit welchen Satan gegen seine Frömmigkeit anstürmte, in standhaftem Eifer für Gottes Gesetz verharrt habe. Mochten die Gottlosen scharenweise ihn quälen, mochte er durch ihre Launen beraubt und ausgeplündert werden, - er verließ seinen Posten nicht. Auch dies war ein Zeichen höchster Tugend: denn wenn wir schweren Beleidigungen ausgesetzt sind und Gott uns nicht hilft, beginnen wir sofort an seiner Vorsehung zu zweifeln. Scheint doch die Frömmigkeit fruchtlos zu sein. Wir spiegeln uns auch vor, dass wir ein gutes Recht zur Rache hätten. Unter diesen inneren Umtrieben versinkt leicht das Gedenken an Gottes Gesetz. Nach den Worten des Propheten ist aber dies ein Zeichen wahrer Frömmigkeit, wenn der Eifer gegen Gottes Gesetz und das Achten auf seine Gerechtigkeit unverändert bleiben, auch wenn wir den Gottlosen zur Beute ausgesetzt sind und nichts von Gottes Hilfe spüren.

V. 62. Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken. In diesem Vers erklärt der Prophet, dass er den Inhalt des göttlichen Gesetzes nicht bloß gebilligt und von Herzen umfangen, sondern dass er auch seine Dankbarkeit dafür bezeugt habe, dass ihm ein so großes Gut geschenkt ward. Es scheint nun freilich eine sehr gewöhnliche Sache, dass man dem Herrn, der uns in seinem Gesetz belehrt, beistimmt. Denn wer wagt zu widersprechen? Dennoch fehlt viel, dass sie die Welt in allen Stücken zur Gerechtigkeit der Lehre Gottes bekennt. Der Vorwitz unseres Fleisches möchte nur zu gern erhebliche Änderungen oder Abstriche gemacht sehen. Wenn die Menschen die Wahl hätten, wollten sie sich viel lieber dem Regiment eigener Willkür als dem des göttlichen Wortes unterstellen. Der Abstand sowohl der menschlichen Vernunft als auch unserer Begierden vom Gesetz Gottes ist ein sehr großer. Ein Mensch also, der im Gehorsam die himmlische Lehre umfängt und in stiller Freude über sie dem Herrn danksagt, hat einen gewaltigen Fortschritt gemacht. Und der Prophet sagt gar nicht einmal bloß, dass er Gottes Gerechtigkeit preise. Er beschreibt es als ein Zeichen glühender Sehnsucht, dass er mitten in der Nacht dazu aufsteht. Es muss uns schon ein besonders heftiger Eifer treiben, wenn uns eine Sache aus dem Schlaf aufwecken soll. Zugleich besagt dieser Hinweis, dass es nichts mit Prahlerei zu tun hatte, wenn er für das Gesetz Gottes Zeugnis gab: dass er des Herrn Gerechtigkeit pries, tat er für sich und ohne Zeugen.

V. 63. Ich halte mich zu denen usw. Der Ausdruck deutet auf die brüderliche Zusammenstimmung und Liebe, welche die Gläubigen untereinander pflegen. Indem er sich aber auch so wiedergeben ließe, dass der Dichter sich an die Frommen „gebunden“ fühlt, liegt darin noch ein anderer Hinweis: er hat ihnen zum Zeichen der Gemeinschaft die Hand gereicht, so oft er einem von ihnen begegnete; so gehörte er nicht bloß überhaupt zur Zahl der Knechte Gottes, sondern war auch ihr Helfer. Sicherlich wird diese Zusammenstimmung allen Frommen zugemutet, dass sie einander in der Furcht Gottes fördern. Zwischen den Zeilen lesen wir einen Vergleich des heiligen Bundes, in welchem die Gläubigen die Gottesverehrung und Frömmigkeit bei sich pflegen, mit den gottlosen Verbindungen, welche überall in der Welt herrschen. Sehen wir doch, wie unheilige Menschen ihre Schlachtreihen wider Gott aufstellen und sich gegenseitig stärken, die Verehrung Gottes umzustürzen. Dadurch sollten sich die Kinder Gottes umso mehr zur Pflege einer heiligen Einigkeit getrieben fühlen. Als rühmliches Merkzeichen der Frommen wird zuerst angegeben, dass sie den Herrn fürchten, sodann dass sie seine Befehle halten. Dann einerseits ist die Furcht Gottes Wurzel und Ursprung aller Gerechtigkeit; andererseits wird es erst dann ersichtlich, dass wir den Herrn fürchten und verehren, wenn wir unser Leben dem Gehorsam gegen ihn weihen.

V. 64. Herr, ist die Erde ist voll deiner Güte. Hier beschwört der Prophet den Herrn bei seiner unermesslichen Güte, die in der ganzen Welt widerstrahlt, dass er ihm in seiner Herablassung den Schatz himmlischer Weisheit schenken möge: Lehre mich deine Satzungen. Das ist ein sehr nachdrückliches Gebet. Denn die Erinnerung an Gottes Erbarmen ist eine Art von Beschwörung. Der Dichter rühmt nicht bloß, wie er es sonst tut, im Allgemeinen Gottes Güte, weil er seine Freigebigkeit keinem Teil der Welt versagt und sie nicht bloß gegen das menschliche Geschlecht ausübt, sondern sie auch auf die unvernünftigen Lebewesen ausdehnt. Was also will er? Gott soll sein Erbarmen, das er über alle Kreaturen ausgießt, in diesem einen Stück gegen den Dichter offenbaren, dass er im Gesetz Fortschritte mache. Wir sehen daraus, dass er diese Gabe der Erkenntnis für einen unvergleichlichen Schatz hielt. Ist es aber ein so hervorragendes Zeichen der Gunst Gottes, dass er uns mit dem Geist der Erkenntnis begabt, so verrät sich in unserm Unglauben unsere Entfremdung von ihm. Auch dies müssen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, was wir anderwärts sagten, dass es eine schamlose Gleichgültigkeit sein würde, wollten wir uns mit einem oberflächlichen Geschmack von der himmlischen Lehre begnügen und auf Fortschritt nicht sehr bedacht sein, während doch ein so hervorragender Lehrer der Gemeinde immer so begierig und brennend darnach strebte, mehr zu lernen. Zudem steht fest, dass hier nicht von der äußeren Lehre die Rede ist, sondern von der verborgenen Erleuchtung des Verstandes, welche eine Gabe des Geistes ist. Das Gesetz lag vor allen ohne Unterschied aufgeschlagen. Aber der Prophet weiß, dass dies ohne Erleuchtung durch den heiligen Geist nicht viel Nutzen schaffen wird. Darum betet er um wirksame Belehrung.

65 Du tust Gutes deinem Knechte, Herr, nach deinem Wort. 66 Lehre mich gutes Urteil und Erkenntnis; denn ich glaube deinen Geboten. 67 Ehe ich gedemütiget ward, irrete ich; nun aber halte ich dein Wort. 68 Du bist gütig und freundlich. lehre mich deine Satzungen. 69 Die Stolzen erdichten Lügen über mich; ich aber halte von ganzem Herzen deine Befehle. 70 Ihr Herz ist dick wie Schmer; ich aber habe Lust an deinem Gesetze. 71 Es ist mir lieb, dass du mich gedemütiget hast, dass ich deine Satzungen lerne. 72 Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viel tausend Stück Gold und Silber.

V. 65. Du tust Gutes deinem Knechte. Nach manchen Auslegern soll der Prophet hier bezeugen, dass er jegliche Behandlung, die Gott ihm angedeihen lässt, als gut annimmt, da er sie als heilsam erkennt. Da er aber ausdrücklich an das Wort der Verheißung erinnert, zweifle ich nicht, dass er die Treue rühmt, mit welcher Gott ihm die zugesagte Gnade wirklich geschenkt hat. Er erklärt, dass er in der Tat und durch den Erfolg erfahren habe, wie Gott wahrhaftig ist und seine Knechte nicht mit Worten abspeist. So stellt er Gottes Verheißungen in die Mitte: denn sie sind zwar nicht der letzte Quell, wohl aber der Kanal, aus welchem Gottes Wohltaten uns zufließen. Sicherlich ist Gottes unverdiente Güte der einzige Grund, im dessentwillen er freundlich mit uns handelt: aber wir können von ihm nichts erhoffen, bis er uns mit seinem Wort begegnet. Nachdem aber David bekannt hat, dass er aus Erfahrung weiß, wie wahrhaftig Gott in seinen Verheißungen ist, fügt er den Gebetswunsch hinzu, den wir im vorigen Verse lasen, dass er in der rechten Erkenntnis wachsen möge. Nur etwas anderer Worte bedient er sich jetzt. Er erbittet gutes Urteil und Erkenntnis. Man könnte sogar übersetzen: „Guten Geschmack“, was sich freilich auf das innere Verständnis bezieht. Ohne Zweifel ist es Davids Anliegen, dass ihm mit der Erkenntnis ein gesundes Unterscheidungsvermögen geschenkt werden möge. Um den Gedanken vollständig zu fassen, müssen wir aber das zweite Versglied hinzunehmen: denn ich glaube deinen Geboten, d. h. ich nehme mit Freuden an, was mir im Gesetz vorgeschrieben wird. In diesem letzten Satz erklärt also David, dass er sich lernbegierig und folgsam zur Verfügung stellt. Nachdem ihm aber durch die Führung des heiligen Geistes diese Neigung zum Gehorsam geschenkt war, bittet er, dass als weitere Gaben ein gesundes Urteil und rechte Erkenntnis hinzugefügt werden. Wir ziehen daraus den Schluss, dass ein Mensch, der sein Leben recht führen will, mit ernstlicher Bereitschaft, sodann aber auch mit kluger Einsicht begabt sein muss. Gewiss war es ein Ausfluss frommen Eifers, dass der Prophet sich in Ehrfurcht und Glauben an Gottes Gebote hielt: aber er fürchtet nicht ohne Grund, dass er ohne die rechte Überlegung einen Irrweg einschlagen könnte. Wir sollen also lernen, nachdem Gott unsre Herzen zum Gehorsam gegen sein Gesetz gelenkt hat, von ihm zugleich die Weisheit zu erbitten, die unsern Eifer in der rechten Bahn hält.

V. 67. Ehe ich gedemütigt ward, irrete ich. Der Prophet beschreibt mit seinem eigenen Beispiel den Leichtsinn und die Widerspenstigkeit des ganzen Menschengeschlechts: wir folgen dem Herrn niemals, wenn er uns nicht mit Schlägen zwingt. Gewiss ist es erstaunlich, dass wir in unserer Aufsässigkeit uns weigern, dem Herrn zu gehorchen: aber die Erfahrung zeigt, dass wir immer übermütig werden, wenn Gott nachgiebig mit uns verfährt. Wenn beim Propheten Gottes das widerspenstige Wesen mit Gewalt gebessert werden musste, wird bei uns solche Erziehung noch nötiger sein. Der Anfang des Gehorsams ist die Abtötung des Fleisches, der sich von Natur jeder entzieht. Darum dürfen wir uns nicht wundern, wenn Gott uns durch mancherlei Demütigungen zur Ordnung zwingt und uns immer wieder zu dergleichen Züchtigungen zurückzieht: denn wenn auch das Fleisch gebändigt scheint, schlägt es doch immer von neuem aus. Gott züchtigt uns nun in verschiedener Weise: die einen demütigt er durch Armut, andere durch Schmach, andere durch Krankheiten, andere durch häusliches Missgeschick, wieder andere durch beschwerliche und harte Arbeiten; so passt er den verschiedenen Lastern seine Heilmittel an. Jetzt verstehen wir die nützliche Lehre, welche dieses Bekenntnis in sich birgt. Gewiss redet der Prophet von sich selbst, wie auch Jeremia (31, 18) sich selbst als ein ungebändigtes Kalb bezeichnet: aber er stellt uns damit ein Bild des ausgelassenen Leichtsinns vor Augen, der uns allen angeboren ist. Es wäre nun gar zu großer Undank, wollten wir durch die Frucht, welche die Züchtigung uns bringt, nicht deren Bitterkeit uns versüßen und lindern lassen. Solange wir uns gegen Gott auflehnen, gibt es ja keine jämmerlicheren Geschöpfe, als wir sind. Dies ist auch der einzige Beweggrund, um dessentwillen Gott durch die Unterweisung seiner Schläge uns zum Gehorsam beugt und leitet. So lehrt uns der Prophet durch sein Beispiel, dass wir uns mit allem Ernst wenigstens dann erweichen lassen sollen, wenn Gott unser hartes Wesen zerbricht und dadurch zeigt, dass er uns zu Jüngern haben will; wir sollen darum den Trotz ablegen und das Joch, welches er uns auflegt, willig tragen. Der nächste Vers bedarf keiner Erläuterung, weil er ungefähr denselben Gedanken enthält wie der letzte (V. 64) des vorigen Abschnitts. David beschwört den Herrn bei seiner Güte, dass er ihm nicht Überfluss an Reichtümern, Ehren und Genüssen, sondern Fortschritt in der Erkenntnis des Gesetzes schenke. Während insgemein die ganze Welt Gottes Guttätigkeit anfleht und sich eine freigebige Behandlung wünscht, je nachdem die Maßlosigkeit des Fleisches dem einen diesen, dem andern jenen Wunsch eingibt, versichert David, dass es ihm reichlich genügt, wenn er in diesem einen Stück, an welchem beinahe jeder verächtlich vorübergeht, Gottes Freigebigkeit erfahren darf.

V. 69. Die Stolzen erdichten Lügen über mich. David bezeugt, dass er seinen Sinn nicht ändert, wenn auch die Gottlosen seine Handlungen zum Bösen deuten und ihn mit diesem Kunstgriff vom Streben nach der Wahrheit abbringen wollen. Es ist dies eine harte Versuchung, wenn wir ohne unsere Schuld uns in Schmach und Schande hineingerissen und nicht bloß mit Vorwürfen überschüttet sehen, sondern wenn verbrecherische Menschen uns unter einem augenfälligen Schein ganz allgemein verhasst machen. Viele sonst rechtschaffene und zu einem ehrbaren Leben geneigte Menschen sehen wir gleiten und fallen, wenn sie es erleben müssen, dass man ihnen in so unwürdiger Weise lohnt. Umso mehr sollen wir das Beispiel des Propheten uns vor Augen stellen, damit uns die Bosheit der Menschen in keiner Weise erschüttere. Mag man vor Menschen uns den guten Ruf nehmen, so wollen wir doch unentwegt Gottesfurcht im Herzen pflegen; es soll uns genug sein, dass vor Gottes Richterstuhl unsere Frömmigkeit leuchtet, wenn auch die Menschen mit ihren Verleumdungen sie entstellen. Denn solange wir uns von menschlichen Urteilen abhängig machen, werden wir, wie schon gesagt wurde, unaufhörlich schwanken. Weiter aber wissen wir, dass auch unsere glänzendsten Werke vor Gott nichts mehr gelten werden, wenn wir bei ihnen auf den Beifall der Welt schauen. Darum sollen wir lernen, unsere Augen zu den Zuschauern im Himmel aufzuheben und verkehrte Reden zu verachten. Mögen die Kinder dieser Welt sich ihres Lohnes freuen; uns ist eine Krone nicht auf Erden, sondern im Himmel aufbewahrt. Zeitliche Schmach wollen wir geduldig tragen und die Schlingen abschütteln, mit denen Satan uns aufzuhalten trachtet. – Dass die Stolzen Lügen erdichten, ließe sich genauer übersetzen: sie weben oder spinnen Lügen. In diesem seinem Bilde wird beschrieben, dass man den Propheten nicht bloß mit groben Nachreden schmähte, sondern ihm nicht ohne Kunst und Schein Übeltaten in einer Weise andichtete, dass er als ein ganz schwarzer Mensch erscheinen musste. Alle solche Gewebe aber zerreißt er mit unbesiegter Standhaftigkeit, riegelt sein Herz zu und bewahrt Gottes Gesetz in treuer Hut. Nicht ohne Grund bezeichnet er seine Feinde als stolze Leute: es waren also nicht Menschen aus dem Volk, sondern vornehme Herren, die in aufgeblasenem Vertrauen auf Ehrenstellung und Reichtum umso kühner wider ihn anstürmten. Seine Worte lassen deutlich ersehen, dass sie in ihrem Hochmut auf ihm herumtraten, als wäre er ein toter Hund. Dem entspricht auch, was der nächste Vers sagt: Ihr Herz ist dick wie Schmer. Dies ist ein Laster, dem man bei den Verächtern Gottes nicht selten begegnet. Denn woher kommt es, dass verbrecherische Menschen gegen die besten Knechte Gottes so frech anstürmen, obgleich doch das Gewissen sie im Innern beißt? Ihr Herz ist verfettet, so werden sie in ihrer Verstockung stumpf und rasend. Demgegenüber zeigt der Prophet einen wunderbaren und äußerst lobenswerten, hohen Mut, indem er alle seine Freude in Gottes Gesetz sucht. Dieses ist seine Speise, woran er sich bis zur Sättigung erquickt. So konnte es nur sein, weil sein Herz von allen sündhaften Ergötzungen frei und wohl gereinigt war.

V. 71. Es ist mir lieb, dass du mich gedemütiget hast. Dieser Satz bestätigt, was wir schon hörten, dass Gottes Ruten eine nützliche Erziehung zu sanftem Gehorsam bewirken. In den Worten liegt ein Gedächtnis des Dichters, dass auch er von dem sündhaften Widerspruchsgeist, an welchem das ganze Menschengeschlecht leidet, nicht frei war. Nur unter dieser Voraussetzung hat es ja einen Sinn, die Förderung zur Gelehrigkeit zu rühmen, welche ihm die Demütigung gebracht hat. Keiner von uns beugt freiwillig dem Herrn seinen Nacken, bis dieser mit seinem Hammer das natürliche, harte Wesen zerschlägt. Es ist aber der Mühe wert, uns die Züchtigungen Gottes zu versüßen, indem wir immer wieder die Früchte schmecken, die uns aus ihnen erwachsen. So werden wir, die wir so widerspenstig und mürrisch sind, uns zur Ordnung zwingen lassen. Auch der letzte Vers bedarf keiner Erläuterung, weil er einen an sich klaren Gedanken enthält, der uns in diesem Psalm schon häufig begegnete: der Dichter zieht Gottes Gesetz allen Reichtümern der Welt vor, während die meisten Menschen sich durch eine ungesunde Leidenschaft für diese jämmerlich um den Verstand bringen lassen. Und er stellt nicht bloß Gottes Gesetz mit seinem irdischen Gut auf eine Stufe, sondern erklärt, dass es ihm wertvoller ist als ein ungeheurer Überfluss.

73 Deine Hand hat mich gemacht und bereitet; unterweise mich, dass ich deine Gebote lerne. 74 Die dich fürchten, sehen mich und freuen sich; denn ich hoffe auf dein Wort. 75 Herr, ich weiß, dass deine Gerichte recht sind, und hast mich treulich gedemütiget. 76 Deine Gnade müsse mein Trost sein, wie du deinem Knecht zugesagt hast. 77 Lass mir deine Barmherzigkeit widerfahren, dass ich lebe; denn ich habe Lust zu deinem Gesetz. 78 Ach, dass die Stolzen müssten zuschanden werden, die mich mit Lügen niederdrücken; ich aber rede von deinen Befehlen. 79 Ach dass sich müssten zu mir halten, die dich fürchten und deine Zeugnisse kennen! 80 Mein Herz bleibe rechtschaffen in deinen Satzungen, dass ich nicht zuschanden werde.

V. 73. Deine Hand hat mich gemacht usw. Dieser Erinnerung trug für den Propheten viel dazu bei, seine Hoffnung auf den Gewinn der Gnade zu stärken, um welche er bat. Denn wenn wir Gottes Gebilde und Werk sind und er uns nicht bloß wie den unvernünftigen Tieren Bewegung und Leben, sondern auch das Licht der Einsicht und Vernunft gegeben hat, dürfen wir daraus die Zuversicht schöpfen, dass er uns zum Gehorsam gegen sein Gesetz leiten werde. Doch redet der Dichter den Herrn nicht so an, als wäre er ihm etwas schuldig; aber weil er sein angefangenes Werk nicht im Stich lassen wird, bittet er um neue Gnade, durch welche Gott fortführen möge, was er begonnen hat. Denn auch darum bedürfen wir der Stütze des Gesetzes, weil die ganze Fähigkeit unseres Verstandes verderbt ist, so dass wir ohne Belehrung von außen nicht wissen, was recht ist. Und noch viel mehr lässt sich unsere Blindheit und Stumpfheit daraus ersehen, dass solche Lehre nichts nützt, bis Gott unsere Seele innerlich erneuert. So wollen wir festhalten, was ich schon sagte, dass jedes Gebet um die Gabe des Verständnisses der Gebote Gottes eine Verurteilung der Blindheit aller Sterblichen enthält, die allein durch die Erleuchtung des heiligen Geistes geheilt werden kann.

V. 74. Die dich fürchten, sehen mich usw. Dieser Vers hängt entweder eng mit dem vorigen zusammen, oder erstreckt sich weiter auf andere beliebige Wohltaten Gottes. Mag aber die Rede nur die eben genannte, besondere Gabe anrühren oder ganz allgemein zu verstehen sein, sie rühmt die Wohltaten Gottes, welche der Dichter erfahren hat, unter dem Gesichtspunkt so hoch, dass die Freude darüber ein gemeinsamer Besitz aller Gottesverehrer wird. Denn als Grund der Freude gibt er nicht bloß dies an, dass er auf den Herrn hoffte, sondern dass er augenfällig von ihm gerettet und durch viele Wohltaten erhoben wurde, so dass er einen reichen Lohn seiner Hoffnung davontrug. Nun ruft Gott alle seine Knechte insgemein zur Hoffnung auf, so oft er irgendeinem von ihnen einen Erweis seiner Gnade schenkt; er bezeugt damit allen, dass er in seinen Verheißungen wahrhaftig ist, und dass Leute, die auf ihn hoffen, keine Enttäuschungen zu fürchten brauchen.

V. 75. Herr, ich weiß, dass deine Gerichte recht sind. Gemeint sind die Strafen, durch welche Gott die Menschen zur Umkehr lockt. Das erste Satzglied spricht im Allgemeinen aus, dass Gott seine Gerichte mit Maßen übt und dadurch gottlosen Leuten den Mund stopft, die etwa über Grausamkeit und Strenge klagen. In Gottes Gerichten leuchtet eine Gerechtigkeit, die uns zu dem Geständnis zwingt, dass es für die Menschen nichts Besseres gibt, als in dieser Weise zu sich selbst gebracht zu werden. Als Beispiel stellt dann der Dichter seine eigene Person hin: und hast mich treulich gedemütiget. Denn auch Heuchler erkennen zuweilen Gottes Gerechtigkeit lobend an, wenn er andere züchtigt, beschweren sich auch niemals über seine Strenge, wenn er nur sie verschont. Wahre Frömmigkeit aber legt einen strengen Maßstab nicht bloß an fremde, sondern auch an die eigne Sünde. Dass der Prophet um die Gerechtigkeit der Gottesgerichte „weiß“, ist ein Zeichen ernster Selbstprüfung. Denn wenn er nicht seine Schuld rechtschaffen bedacht hätte, könnte er nicht in gewisser Erfahrung in seinen Demütigungen Gottes Gerechtigkeit ergreifen.

V. 76. Dein Gnade müsse mein Trost sein. Obgleich der Dichter bekennt, dass er mit Recht gedemütigt wurde, wünscht er doch, dass seine Traurigkeit durch einigen Trost gemildert werde. Er fleht Gottes Barmherzigkeit an, die ihm das Hilfsmittel für seine Leiden bereiten muss. Dies lässt ersehen, dass nichts den Schmerz der Gläubigen austilgen kann, bis sie spüren, dass sie einen gnädigen Gott haben. Weil nun Gott seine Barmherzigkeit im Worte anbietet, birgt schon dieses einen nicht geringen Trost zur Heilung aller Schmerzen. Es ist aber jetzt von dem gegenwärtig wirksamen Erbarmen die Rede, in welchem Gott tatsächlich die im Wort versprochene Gunst beweist. Der Prophet hegte im Vertrauen auf Gottes Verheißung schon eine gewisse Freude im Herzen, weil er auf die Gnade hoffen durfte. Indessen wäre unsre Hoffnung eitel Täuschung, wenn nicht Gott endlich als Befreier erschiene. Darum bittet der Dichter, dass Gott ihm erfülle, was er versprochen hat. Er will etwa sagen: Herr, da du verheißen hast, dass du in deiner Güte zur Hilfe für mich bereitstehen willst, so gibt jetzt diesem deinem Worte den Vollzug. Nun wollen wir festhalten, woran ich anderwärts schon erinnert habe, dass man guten Grund hat, dem Herrn sein Wort vorzuhalten: es wäre eine Frechheit, wollte ein Sterblicher vor Gottes Angesicht kommen, dem er nicht seinerseits den Weg eröffnet hätte. Mit dem Zusatz: wie du deinem Knecht zugesagt hast – nimmt der Dichter nicht etwa Gottes Barmherzigkeit für sich allein in Anspruch, als hätte er eine bloß ihm geltende Zusage empfangen; vielmehr bezieht er, was Gott seiner ganzen Gemeinde verheißen hat, auch auf sich, wie dies der Natur des Glaubens entspricht. Denn wenn mir nicht feststeht, dass ich einer von denen bin, die Gott anredet, so dass seine Zusagen auch mich angehen, wird sich meine Seele nie dazu aufschwingen, ihn anzurufen. Der nächste Vers wiederholt und bekräftigt mit wenig veränderten Worten ungefähr den gleichen Gebetswunsch. Vorher hatte der Dichter ausgesprochen, dass nicht anders als durch Gottes Barmherzigkeit ihm die Traurigkeit verscheucht und neue Freude geschenkt werden könne. Jetzt erklärt er, dass er nur leben könne, wenn er mit Gott versöhnt sei. So unterscheidet er sich von unheiligen Menschen, welche diese Sorge nicht groß anficht, ja welche von ihrem vergnüglichen Treiben nicht abstehen, obgleich Gott ihr Feind ist. Er behauptet mit Nachdruck, dass sein Leben ein Tod sei, solange er nicht seinen gnädigen Gott kenne. Sobald aber Gottes Barmherzigkeit ihm aufleuchte, werde er aus dem Tode zum Leben wiederhergestellt. So gibt er zu verstehen, dass er der Zeichen väterlicher Gnade Gottes eine Zeitlang beraubt war: denn dass ihm Barmherzigkeit widerfahre, kann er nur wünschen, wenn sie ihm jetzt fern ist. Um aber zu erlangen, was er bittet, fügt er hinzu: Ich habe Lust zu deinem Gesetz. Denn nur so durfte er hoffen, dass Gott ihm barmherzig sein werde. Zudem fühlt ja niemand den Wert der göttlichen Gnade, der nicht in ihr allein das höchste Glück sucht und unbedenklich alle, die sich von ihr trennen, für elend und verflucht erklärt, - was der Prophet aus dem Gesetz gelernt hatte.

V. 78. Ach, dass die Stolzen müssten zuschanden werden! Bemerkenswert ist, weshalb der Dichter darauf vertrauen kann, dass sich Gott wider seine Feinde stellen werde: weil sie ihn mit Lügen niederdrücken. Dies deutet auf die trügerischen Nachstellungen, mit welchen verbrecherische Menschen David zu verderben suchten. Wir schließen daraus, dass jeder ungerechte Angriff uns den geraden Weg zu Gottes Schutz weisen soll. Auch darf die Frechheit der Feinde uns nicht außer Atem bringen: der Herr wird alle ihre Anmaßungen zurückwerfen und mit Schmach zu Boden schlagen; sie sollen beschämt zum Beispiel für andere dafür dastehen, dass nichts lächerlicher ist, als schon vor dem Sieg Triumphlieder zu singen. Das zweite Satzglied ließe sich auch wiedergeben: „Ich sinne über deinen Befehlen.“ Bleibt man aber bei der Übersetzung: Ich rede von deinen Befehlen, so ist die Meinung des Propheten, dass er ein Herold der göttlichen Gnade sein will, sobald er den Sieg gewonnen hat. Denn dass er von Gottes Befehlen redet, besagt eben, dass er auf Grund des Gesetzes sich darüber aussprechen will, wie Gott ein treuer Hüter der Seinen, ein zuverlässiger Erlöser und ein gerechter Richter ist. Damit hängt auch der nächste Vers zusammen: die Rettung, welche dem Dichter zuteil wird, soll für alle Frommen als ein gemeinsames Denkmal dastehen. Er will sagen: eine Zeitlang konnte meine Lage, welche den Verworfenen den Kamm schwellen ließ, fromme Seelen entmutigen, jetzt aber sollen sie neuen Mut fassen und die Augen auf ein fröhliches Schauspiel richten. Die Beschreibung, durch welche die Gläubigen ausgezeichnet werden, deckt das Wesen wahrer Frömmigkeit auf: die sich fürchten und deine Zeugnisse kennen. Diese beiden Stücke müssen verbunden sein. Mögen abergläubische Leute sich mit ihrer Gottesfurcht brüsten, so ist dies lediglich hohler Schein. Wer sich in seinen eigenen Erdichtungen ermüdet, wendet vergebliche Mühe auf. Nur ein Gehorsam, den man dem Herrn nach seiner Vorschrift leistet, kommt vor ihm in Anrechnung. Wahre Religion und Verehrung Gottes erwächst also aus dem Glauben: wer dem Herrn in rechter Weise dienen will, muss in seiner Schule sich belehren lassen.

V. 80. Mein Herz bleibe rechtschaffen usw. Hatte der Dichter zuvor um ein gesundes Urteil gebetet, so trägt er jetzt den Wunsch vor, dass ihm eine rechtschaffene Stimmung des Herzens geschenkt werde. Wir werden hier an die beiden wichtigsten Fähigkeiten der menschlichen Seele erinnert. Wer darum bittet, dass der heilige Geist seinen Verstand erleuchte und sein Herz zum Gehorsam gegen das Gesetz bilde, spricht damit deutlich aus, dass er beides für verkehrt und verderbt hält. Damit fällt alles dahin, was die Papisten vom freien Willen schwätzen. Bittet doch der Prophet nicht bloß darum, dass Gott etwa seinen schwachen Willen unterstützen möge, sondern erklärt rundweg, dass ein rechtschaffenes Herz vom Geist gegeben werden müsse. Wer also wirkliche Fortschritte im Verständnis des göttlichen Wortes gemacht hat, möge in diesem Doppelgebet sich üben. Außerdem können wir hier lernen, wie man das Gesetz in Wahrheit hält. Nur zu viele halten sich bereits für vollkommen, wenn sie obenhin und in äußerer Folgsamkeit ihr Leben dem Gesetz Gottes anpassen. Hier aber verkündigt der Geist Gottes, dass des Herrn Wohlgefallen allein auf einem Gehorsam ruht, der aus einem rechtschaffenen Herzen kommt. Ein solches bildet den Gegensatz zu einem zwiespältigen oder heuchlerischen Herzen. Es gilt, ohne alle Täuscherei dem Herrn in Wahrheit ein reines Herz darzubringen. Wenn der Dichter endlich hofft, dass er dabei nicht zuschanden werde, so gibt er zu verstehen, dass eben dieser Ausgang aller Stolzen wartet, die Gottes Gnade verachten und sich auf die eignen Kräfte stützen, sowie aller Heuchler, die eine Zeitlang mit schönem Schein sich brüsten. Der Sinn ist also: wenn Gott uns nicht mit seinem Geist regiert und bei unserer Pflicht festhält, so dass unser Herz rechtschaffen wird in seinen Rechten, droht Schmach und Schande, auch wenn unser schamloses Wesen eine Zeitlang verborgen bleibt und die Menschen uns gar loben und bewundern.

81 Meine Seele schmachtet nach deinem Heil; ich hoffe auf dein Wort. 82 Meine Augen schmachten nach deinem Wort, und sagen: Wann tröstest du mich? 83 Denn ich bin wie ein Schlauch im Rauch; deiner Satzungen vergesse ich nicht. 84 Wie lange soll dein Knecht warten? Wann willst du Gericht halten über meine Verfolger? 85 Die Stolzen graben mir Gruben, was nicht nach deinem Gesetze ist. 86 Deine Gebote sind eitel Wahrheit. Sie verfolgen mich mit Lügen; hilf mir! 87 Sie haben mich schier umgebracht auf Erden; ich aber verlasse deine Befehle nicht. 88 Mache mich lebendig durch deine Gnade, dass ich halte die Zeugnisse deines Mundes.

V. 81. Meine Seele schmachtet nach deinem Heil. Die Meinung des Propheten ist: obgleich er unter langdauernden, aufreibenden Mühen kein Ende seines Elends absah, vermochte doch weder Beschwerde noch Überdruss ihn zu brechen und von der steten Anhänglichkeit an Gott abzubringen. Um dies klarer zu fassen, müssen wir vom zweiten Versglied ausgehen, welches offenbar zur Erläuterung beigefügt wurde: Ich hoffe auf dein Wort. Diese Hoffnung ist das Hauptstück; aber indem er ausdrücken will, wie unermüdlich und standhaft er an derselben festhält, schickt der Dichter voraus, dass er allen Überdruss, dem andere erliegen, niedergekämpft habe. Es gibt ja Leute, welche begierig Gottes Verheißungen an sich reißen, deren glühender Eifer aber bald verfliegt oder wenigstens durch Unglück erstickt wird. Dass die Seele „schmachtet“, will nicht besagen, dass sie verschmachtet. Der Ausdruck deutet auf eine innere Dulderkraft, welche dem Herzen geheime und unaussprechliche Seufzer eingibt, wenn auch alles Leben geschwunden scheint. Dies Schmachten bildet den Gegensatz zu einer vergnügten Stimmung, die nicht lange aushält. Der nächste Vers ist nahe verwandt, indem er von den Augen aussagt, was wir soeben von der Seele hörten. Der Unterschied ist nur der, dass an die Stelle der Sehnsucht nach Heil das Verlangen nach Gottes Wort tritt. Das Heil oder die Rettung ist die tatsächliche Hilfe, während das Wort uns noch in der Schwebe der Erwartungen hält. Aber wenn auch Gott nicht sofort offensichtlich leistet, was er verspricht, so bietet er uns doch das Heil irgend anders als im Wort: darum lernt man auch auf keine andere Weise hoffen, als indem man auf das Wort sich stützt. Das Wort geht also in der Reihenfolge dem Heil voran, ja es ist der Spiegel, in welchem uns dasselbe offenbar wird. Wenn darum der Prophet nach dem Heil sich sehnt, sagt er mit Recht, dass er sich an das Wort gehängt habe, bis ihm die Augen versagten. Hier offenbart sich inmitten der Schwachheit des Fleisches die wunderbare und unglaubliche Kraft der Geduld: erschöpfte und von aller Kraft verlassene Menschen suchen das in Gott verborgene Heil. Endlich weist der Prophet darauf hin, dass er nicht ohne Grund fast zusammenbrach, - damit niemand ihn für weichlich und wankelmütig halte. Dass er Gott fragen muss: „Wann tröstest du mich?“ – ist doch gewiss ein Zeichen, dass er lange gleichsam ausgestoßen und verlassen war.

V. 83. Denn ich bin wie ein Schlauch usw. Die Absicht dieses Verses ist deutlich: obwohl der Dichter einer harten Prüfung ausgesetzt und tödlich verwundet war, ließ er sich doch von der Furcht Gottes nicht abbringen. Der Vergleich mit einem in den Rauch gehängten Schlauch oder einer Blase beschreibt, wie er durch die unablässige Hitze der Leiden gleichsam ausgedörrt war. Es muss ihn also eine mehr als gewöhnliche Traurigkeit hässlich und dürr gemacht haben. Das Bild scheint aber nicht bloß auf eine harte, sondern auch auf eine langsame Qual zu deuten. Wir sollen also wissen, dass eine lange Reihe von Schmerzen war, welche den Propheten durch lang währendes Leid hundertmal hätte aufzehren müssen, wenn nicht Gottes Wort seine Stütze gewesen wäre. Das erst ist der Erweis wahrer Frömmigkeit, dass wir auch in der tiefsten Bedrängnis nicht aufhören, uns dem Herrn zu unterwerfen.

V. 84. Wie lange soll dein Knecht warten? Buchstäblich: „Wie viel sind die Tage deines Knechtes?“ Manche Ausleger deuten dies als eine allgemeine Klage über die Kürze des menschlichen Lebens, wie wir einer solchen mehrmals in den Psalmen und noch öfter im Buch Hiob begegnen. Dann erst würde das besondere Gebet sich anschließen, dass Gott über die Feinde Gericht halten möge. Ich greife dagegen die beiden Glieder des Verses zusammen und beschränke sie irgendwie auf Davids Bedrängnisse: Herr, wie viel Tage sollen nach deinem Beschluss es sein, in welchen du deinen Knecht der grausamen Wut seiner Verfolger aussetzen willst? In diesem Sinne spricht die Schrift öfter von Tagen, z. B. von den Tagen Ägyptens, Babyloniens oder Jerusalems (Hes. 30, 9; Ps. 137, 7); anderwärts ist von der Zeit der Heimsuchung die Rede (Jes. 10, 3). „Tage“ in der Mehrzahl deutet auf eine bestimmte und festgesetzte Zeit, wie wirk anderwärts von den Tagen oder Jahren des Taglöhners hören (Hiob 14, 6; Jes. 16, 14); David klagt also nicht im Allgemeinen über die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens, sondern über die ihm verordneten Kämpfe, die er nach seiner Meinung schon zu lange hatte erdulden müssen und deren Ende herbeizusehnen er Grund hat. Wenn er aber mit Gott über seine Beschwerden verhandelt, so tut er dies doch nicht mit frechem und widerspenstigem Geist; indem er fragt, wie lange er noch leiden müsse, bittet er demütig, dass Gott seine Hilfe nicht aufschiebe. Dass er ihn aber durch sein Gebet zur Rache aufruft, will richtig verstanden sein, wenn anders diese Bitte erlaubt sein soll: er begehrt nur eine solche Rache, wie sie dem Herrn eigentlich ziemt. Sicher hat er alle sündhaften Stimmungen des Fleisches abgelegt und in reinem, heiligem Eifer Gottes Gericht erbeten. Nur dies wünscht er im Allgemeinen, dass Gott seine Hand ausstrecken und ihn von ungerechten Angriffen befreien möge, nicht dass er seine Feinde ins Verderben stoße. Er hat genug, dass Gott ihm als Helfer erscheint.

V. 85. Die Stolzen graben mir Gruben. Der Dichter klagt, dass die Feinde ihn mit verschlagenem Trug umgeben; nicht bloß mit offener Gewalt und Schwertern wüteten sie zu seinem Verderben, sondern ergriffen böswillig, hinterlistig und mit heimlichen Künsten jede Gelegenheit, ihn umzubringen. Zur Erregung des Mitleids fügt er hinzu: was nicht nach deinem Gesetze ist. Gott wird ja zur Hilfe desto geneigter sein, wenn er sieht, dass man außer dem Wohlergehen der Seinen auch sein Gesetz angreift. Dabei bezeugt David seine Unschuld: er hat nichts Derartiges um sie verdient und geduldig sich zurückgehalten trotz aller ihrer Machenschaften; er würde nichts unternommen haben, wovon er wusste, dass es gegen Gottes Gesetz streitet. Im nächsten Vers bekräftigt er von neuem, dass er sich nicht durch allerlei Gedanken umtreiben ließ, auf wie mannigfache Weise man ihn auch quälen mochte. Denn im Vertrauen auf Gottes Wort zweifelte er nicht an seiner Hilfe. Zuerst spricht er aus, mit welchem Schild er sich gegen alle Anläufe gedeckt hat. Er hat sich gesagt, dass die Gläubigen unter Gottes Führung nicht anders als glücklich kämpfen können: weil sie ihre Rettung auf Grund seines Wortes erhoffen, brauchen sie an derselben durchaus nicht zu zweifeln. Dies ist der Sinn des Satzes: Deine Gebote sind eitel Wahrheit. Wer also auf Gottes Wort sich stützt, ist außer Gefahr; diese Stütze hält uns aufrecht und mutig. Das zweite Versglied klagt über die schon dargelegte Treulosigkeit der Feinde. Dass sie mit Lügen umgehen, besagt, dass sie sich um Recht und Billigkeit nicht kümmern. Darauf gründet der Dichter auch seine Zuversicht auf Befreiung: denn ist Gottes eigentliches Amt, ungerecht unterdrückten, armen Menschen zu helfen.

V. 87. Sie haben mich schier umgebracht usw. David wiederholt mit wenig abweichenden Worten, was er schon gesagt hat: wie hart er auch angefochten wurde, er blieb doch auf seinem Posten und wich nicht von der Frömmigkeit. Für vollkommene Leute wäre es genug, wenn dies einmal gesagt würde; denken wir aber an unsere Schwachheit, so werden wir diese wiederholte Belehrung nicht für überflüssig erachten. Vergessen wir doch Gottes Gesetz nicht bloß unter der Erschütterung der heftigsten Kämpfe, - die meisten wanken schon, ehe der Kampf noch beginnt. Umso bemerkenswerter erscheint die wunderbare Stärke des Propheten: obgleich er halbtot war, ließ er doch nicht ab, durch beständige Betrachtung des Gesetzes seine Seele zu erquicken. Mit gutem Grunde weist er auch darauf hin, dass er seine Erfahrungen auf Erden gemacht. Darin liegt ein verborgener Gegensatz gegen den Himmel: mochten sich auf Erden von allen Seiten die Schrecken des Todes herandrängen, - er hob seinen Geist nach oben; denn wenn der Glaube zum Himmel dringt, wird es leicht sein, aus der Verzweiflung empor zu tauchen. Auch der letzte Vers enthält nichts Neues. Denn zuerst gründet David sein Leben auf Gottes Barmherzigkeit, nicht bloß, weil er sich der menschlichen Gebrechlichkeit bewusst war, sondern weil er täglich sich mehrfachen Todesgefahren ausgesetzt sah, ja ohne Gottes Kraft schon entseelt hätte daliegen müssen. Wird er aber dem Leben wiedergegeben sein, so verspricht er, sich dankbar zu beweisen, und zwar nicht bloß mit der Zunge, sondern mit dem ganzen Leben. Jede Durchhilfe, mit der uns Gott aus Gefahren befreit, ist ein Geschenk neuen Lebens. Darum ist es billig, die verlängerte Zeit, die er uns noch gibt, seinem Dienst zu weihen: Ich halte die Zeugnisse deines Mundes. Dieser Bezeichnung des Gesetzes rühmt herrlich seine Autorität.

89 Ewig ist der Herr; dein Wort stehet fest im Himmel, 90 deine Wahrheit währet für und für. Du hast die Erde zugerichtet, und sie bleibt stehen. 91 Deine Rechte stehen bis heute; denn alle Dinge sind deine Diener. 92 Wo dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elende. 93 Ich will deine Befehle nimmermehr vergessen; denn du erquickest mich damit. 94 Ich bin dein, hilf mir; denn ich suche deine Befehle. 95 Die Gottlosen lauern auf mich, dass sie mich umbringen; ich aber merke auf deine Zeugnisse. 96 Ich habe aller Vollkommenheit ein Ende gesehen; aber dein Gebot ist grenzenlos.

V. 89. Ewig ist der Herr usw. Diesen Vers verstehen die meisten dahin, als ob David zum Beweis der Wahrheit Gottes dies beibrächte, dass der Himmel fest und unbeweglich steht. Sie übersetzen etwa: „Dein Wort steht fest mit dem Himmel.“ Dass also der Himmel beständig bleibt, soll ein Beweis für die Zuverlässigkeit des göttlichen Wortes sein. Ich ziehe die Übertragung vor: Dein Wort stehet fest im Himmel. Der Sinn dürfte folgender sein: weil wir auf Erden nichts Feste und Bleibendes sehen, hebt der Prophet unsere Gedanken zum Himmel empor; dort sollen sie Anker werfen. Gewiss hätte David, wie er an mehreren Stellen tut, sagen können, dass die gesamte Ordnung der Welt von der Zuverlässigkeit des Wortes Gottes Zeugnis gibt. Dies ist durchaus wahr. Und doch lag die Gefahr nicht fern, dass die Gemüter der Frommen zweifelten und stutzten, wenn ihnen diese Wahrheit unter Hinweis auf die Welt vorgetragen wurde, die ja den mannigfachsten Umtrieben unterliegt. Darum heißt es, dass Gottes Wort fest steht „im Himmel“. Damit wird ihm eine Wohnstätte angewiesen, die keinen Veränderungen zugänglich ist. Weil also unser Heil in Gottes Wort beschlossen ist, wankt es nicht, wie alle irdischen Dinge, sondern steht in einem sicheren und ruhigen Port. Dasselbe lehrt der Prophet Jesaja (40, 6 f.) mit etwas anderen Worten: „Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde; aber das Wort unsers Gottes bleibt ewiglich.“ Indessen geht unser Psalmist noch einen Schritt weiter. Zuerst hat es uns geheißen, mit dem Glauben zum Himmel zu dringen, weil wir in der Welt nichts finden werden, auf dem wir sicher ausruhen dürften. Nun aber (V. 90) lehrt er anderseits auf Grund der Erfahrung, dass auch in der Welt trotz aller Umwälzungen Gottes Wahrheit in deutlichen und herrlichen Zeugnissen leuchtet. So ist die Festigkeit seines Wortes nicht bloß im Himmel eingeschlossen, sondern gelangt auch zu uns. Darum wird hinzugefügt: Du hast die Erde zugerichtet, und sie bleibt stehen. Der Prophet will etwa sagen: Herr, gerade auch auf der Erde wird uns die Wahrheit deines Wortes wie in einem Spiegel sichtbar; denn wenn sie auch mitten im Meer schwebt, behält sie doch ihren Stand. Die beiden Stücke stimmen also trefflich zusammen. Einmal kann man Gottes Zuverlässigkeit durchaus nicht an den irdischen Zuständen messen, welche in stetem Fluss sich befinden und wie Schatten verfliegen. Auf der anderen Seite wären die Menschen doch undankbar, wollte sie dieselbe Wahrheit nicht zum Teil auch aus dem Weltgebäude erkennen; denn die Erde, welche sonst keinen einzige Augenblick stehen könnte, bleibt doch fest, weil sie durch Gottes Wort gegründet ist. Durch den ersten Satz werden die Menschen vor der Eitelkeit ihres Sinnes gewarnt; durch den zweiten werden sie in ihrer Schwachheit unterstützt, so dass sie auf Erden schmecken dürfen, was man doch erst im Himmel völliger finden kann.

V. 91. Deine Rechte bestehen bis heute. Andere übersetzen, dass sie „täglich“ bestehen, was doch kaum einen andern Sinn gibt. Der Prophet will sagen, dass die Ordnung der gesamten Natur allein auf Gottes Befehl und Beschluss sich stützt. Indem er diese Ordnung als Gottes „Rechte“ bezeichnet, spielt er auf das Gesetz an, - etwa in der Meinung, dass die rechte und gute Ordnung, welche in Gottes Gesetz offenbart wurde, überall erstrahlt. Es ist also eine große Verkehrtheit, wenn die Menschen in ihrem Unglauben, soviel an ihnen ist, die Glaubhaftigkeit Gottes erschüttern und untergraben: sind doch auf diese Treue Gottes alle Kreaturen gegründet. Ebenso verkehrt ist es, wenn die Menschen in ihrem Widerspruchsgeist Gottes Gerechtigkeit verletzen und die Geltung seiner Gebote beseitigen, auf welchen doch alles ruht, was in der Welt festen Bestand hat. Der nächste Satz: alle Dinge sind deine Diener, - bedient sich einer etwas harten Ausdrucksweise, sagt aber damit mehr, als wenn es einfach hieße, alles sei derartig geordnet, dass es dem Herrn Gehorsam leisten müsse. Denn wie sollte die so flüssige Luft in beständigem Hauchen nicht sich selbst verzehren, wie sollten die Wasser im Fließen nicht verfließen, wenn sie nicht auf Gottes heimlichen Befehl hörten? Freilich fassen wir es im Glauben, dass die Welt durch Gottes Befehl besteht. Wer aber auch nur mit einem Tropfen Verständnis begabt ist, schließt aus klaren Zeugnissen das gleiche. Dabei zielt der Prophet immer darauf, dass die Wahrheit Gottes, die auch in seinen äußeren Werken widerstrahlt, uns auf ihren Stufen höher empor führt, so dass uns jeder Zweifel an der Wahrheit der himmlischen Lehre vergeht.

V. 92. Wo dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre usw. Der Prophet setzt ungefähr den gleichen Gedanken noch fort: er hätte zugrunde gehen müssen, wenn er nicht Trost für sein Elend aus Gottes Gesetz geschöpft hätte. So bestätigt er durch sein eigenes Beispiel, was er zuvor schon sagte. Es soll eben offenbar werden, dass er nicht von unbekannten Dingen redet, sondern lediglich behauptet, was er selbst gelernt und erfahren hat, nämlich dass es der einzige Trost und das Heilmittel im Unglück ist, auf Gottes Wort auszuruhen, sowie die Gnade, die uns dort angeboten wird, und das Zeugnis für unser Heil zu umfangen. Sicherlich wird hier dasselbe Wort gepriesen, von dem es zuvor hieß, dass es im Himmel feststeht. Denn wenn es auch auf Erden erklingt, in unsre Ohren dringt und von unsern Herzen Besitz nimmt, so behält es doch seine himmlische Natur; wenn es auch zu uns herabsteigt, unterwirft es sich doch nicht den Wandlungen der Welt. – Der nächste Vers enthält ein Zeugnis der Dankbarkeit: weil der Dichter durch Gottes Gesetz Hilfe empfangen, verspricht er, immer desselben gedenken zu wollen. Damit erinnert er sich und andere, wie nötig es für uns ist, das Gedächtnis an Gottes Gesetz im Herzen zu pflegen: denn auch wenn wir seine lebendig machende Kraft erfahren haben, beschleicht uns leicht die Vergesslichkeit. Dafür schickt Gott uns dann die gerechte Strafe, dass wir in unserer Traurigkeit dahinschwinden müssen.

V. 94. Ich bin dein. Der Dichter gründet seine Gebetszuversicht darauf, dass er Gottes Eigentum ist. Sodann beweist er aus den Wirkungen, dass er es tatsächlich ist: denn ich suche deine Befehle. Dies will nicht so verstanden sein, als rühmte er sich irgendeines Verdienstes, wie denn Menschen, um ihre Bitten gewährt zu bekommen, den Grund anzuführen lieben: Ich habe dich immer geehrt und mich bestrebt, für deine Ehre und deinen Vorteil zu sorgen; mein Gehorsam stand dir zur Verfügung. David aber beruft sich allein auf Gottes Gnade. Denn niemand hat durch eigene Bemühung die Ehre erworben, Gottes Eigentum zu sein; dies fließt lediglich aus seiner gnädigen Annahme zur Kindschaft. Er hält also dem Herrn seine Wohltat vor, damit er das angefangene Werk nicht liegen lasse. Denn wenn er sagen kann, dass er mit Eifer den Geboten Gottes sich widmet, so fließt auch dies aus der Berufung; er hat doch nicht eher angefangen, um Gottes Gebote sich zu bemühen, als er berufen und in Gottes Familie aufgenommen wurde. Wie notwendig aber seine Bitte um göttliche Bewahrung ist, zeigt der nächste Vers: Die Gottlosen lauern auf mich, dass sie mich umbringen. Zugleich aber rühmt der Dichter, dass seine Frömmigkeit unerschüttert blieb: Ich merke auf deine Zeugnisse. Dies ist bemerkenswert. Denn auch Leute, die sonst wohl geneigt wären, dem Herrn zu folgen, wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen, wenn die Gottlosen sie in Verwirrung bringen, und gleiten nur zu leicht zu bösen Entschlüssen hinab. Es ist also eine große Tugend, dass jemand Gott die Ehre gibt und bei seinen Verheißungen allein sich beruhigt, wenn auch die Gottlosen derartig zu seinem Verderben zusammenstehen, dass er nach dem Fleisch in Lebensgefahr kommt. Dass er auf Gottes Zeugnisse merkt, will besagen, dass er seine Gedanken dem göttlichen Wort unterstellt, welches uns gegen alle Angriffe stark macht, unsre Furcht beschwichtigt und uns von allen bösen Entschlüssen zurückhält.

V. 96. Ich habe aller Vollkommenheit ein Ende gesehen. Hier wird mit anderen Worten wiederholt, was bereits der erste Vers dieses Abschnitts lehrte: Gottes Wort ist keiner Veränderung unterworfen, weil es über die vergänglichen Elemente dieser Welt weit hinausragt. Denn hier wird ausgesprochen, dass auch das Beste, Festeste und in jeder Hinsicht Vollkommenste unter dem Himmel doch sein Ende hat: allein Gottes Wort in seiner unermesslichen Weite greift über alle Ziele und Zeiten hinaus. Sprachlich ist allerdings auch die Übersetzung nicht ganz ausgeschlossen: „Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen.“ Aber der Vergleich wird viel wirkungsvoller, wenn das Wort Gottes aller Vollkommenheit, die man ringsum schauen kann, gegenübergestellt wird. Ihr droht ein Ende: dem Worte Gottes aber ist ewiger Bestand gewiss; darum ist durchaus nicht zu fürchten, dass es uns mitten im Lauf verlasse. Darauf deutet die Aussage, dass es „grenzenlos“ ist. Mag jemand über die Himmel fliegen oder in die tiefsten Abgründe steigen, mag er zur Rechten oder zur Linken sich wenden, er wird doch nicht weiterkommen, als Gottes Wahrheit uns geleitet. Es bleibt nur übrig, dass unser Herz diese grenzenlose Weite fasse: dies wird geschehen, wenn wir aufhören, uns in die Engigkeit dieser Welt zu verlieren.

97 Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Täglich denke ich daran. 98 Du machest mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind; denn es ist ewiglich mein Schatz. 99 Ich bin gelehrter denn alle meine Lehrer; denn deine Zeugnisse sind meine Rede. 100 Ich bin klüger denn die Alten; denn ich halte deine Befehle. 101 Ich wehre meinem Fuß alle böse Wege, dass ich dein Wort halte. 102 Ich weiche nicht von deinen Rechten; denn du lehrest mich. 103 Dein Wort ist meinem Mund süßer denn Honig. 104 Dein Wort macht mich klug; darum hasse ich alle falsche Wege.

V. 97. Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Der Dichter begnügt sich nicht mit einer schlichten Versicherung, sondern ruft nachdrücklich aus, von welch unglaublicher Liebe zum Gesetz Gottes er entzündet sei. Zur Bekräftigung fügt er hinzu: Täglich denke ich daran. Denn wollte jemand rühmen, dass das Gesetz Gottes ihm am Herzen liege, sich aber nicht um dasselbe bemühen und seine Gedanken anderswohin richten, so wäre dies ein Beweis gröbster Heuchelei: wirkliche Liebe, wie der Prophet sie hier beschreibt, wird immer ein stetiges Gedenken zeitigen. Und wenn Gottes Gesetz unsere Herzen nicht zur Liebe entflammt und mit sich fortreißt, werden alsbald tausend Lockungen sich einschmeicheln und uns zu eitlem Wesen hinüberziehn. Darum legt uns hier der Prophet eine Liebe zum Gesetz ans Herz, die alle unsre Empfindungen in Beschlag nehmen und so jeglicher Trügerei und Verderbnis, zu der wir sonst nur zu geneigt sind, die Tür verschließen und verriegeln soll.

V. 98. Du machst mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind. Der Prophet erklärt sich seinen Feinden, seinen Lehrern und den Alten überlegen, weil er ein Schüler des Gesetzes Gottes ist. Wenn er klüger ist als seine Feinde, so will dies anders verstanden sein, als dass er seine Lehrer übertrifft. Jenen ist er überlegen, weil sie mit Schlauheit und Betrügereien nichts ausrichten können, wie sehr sie auch ihren Scharfsinn zu seinem Verderben anspannen. Der Prophet rühmt sich, dass er wider ihre Hinterlist nicht mit gleichen Künsten zu streiten braucht. Seine Einfalt unterliegt nicht, weil Gottes Gesetz ihm hinreichend Schutz bietet, so dass er allen Schlingen entgehen kann. Der nächste Satz: Ich bin gelehrter denn alle meine Lehrer – scheint einen törichten Vergleich zu enthalten. Denn auch jene hatten aus dem Worte Gottes gelernt, was zu wissen nützlich war. Aber es ist kein Zweifel, dass der Prophet dem Herrn dankt, weil er weitere Fortschritte gemacht hat als diejenigen, die ihn die Anfangsgründe lehrten. Ist es doch nichts Neues, dass der Schüler über den Lehrer hinauswächst, wie einem jeden Gott das Maß der Erkenntnis austeilt. Wir wissen, dass die Erleuchtung vom Herrn kommt, wenn auch die Gläubigen durch den Dienst und die Arbeit von Menschen unterwiesen werden. Wenn der Jünger über den Meister ist, will Gott gleichsam mit dem Finger darauf hinweisen, dass er sich zwar menschlicher Bemühungen bedient, dabei aber selbst der eigentliche Lehrer bleibt. Darum sollen wir uns von ihm leiten lassen, damit wir mit David rühmen können, dass seine Führung uns über die Grenze emporhebt, zu welcher menschliche Unterweisung uns hätte bringen können. Zur Bekräftigung folgt ein Hinweis (V. 100) auch auf die Alten. Denn das Alter gibt viel; selbst Leute, die von Natur langsam und ungeschickt sind, werden durch lange Erfahrung und Übung erzogen. Der Prophet aber sagt, dass er aus Gottes Gesetz eine Klugheit gewonnen habe, welche die Weisheit des Alters übertrifft. Alles in allem: wer sich dem Herrn gegenüber gelehrig stellt, seine Gedanken in den Schranken seines Wortes hält, sich in der Betrachtung des Gesetzes übt, wird dort Weisheit genug finden, mit der er sich gegen Nachstellungen der Feinde schützen und vor ihrem Betrug hüten kann, vermöge deren er auch imstande sein wird, für den ganzen Lauf des Lebens mit den besten Lehrer zu wetteifern. David rühmt aber seine Klugheit nicht, um sich vor der Welt zu brüsten; er will uns jedoch durch sein Beispiel erinnern, dass es für uns nichts Besseres gibt, als aus dem Munde Gottes Belehrung zu empfangen. Vollkommene Weisheit besitzt ja nur, wer sich in dieser Schule hat unterweisen lassen. So wird den Gläubigen Nüchternheit anempfohlen, damit sie keine andere Weisheit suchen, als die aus Gottes Wort stammt, und damit weder Ehrgeiz noch Vorwitz sie zu eitler Prahlerei anreize. Endlich werden uns Bescheidenheit und Mäßigung ans Herz gelegt, damit niemand sich ein Wissen anmaße, mit welchem er sich über Gottes Gesetz erheben will. Sobald die himmlische Weisheit auf den Plan tritt, soll jedermann, er sei noch so klug und erfahren, freiwillig in die Reihe zurücktreten. David fügt hinzu: denn ich halte deine Befehle. Er beschreibt damit das Nachdenken, von welchem er sprach; wir sollen wissen, dass er sich nicht in kalten Spekulationen erging, sondern sich mit herzlichem Ernst an Gottes Gebote hielt.

V. 101. Ich wehre meinem Fuß alle böse Wege. Um sich dem Gehorsam gegen Gott zu ergeben, hat der Dichter jedem Laster den Krieg angesagt. Wir entnehmen daraus eine nützliche Lehre: wollen wir Gottes Gesetz halten, so müssen wir in allem Anfang uns hüten, dass unsre Schritte nicht auf gewundene Schleichwege ablenken. Es ist ein sehr seltenes Wunder, dass jemand in seinem Leben den rechten Lauf einhält. So bedarf es äußerster Aufmerksamkeit, damit die Gläubigen ihren Füßen das Umherschweifen wehren. Im nächsten Vers spricht David aus, wie beständig er in seinem Eifer ist, das Gesetz zu halten. Er sagt also, dass er den rechten Lauf eingehalten habe, seitdem er von Gott die Unterweisung für sein Leben empfing: Ich weiche nicht von deinen Gesetzen; denn Du lehrest mich. Da der Weg so schlüpfrig, unsre Füße so schwach und unser Geist zu zahllosen Irrwegen geneigt ist, bedarf es einer nicht geringen Anstrengung, um uns festzuhalten, damit wir nicht von den Rechten Gottes abweichen. Bemerkenswert ist aber, von welcher Art der Belehrung hier die Rede ist. Belehrt werden freilich alle ohne Unterschied, denen man Gottes Wort vorlegt; aber kaum der Zehnte gewinnt einen Geschmack davon; und kaum der Hundertste schreitet so weit fort, dass er bis zuletzt im rechten Lauf verharrt. Es handelt sich also hier um die besondere Weise der Belehrung, in welcher Gott seine Auserwählten innerlich zu sich zieht. Der Prophet will sagen, dass die verborgene Leitung des Geistes ihn auf den Weg des Heils geführt und auf demselben erhalten habe.

V. 103. Dein Wort ist meinem Mund süßer denn Honig. Mit anderen Worten wiederholt der Dichter seine schon öfter gegebene Erklärung, dass Gottes Gesetz ihn mit seiner Süßigkeit gefesselt habe und ihm zur höchsten Freude geworden sei. Es kommt ja vor, dass jemand von einem gewissen Gefühl der Ehrfurcht ergriffen wird; aber nur wer diese Süßigkeit geschmeckt hat, wird dem Gesetz frisch und fröhlich folgen. Gott aber will keinen knechtischen Gehorsam, sondern wünscht, dass wir mit freudigem Mut ihm nahen. Dies ist der Grund, weshalb dieser Psalm so oft die Süßigkeit des Wortes Gottes rühmt. Allerdings könnte man fragen, wieso dies möglich sei, da doch Paulus bezeugt, dass das Gesetz nur Schrecken anrichtet. Die Lösung ist leicht. Unser Psalm redet nicht von dem toten Buchstaben, welcher die Leser tötet, sondern umfasst die ganze Lehre des Gesetzes, in welcher der auf freie Gnade gegründete Heilsbund das Hauptstück ist. Wenn dagegen Paulus das Gesetz mit dem Evangelium vergleicht, rührt er nur die Gebote samt den Drohungen an; gibt aber Gott nur Vorschriften und droht den Fluch an, so ist es gewiss, dass seine ganze Rede nichts anderes bringen kann als den Tod. Der Prophet aber bringt das Evangelium nicht in einen Gegensatz zum Gesetz, sondern hält sich an die Gnadengabe der Kindschaft, die im Gesetz angeboten wird: so kann er mir Recht erklären, dass ihm dasselbe süßer ist als Honig, und dass er nirgend eine gleiche Erquickung findet. Wir prägen uns dabei noch einmal ein, was ich anderwärts sagte: Geschmack und vollends diejenige Süßigkeit, die uns von den Lüsten des Fleisches zurückhält, gewinnen wir dem Gesetz Gottes erst ab, wenn wir wider den eigenen Geist wacker streiten, um die in uns herrschenden, fleischlichen Begierden zu dämpfen.

V. 104. Dein Wort macht mich klug; darum hasse ich alle falsche Wege. Hier scheint der Prophet die Ordnung, die er soeben erhielt, umzukehren. Er hatte gesagt, dass er seinem Fuß alle bösen Wege wehrte, um Gottes Gesetz halten zu können. Jetzt gibt er den Grund in umgekehrter Weise an, indem er mit der Beobachtung des Gesetzes anhebt; zuerst hat Gottes Wort ihn klug gemacht oder unterwiesen, sodann hat er seine Sünden gebessert. Es stimmt aber beides recht wohl zusammen: einmal hüten sich die Gläubigen vor Irrwegen, um ihr Leben nach der Regel des göttlichen Worts zu bilden; sind sie aber schon weiter fortgeschritten, so fangen sie entsprechend der in ihnen lebendigen Gottesfurcht an, die Sünden noch mehr zu hassen und heftiger alle Laster zu verabscheuen. Weiter zeigen uns die Worte des Propheten, dass sich die Menschen allenthalben in Lügen verwickeln und in böse Irrtümer verstricken, weil sie sich nicht wirklich durch Gottes Wort weisen lassen. Weil die ganze Welt unsinnig ist, entschuldigen die Menschen ihre Irrfahrten damit, dass man sich sehr schwer vor Täuschungen hüten könne. Wir haben aber ein Heilmittel bereit, wenn wir nur dem Rat des Propheten folgen, uns nicht auf eigene Klugheit stützen und Erkenntnis aus Gottes Wort schöpfen wollen. In demselben zeigt er uns ja nicht nur, was recht ist, sondern schützt uns auch und macht uns umsichtig wider alle Täuschungen des Satans und der Welt. Möchten sich doch heutzutage die Menschen, die sich rühmen, Gläubige zu sein, dies tief einprägen; dann würde nicht der größere Teil sich hierhin und dorthin immer wieder in den schwankendsten Meinungen umtreiben lassen. Wir dagegen wollen uns um diese Klugheit besonders bemühen, da Satan so eifrig darauf bedacht ist, die Rauchwolken von Irrtümern ringsum aufgehen zu lassen.

105 Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. 106 Ich schwöre und will´s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will. 107 Ich bin sehr gedemütiget; Herr, mache mich lebendig nach deinem Wort! 108 Lass dir gefallen, Herr, das willige Opfer meines Mundes, und lehre mich deine Rechte. 109 Ich trage meine Seele immer in meinen Händen, und ich vergesse deines Gesetzes nicht. 110 Die Gottlosen legen mir Stricke; ich aber irre nicht von deinen Befehlen. 111 Deine Zeugnisse sind mein ewiges Erbe; denn sie sind meines Herzens Wonne. 112 Ich neige mein Herz zu tun nach deinen Satzungen immer und ewiglich.

V. 105. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte. In diesem Vers bekennt sich der Prophet zu dem Gesetz Gottes als der Regel und Richtschnur seines Lebens. Durch sein Beispiel will er uns alle an dieselbe Norm binden. Denn wenn ein jeglicher dem folgt, was ihm gut dünkt, fallen wir in schreckliche Irrungen. Wollen wir aber die Absicht des Propheten recht verstehen, so müssen wir darauf achten, dass er Gottes Wort allen menschlichen Ratschlägen gegenüberstellt. Denn was die Welt für recht achtet, ist vor Gott oft verkehrt und sündhaft. Er billigt nur eine Lebensführung, die sich an der Regel seines Gesetzes bewährt, und nicht anders konnte David sich durch das Wort des Herrn leiten lassen, als indem er auf die Klugheit des Fleisches verzichtete. Damit wird auch bei uns die Gelehrigkeit anfangen. Er führt nun das Gleichnis, dessen er sich bedient, etwas weiter aus, indem er sagt: Dein Wort ist ein Licht auf meinem Wege. Wenn nicht Gottes Wort voranleuchtet, wäre das ganze Menschenleben in Finsternis und Dunkel gehüllt, so dass man nur auf jämmerlichen Irrwegen gehen könnte. Sobald wir uns aber folgsam dem Gesetz Gottes unterwerfen, schwindet die Gefahr des Irrtums. Wenn Gottes Wort freilich so dunkel wäre, wie das Geschwätz der Papisten behauptet, so würde dieser Lobspruch des Propheten ihm nicht zukommen. Wir sollen also wissen, dass uns darin ein klares Licht gezeigt wird, - wenn wir nur die Augen auftun wollten. Dieselbe Meinung drückt Petrus (2. Petr. 1, 19) noch deutlicher aus, indem er es für löblich erklärt, dass die Gläubigen auf das prophetische Wort achten, welches wie ein Licht in einem dunklen Ort scheint. Weiter (V. 106) spricht David von seiner Standhaftigkeit. Wies er soeben darauf hin, dass er in seinem ganzen Leben von Gottes Gesetz nicht abgewichen war, so spricht er jetzt von dem Vorsatz, den er im Geiste hegt: Ich schwöre und will´s halten. Durch den Schwur hat er sich unabänderlich dem Gesetz Gottes verpflichtet. Erst so hält man ja das Gesetz in rechter Weise, dass man seine Vorschriften von Herzen annimmt und umfasst, und zwar in stets gleicher Zähigkeit, damit nicht, wie es oft zu geschehen pflegt, unser Eifer alsbald ermüde. Das ist auch ein rechtes Gelübde, dass wir uns dem Herrn darbringen und unser Leben ihm weihen wollen. Allerdings ließe sich fragen, ob man dem Propheten nicht ein vorwitziges Verfahren vorwerfen muss, indem er gewagt hätte, mit seinem Eid viel mehr auf sich zu nehmen, als Menschenkraft leisten kann. Denn wer vermag das Gesetz zu halten? Wer dem Herrn etwas Unmögliches verspricht, springt doch im Übermut über seine Schranke. Doch ist die Antwort leicht. So oft die Gläubigen dem Herrn etwas geloben, sehen sie nicht auf das, was sie aus eigener Kraft vermögen, sondern stützen sich auf die Gnade Gottes, der da leistet, was er von uns fordert, indem er uns aus seinem Geist Kräfte darreicht. Ohne diesen Geist können sie freilich nichts geloben, wo es sich um den Gehorsam gegen Gott handelt: denn wir sind, mit Paulus (2. Kor. 3, 5) zu reden, nicht tüchtig von uns selber etwas zu denken. Aber weil Gott uns die Hand entgegenstreckt, uns guten und fröhlichen Mutes zu sein heißt, indem er verspricht, immer bei uns zu stehen, erwächst jene Zuversicht zu eidlichem Gelöbnis. Es ist nichts von Vorwitz darin, dass wir im Vertrauen auf die Zusagen Gottes, mit denen er uns zuvorkommt, unsererseits uns ihm zum Gehorsam darbieten. Die Frage ist aber noch nicht gelöst: denn wenn auch die Kinder Gottes durch Gnadenwirkung des Geistes aus allen Versuchungen als Sieger hervorgehen, so leiden sie doch immer an einer gewissen Schwachheit. Wir wollen uns aber merken, dass bei den Gelübden und Versprechen der Gläubigen nicht bloß jene Zusage Gottes einbegriffen ist, er wolle schaffen, dass sie in seinen Geboten wandeln (Hes. 11, 20), sondern auch die andere, die er hinzugefügt hat, von der Vergebung durch freie Gnade. Wenn also David sich zur Beobachtung des Gesetzes verpflichtet, zieht er das ihm gegebene Maß der Gnade in Betracht, entsprechend dem Psalmwort (103, 13): „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet, so erbarmet sich der Herr über die, so ihn fürchten.“

V. 107. Ich bin sehr gedemütiget. Dieser Vers lehrt, dass die Väter unter dem Gesetz nicht so weich in Gottes Schoß saßen, dass er sie nicht mit harten Versuchungen geübt hätte. Denn der Dichter spricht davon, dass er nicht bloß in leichter und gewöhnlicher Weise, sondern im Übermaß gedemütigt ward. Und wenn er bittet: „Herr, mache mich lebendig,“ – so gibt er zu verstehen, dass er dem Tode nahe war. Zugleich aber kann er trotz dieser Belagerung durch den Tod anzeigen, dass er nicht unterlag, weil er sich auf Gott stützte. Dies sollen wir uns fleißig einprägen. Denn wenn auch anfangs noch ein frischer Mut zur Anrufung Gottes vorhanden ist, so wird der Geist doch schwankend, wenn die Last der Anfechtung steigt; in der äußersten Furcht erlischt die Zuversicht vollends. Dagegen fleht der Prophet Gottes Gnade an, nicht damit sie ihn bei unversehrtem Leben erhalte, sondern in das fast verlorene Leben zurückversetze. Bemerkenswert ist auch der Zusatz: nach deinem Wort. Denn unsere Anrufung wird kalt sein, ja überhaupt nicht zustande kommen, wenn nicht in Trauer und Bedrängnis Gottes Verheißung uns Zuversicht schenkt. Der Zugang zum Gebet ist uns verschlossen, wenn wir nicht diesen Schlüssel in Händen haben.

V. 108. Lass dir gefallen usw. In diesem Vers bezeugt der Prophet, wie wir schon öfter hörten, dass ihm nichts mehr am Herzen liegt, als die Lehre des Gesetzes rechtschaffen festzuhalten. Er will etwa sagen: Herr, nimm wohlgefällig die Opfer an, die ich dir bringe; und da es der Hauptinhalt meiner Bitten ist, in deinem Gesetz recht unterwiesen zu werden, so lass mich dieses so erwünschte Gut erlangen. Alle solche Aussagen, welche die Erkenntnis der himmlischen Lehre über alle Wohltaten der Welt stellen, sind bemerkenswert. Sicherlich müssen wir Gottes Wort als einen unvergleichlichen Schatz ansehen, weil es das Pfand ewigen Heils in sich birgt. Der Prophet bedient sich aber gewissermaßen eines Umweges, indem er mit der Bitte anhebt, dass Gott sein Gebetsopfer freundlich aufzunehmen sich herablassen möge. Denn das willige Opfer seines Mundes deutet auf seine Gebete. Dabei spielt der Ausdruck auf die gesetzlichen Opfer an, welche ein jeder nach seinem Vermögen darbrachte, um den Herrn gnädig zu stimmen. So bezeichnet auch der Prophet Hosea (14, 3) die Lobgesänge, die wir dem Herrn bringen, als „Farren unserer Lippen“. Denn durch jene Zeremonie wollte Gott den Vätern einprägen, dass ihm Gebete nur dann wohlgefällig sind, wenn sie mit einem Opfer sich verbinden. Sie sollten dadurch lernen, ihre Gedanken immer auf den Mittler zu richten. Dass Gott das Gebetsopfer sich gefallen lassen soll, deutet darauf hin, dass unsere Gebete in sich selbst keine Würdigkeit besitzen, sondern dass Gottes Erhörung eine freie Gnadengabe ist.

V. 109. Ich trage meine Seele in meinen Händen usw. Der Prophet erklärt, dass keine Lasten, Mühen und Gefahren ihn abhalten konnten, den Herrn zu verehren und sein Gesetz zu halten. Denn dass jemand seine Seele in der Hand trägt, bedeutet, dass er in Lebensgefahr steht: seine Seele ist gleichsam jedem Windstoß ausgesetzt. So klagt auch Hiob (13, 14), der in Leiden dahinschwindet und in jedem Augenblick den Tod erwarten und fürchten muss, dass seine Seele auf seiner Hand liegt; sie ist von ihrem Wohnsitz losgerissen und der Herrschaft des Todes ausgesetzt. Welch ein Zeichen von Frömmigkeit ist es nun, dass der Prophet von dem Eifer für Gottes Gesetz nicht absteht, obgleich er wie im Schiffbruch umgetrieben wird, hundertfachen Tod vor Augen hat und keinen Augenblick sicher ruhen kann. Wir sehen daraus wieder, in wie harten Kämpfen die Väter unter dem Gesetz erprobt wurden. Darum sollen weder Gefahren noch Furcht uns abschrecken, noch Überdruss uns schwächen: das Gedenken an Gottes Gesetz soll tief in unsrer Seele wurzeln. Der Sinn des nächsten Verses ist nahe verwandt. Der Prophet gibt aber genauer an, wieso er sein Leben in der Hand trug: Die Gottlosen legen mir Stricke. Sie umgaben ihn auf allen Seiten mit Nachstellungen, so dass ihm alle Lebenshoffnung abgeschnitten schien. Wir haben nun anderwärts schon darauf hingewiesen, wie schwer es ist, von den Wegen des Herrn des Herrn nicht abzuirren, wenn es die Feinde mit ihren Machenschaften auf unser Verderben anlegen. Denn die Begierde des Fleisches reizt uns zur Widervergeltung; wir glauben unser Leben nicht anders schützen zu können, als indem wir dieselben Künste anwenden, mit denen sie uns bekämpfen; wir halten es für erlaubt, mit den Wölfen zu heulen. Darum sollen wir ganz besonders auf die Lehre achten, dass wir gegenüber den Nachstellungen der Gottlosen am besten tun, dem Wink Gottes zu folgen und nichts zu unternehmen, als was er uns gebietet.

V. 111. Deine Zeugnisse sind mein ewiges Erbe. Der Dichter bestätigt noch einmal den Satz, der nicht oft genug wiederholt werden kann, dass Gottes Gesetz ihm wertvoller ist als alle Freuden, Schätze und Reichtümer der Welt. Ich habe gesagt, dass diese häufige Einprägung ihren guten Grund hat. Denn wir sehen, dass die weltlichen Begierden brennen, dass jedermann in vielfältigen Sorgen fiebert, dass man unaufhörlich zahllose Dinge begehrt, dass aber kaum der Hundertste auch nur eine mäßige Sehnsucht nach Versenkung in Gottes Gesetz betätigt. Darum will der Prophet uns durch sein Beispiel reizen, indem er die Zeugnisse Gottes als seine höchste Lust und wertvollsten Besitz einschätzt. Ist es doch allein die Liebe, welche den Dingen ihren Wert gibt: wollen wir also das Gesetz mit der gebührenden Ehrfurcht pflegen, so müssen wir mit dieser Freude an ihm den Anfang machen. Übrigens ist es nicht zu verwundern, dass die Zeugnisse Gottes uns eine Erquickung bringen, die alles andere hintansetzen und verachten lehrt und uns völlig gefangen nimmt. Was ist süßer, als dass der Himmel sich uns auftut und wir nun frei vor Gottes Angesicht treten dürfen, dass er uns zu seinen Kindern annimmt und uns die Sünden umsonst vergibt? Was ist erwünschter, als von seiner Freundlichkeit zu hören, mit der er unser Leben in seine Obhut nimmt? Darauf wollte ich kurz hinweisen, damit wir es verstehen, dass David über Gottes Gesetz eine so herzliche Freude empfand. Der Vergleich mit einem „Erbe“ begegnet uns oft in der Schrift. Ein Erbe ist unser wertvollster Besitz, welchem gegenüber wir bereit sind, alles andere zu entbehren, wenn nur er uns bleibt. So gibt der Prophet zu verstehen, dass er alle seine andern Güter nur wie Zugaben ansah und allein die himmlische Lehre als sein Erbe. Ohne sie gilt ihm alles andere nichts: so überlässt er gern anderen Leuten Reichtümer, Ehren, Vorteile, Vergnügungen, wenn er nur diesen unvergleichlichen Schatz besitzt. Gewiss verachtet er nicht ganz und gar die Wohltaten Gottes, welche für das gegenwärtige Leben einen Nutzen haben; sie halten aber seine Seele nicht gefesselt.

V. 112. Ich neige mein Herz usw. Dieser Vers beschreibt die rechte Beobachtung des Gesetzes, zu welcher gehört, dass man fröhlich und von Herzen sich rüste, Gottes Befehle zu erfüllen. Denn ein knechtischer und erzwungener Gehorsam unterscheidet sich nur wenig von Widerspenstigkeit. Indem also der Prophet kurz beschreiben will, was es heißt, dem Herrn zu dienen, spricht er aus, dass er nicht nur Hände, Augen oder Füße auf die Beobachtung des Gesetzes einrichtet, sondern dass er den Anfang mit der Stimmung des Herzens gemacht habe. Diese Neigung des Herzens stellt er den umschweifenden Begierden gegenüber, welche sich wider Gott erheben und uns überallhin eher fortreißen, als zum rechten Handeln. Die Papisten entnehmen nun unserm Spruch einen albernen Beweis für den freien Willen: es stehe in der Gewalt des Menschen, sein Herz nach dieser oder jener Seite zu neigen. Es ist aber leicht zu sehen, dass der Prophet sich hier nicht einer Sache rühmt, die er mit eigener Kraft ausgerichtet hätte. Denn er hat unter Verwendung desselben Ausdrucks früher (V. 36) gebetet: „Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen“. Soll dieses Gebet nicht eine Heuchelei sein, so birgt es das Bekenntnis, dass es das eigene Werk des heiligen Geistes ist, unsre Herzen zu neigen und zu bilden. Es ist keineswegs unerhört, dass uns zugeschrieben wird, was Gott in uns tut. Berühmt ist jenes Pauluswort (Phil. 2, 13): „Gott ist´s, der in euch wirket beide, das Wollen und das Vollbringen.“ Wenn also der Prophet sein Herz geneigt hat, glaubt er nicht, abgesehen von der Gnadenwirkung des Geistes etwas begonnen zu haben: denn anderwärts hat er bezeugt, dass dessen Antrieb ihn ganz und gar leitet. Zugleich unterscheidet er die Beständigkeit seines frommen Eifers von der flüchtigen Erregung anderer Leute: er tut nach Gottes Satzungen immer und ewiglich ; buchstäblich: immer und „bis zum Ziel.“ Andere Ausleger finden in diesem Wort irgendeinen Hinweis auf den Lohn, was aber unverständlich ist. Der Prophet will vielmehr sagen, dass er Hindernisse und Schwierigkeiten niederkämpfte und seine Standhaftigkeit nicht brechen ließ. Denn ohne harte Anstrengung wird man in der reinen Verehrung Gottes nicht beharren.

113 Verschlungene Gedanken hasse ich, und liebe dein Gesetz. 114 Du bist mein Schirm und Schild; ich hoffe auf dein Wort. 115 Weichet von mir, ihr Boshaften; ich will halten die Gebote meines Gottes. 116 Halte mich aufrecht durch dein Wort, dass ich lebe, und lass mich nicht zuschanden werden über meine Hoffnung. 117 Stärke mich, dass ich gerettet werde, so will ich stets meine Lust haben an deinen Satzungen. 118 Du zertrittst alle, die von deinen Satzungen abirren; denn ihre Trügerei ist eitel Lüge. 119 Du wirfst alle Gottlosen auf Erden weg wie Schlacken; darum liebe ich deine Zeugnisse. 120 Ich fürchte mich vor dir, dass mir die Haut schauert, und entsetze mich vor deinen Gerichten.

V. 113. Verschlungene Gedanken hasse ich. Viele übersetzen: Ich hasse die Flattergeister oder die zwiespältigen Menschen. Aber es wird wohl von den Gedanken die Rede sein. Das hebräische Wort bezeichnet eigentlich einen Zweig und wird dann bildlich auf die Gedanken übertragen, die ja aus dem Herzen aufwachsen wie Zweige aus dem Baumstamm und sich hierhin und dorthin erstrecken. Ohne Zweifel ist nun hier von bösen Gedanken die Rede. Und auch dies kann man aus dem ursprünglichen Sinn des Wortes entnehmen; wie Zweige eines Baumes viel verschlungen durcheinander wachsen, so mischen sich auch die Gedanken in krummen Windungen. Diese verdrehten Gebilde des Menschenherzens, welche die gottlosen aus ihrem sündhaften Sinn hervorbringen, werden dem Gesetz Gottes gegenübergestellt, welches allein gerade ist. Sicherlich muss ein Mensch, der Gottes Gesetz in Wahrheit umfassen will, seinen verkehrten und sündhaften Gedanken, ja überhaupt dem eigenen Geist den Abschied geben.

V. 114. Du bist mein Schirm und Schild usw. Weil der Prophet überzeugt ist, dass er sicher nur sein kann, soweit Gottes Flügel ihn bergen und decken, so fürchtet er im Vertrauen auf seine Verheißungen nichts. Und sicherlich muss den Gläubigen dies zuerst feststehen, dass ihr von so vielen Gefahren umgebenes Leben allein durch Gottes Schutz bewahrt bleiben kann. Sie sollen also bei ihm ihre Zuflucht suchen und im Vertrauen auf sein Wort geborgen auf das Heil warten, welches er verheißen hat. Gewiss schöpfen wir nun die Zuversicht, dass Gott unsre Zuflucht und unser Schild ist, aus dem Wort. Aber es wirkt doch auch beides aufeinander: nachdem wir aus dem Wort gelernt haben, dass uns bei Gott sichere Bergung bereitet ward, wird diese Lehre in unserem Geist gehegt und befestigt, wenn wir empfinden, wie notwendig es ist, dass Gott uns verteidigt. Muss nun auch seine Macht zur Begründung unserer Heilshoffnung vollständig ausreichen, so sollen wir doch immer sein Wort in den Mittelpunkt stellen, damit unser Glaube nicht wanke, wenn seine Hilfe verzieht.

V. 115. Weichet von mir, ihr Boshaften. Den Zusammenhang der beiden Vershälften deuten manche Ausleger dahin, dass David noch eifriger dem Gesetz Gottes sich ergeben wolle, wenn die Gottlosen vom Kampfe wider ihn abstehen. Und gewiss soll jede Erfahrung der Durchhilfe Gottes unsern Eifer, ihn zu verehren, steigern. Es wäre ein Zeichen schmählicher Undankbarkeit, wenn nicht mit der Erfahrung und dem Erleben er Gnade Gottes in uns auch die Frömmigkeit wüchse. Diese Lehre ist also gut und nützlich; und doch will der Prophet hier etwas anderes. Weil er sah, wie viel Hindernisse uns die Gottlosen bereiten, will er sie weit von sich schieben. Es soll – so erklärt er – seine Sorge sein, sich nicht in ihre Gesellschaft zu verstricken. Er sagt dies aber weniger um seinetwillen, sondern um uns durch sein Beispiel zu lehren, dass wir uns so entfernt wie möglich von unheiligen und gottlosen Leuten halten müssen, wollen wir anders unbeirrten Schrittes auf dem Weg des Herrn vorankommen. Ein gar zu enger Verkehr müsste uns unausbleiblich durch Ansteckung ins Verderben ziehen. Es ist völlig klar, wie schädlich die Gemeinschaft mit bösen Leuten wirken muss: sie bringt es zustande, dass nur wenige bis zum Ende unversehrt bleiben, weil ja die Welt voller Verderbnisse ist. Bei der Schwachheit unserer Natur liegt nichts näher, als dass wir uns anstecken und bei der geringsten Berührung beschmutzen lassen. Weil also der Prophet seinen Weg in der Furcht Gottes ohne Anstoß wandeln will, heißt er die Gottlosen sich weit entfernen. Denn wer sich in ihre Gemeinschaft verstrickt, wird im Lauf der Zeit sich mit ihnen in die Verachtung Gottes und ein zügelloses Leben hineinstürzen. Damit stimmt die Mahnung des Paulus (2. Kor. 6, 14): „ Ziehet nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen.“ Gewiss lag es nicht in der Macht des Propheten, die Gottlosen weit wegzutreiben; seine Worte wollen aber besagen, dass er in Zukunft nichts mehr mit ihnen gemein haben will. Mit großem Nachdruck spricht er auch: „Ich will halten die Gebote meines Gottes.“ Damit bezeugt er, dass dieser sein Gott ihm mehr wert ist als alle Sterblichen. Da er auf Erden eine Flut von Verbrechen im Schwange gehen sah, vollzieht er einen Bruch mit den Menschen, um sich zu Gott zu sammeln. Auch heute kommt viel darauf an, dass wir, wollen wir anders uns von bösen Beispielen nicht fortreißen lassen, den Herrn auf unsere Seite stellen und standhaft bei ihm verharren, weil er ja unser ist.

V. 116. Halte mich aufrecht durch dein Wort. Auf Grund einer etwas abweichenden Lesart übersetzen viele Ausleger: „Halte mich aufrecht nach deinem Wort“, d. h. nach deiner Verheißung. Der Prophet scheint aber um eine Glaubensfestigkeit zu bitten, die sich fest auf Gottes Wort stützt. Wenn jemand vom Glauben abfällt, sagt man, dass er von Gottes Wort abgefallen sei; wenn er dagegen im Glauben verharrt, ist Gottes Wort seine Stütze. Weil nun der Prophet wusste, dass solch tapfere Kraft beim Menschen sich nicht findet, erbittet er die Beharrlichkeit von Gott als eine besondere Gabe des Geistes. Man wird also wahre Festigkeit nirgend anders finden als in Gottes Wort; und nur der wird sich ohne Wanken auf dasselbe stützen können, den der heilige Geist mit seiner Kraft aufrecht hält. Darum sollen wir den Herrn als den alleinigen Anfänger und Vollender unseres Glaubens bitten, dass er uns in demselben erhalte. Der Prophet zieht nun aus dem Glaubensstande die Folgerung: „dass ich lebe.“ Es muss also alles reine Täuschung sein, was die Menschen sich außerhalb des Wortes versprechen. Allein der Herr schafft uns Leben durch sein Wort, wie Habakuk (2, 4) spricht: „Der Gerechte wird durch seinen Glauben leben.“ Darin liegt ein Hinweis, dass allein die Gläubigen, welche Gottes Wort aufrecht hält, sicher und fest stehen. Nachdem der Dichter in dieser Weise um beharrliche Standhaftigkeit gebeten, erinnert er den Herrn nun noch weiter daran, dass er endlich erfüllen möge, was er versprochen hat: Lass mich nicht zuschanden werden über meiner Hoffnung. Jeder hat in seiner eigenen Schwachheit das Zeugnis dafür, wie viele Zweifel uns beschleichen, wenn nach langem Dulden der Erfolg unsrer Hoffnung nicht entspricht, weil Gott uns zu täuschen scheint. Denselben Gedanken drückt auch der nächste Vers aus, nur dass hier des Wortes keine ausdrückliche Erwähnung geschieht: Stärke mich, dass ich gerettet werde. Der letztere Ausdruck tritt hier an die Stelle des früheren: „dass ich leben.“ Und der Prophet gibt zu verstehen, dass es um unsere Rettung geschehen ist, sobald Gott uns seine Gnade entzieht; stärkt er uns aber, so ist nichts mehr zu fürchten. Dass er seine Lust an Gottes Geboten haben will, hat den Sinn, dass er sie wohl beachten will. Denn in demselben Maße, als ein Mensch Gottes Hilfe erfahren hat, soll er sich zur Achtsamkeit auf die himmlische Lehre erwecken. Der Dichter fügt hinzu, dass er in dieser Betrachtung während seines ganzen Lebens stets verharren will.

V. 118. Du zertrittst alle usw. Gott wird alle Verächter seines Gesetzes niederschmettern und von ihrer angemaßten Höhe herabstoßen. Dass er sie zertritt, wird im Gegensatz gegen das törichte oder vielmehr wahnsinnige Selbstvertrauen gesagt, in welchem die Gottlosen in geschwollener Sicherheit der Gerichte Gottes spotten. Sie tragen kein Bedenken, sich wider ihn zu erheben, als wären sie seiner Macht nicht unterworfen. Bemerkenswert ist auch das zweite Satzglied, welches ausspricht, dass die Gottlosen mit ihrer Verschlagenheit nichts ausrichten, sondern sich vielmehr in ihren eigenen Stricken fangen und endlich spüren müssen, dass ihr Treiben eitel Lüge ist. Als Trügerei wird ein verschlagener und hinterlistiger Ratschlag bezeichnet. Wie sehr sie sich in ihrer Verschmitztheit gefallen, so werden sie doch nur sich selbst täuschen und belügen. Dies beizufügen war sehr nötig: sehen wir doch, wie die Welt sich in eitlen Gedanken zu ihrem Verderben berauscht, und wie schwer es zu glauben ist, was David verkündet, dass die Menschen mit dem größten Scharfsinn nur sich selbst betrügen. Nahe verwandt ist der Sinn des nächsten Verses: Du wirfst alle Gottlosen weg wie Schlacken. Dies Bild beschreibt eine unvermutete Veränderung: eingebildete Herrlichkeit und Glückseligkeit geht in Rauch auf. Übrigens wollen wir uns merken, dass die Rache Gottes gegen die Verworfenen nicht immer sofort sich offenbart, sie zu vernichten oder aus der Welt zu tilgen. Aber wenn Gott sie doch immer wieder hinwegrafft, sich als den Richter der Welt zeigt und die Erde säubert, verstehen wir es, dass der Prophet also von ihrem Untergang redet. Wenn also Gott seine Gerichte allmählich vollzieht, die Strafen aufschiebt und ruhig zusieht, wie die Gottlosen seine Geduld missbrauchen, so ist es auch unsere Sache, geduldig zu warten, bis der Herr die Langsamkeit durch die Schwere der Strafe gleichsam wieder gutmacht. Als „Schlacken“ werden die Gottlosen bezeichnet, weil sie jetzt wie unreine Bestandteile mit den Gläubigen vermischt sind und ihre Reinheit schmälern und beflecken. Werden sie aber wie Schmutz ausgestoßen, so leuchtet die Klarheit der Frommen umso heller. Im zweiten Satzglied fügt der Prophet hinzu, dass die Gerichte Gottes bei ihm ihr Ziel nicht verfehlt haben. Er kann sagen: darum liebe ich deine Zeugnisse. Wenn Gott mit aufgehobener Hand beweist, dass die Welt durch sein Regiment gelenkt wird, wäre es doch gar zu verkehrt, wollte man sich seinem Schutz nicht anvertrauen. Da er sich aber in freier Gnade durch sein Wort anbietet, so sind Leute, welche dieselbe nicht mit eiligem Eifer ergreifen, mehr als stumpfsinnig. Wenn er dagegen längere Zeit zu den Verbrechen der Menschen schweigt, erlahmt der Eifer der Frömmigkeit, der uns zur Liebe des göttlichen Wortes hätte fortreißen sollen.

V. 120. Ich fürchte mich vor dir usw. Diese Aussage scheint auf den ersten Blick gegen die vorangehende zu streiten, dass Gottes strenge Gerichte für den Propheten eine freundliche Lockung zur liebevollen Anhänglichkeit an seine Zeugnisse wurden. Denn jetzt erklärt er, dass Schaudern ihn ergriffen hat. Das sind freilich zwei sehr verschiedene Stimmungen. Wenn wir aber bedenken, mit welchen elementaren Mitteln Gott uns zur Ehrfurcht vor seinem Gesetz bildet, so werden wir einen trefflichen Zusammenklang finden. Sollen wir uns nach Gottes Gnade ausstrecken, so müssen wir durch Furcht gebeugt werden. Weil also die Furcht der Anfang der Liebe ist, bezeugt der Prophet, dass ernste Gottesfurcht ihn dazu erweckt habe, sich sorgfältig zu hüten. Die Abtötung des Fleisches ist eine so schwierige Sache, dass der Mensch sich ihr nur unter dem Zwang gewaltsamer Mittel ergibt. So dürfen wir uns nicht wundern, dass Gott seinen Knecht durch Furcht erschüttert hat, um ihn zu seiner Verehrung zu beugen. Es ist eine erkennenswerte Klugheit, dass man den Herrn fürchtet, wenn er seine Gerichte ausübt, an welchen die Welt meist mit geschlossenen Augen vorübergeht. Demnach lehren uns diese Worte des Propheten, dass wir Gottes Gerichte aufmerksamer betrachten müssen; sie sollen uns nicht bloß sanft unterweisen, sondern auch mit einem Schrecken erschüttern, der uns bis zur wahren Buße leitet.

121 Ich halte über dem Recht und Gerechtigkeit; übergib mich nicht denen, die mir wollen Gewalt tun. 122 Vertritt du deinen Knecht zum Heil; mögen mir die Stolzen nicht Gewalt tun. 123 Meine Augen schmachten nach deinem Heil und nach dem Wort deiner Gerechtigkeit. 124 Handle mit deinem Knecht nach deiner Gnade, und lehre mich deine Satzungen. 125 Ich bin dein Knecht; unterweise mich, dass ich erkenne deine Zeugnisse. 126 Es ist Zeit, dass der Herr dazu tue; sie haben dein Gesetz zerrissen. 127 Darum liebe ich dein Gebot über Gold und über fein Gold. 128 Darum halte ich stracks alle deine Befehle; ich hasse allen falschen Weg.

V. 121. Ich halte über dem Recht usw. Indem der Prophet Gottes Hilfe wider seine gottlosen Feinde anruft, bezeugt er zugleich, dass sie ihn ohne Grund belästigen. Sicherlich müssen wir dem Herrn mit dem Zeugnis eines guten Gewissens begegnen, wenn wir wünschen, dass er sich zur Hilfeleistung für uns herablasse. Er verheißt ja überall seine Hilfe den Elenden, die man ungerecht drückt. So ist diese Bezeugung des Propheten nicht überflüssig, dass er seine Feinde nicht gereizt, sondern sich von jeder Übeltat ferngehalten habe, so dass er nicht einmal versuchte, Böses mit Bösem zu vergelten. Er hat allezeit Gerechtigkeit geübt: was die Gottlosen auch unternahmen, er blieb standhaft in seinem anfechtbaren Verhalten und ließ sich niemals vom rechten und geraden Wege abbringen. Ähnlichen Inhalt hat auch die Bitte des nächsten Verses: Vertritt du deinen Knecht zum Heil. Die Fortsetzung lässt ersehen, dass David Gottes Beistand wider seine Feinde erbittet. Es ließe sich auch übersetzen: „Verbürge dich zu meinem Heil.“ Die Meinung ist: Herr, da sich zu meinem Verderben stolze Leute grausam erheben, so tritt du in die Mitte, als wenn du dich für mich verbürgest. Es ist dies eine überaus tröstliche Redeweise, dass Gott das Amt eines Bürgen auf sich nimmt, uns zu befreien. Er löst gleichsam unsere Schuldverhaftung, indem er mit seiner Zahlung für uns eintritt. Das Gebet zielt aber darauf, dass der Herr die Gottlosen nicht nach ihrem Belieben gegen uns wüten lasse, sondern als Rächer zu unserem Heil dazwischentrete. Die Worte deuten darauf hin, dass der Prophet sich in äußerster Gefahr befand und seine Hoffnung allein noch auf Gottes Hilfe setzen konnte.

V. 123. Meine Augen schmachten nach deinem Heil. David muss mit schweren Belästigungen ringen, und zwar nicht nur kurze Zeit, sondern derartig, dass er in Überdruss und Ermattung verschmachten konnte. Anderseits spricht er doch aus, dass er in so langen und schwierigen Kämpfen den Mut nicht verlor. Was es heißt, dass er nach Gottes Heil „schmachtet“, haben wir schon (zu V. 82) erklärt: auch wo kein Ende der Leiden abzusehen war und Verzweiflung von allen Seiten hereinbrechen wollte, hat er gegen die Versuchung bis zum Verschmachten seiner Seele angekämpft. Dass seine Augen schmachten, will doch nicht besagen, dass sie ermüden, sondern dass sie durch gespannteste Aufmerksamkeit gleichsam stumpf werden und doch nicht ablassen, ständig auf Gottes Heil zu schauen. Alles in allem: dies Schmachten deutet auf Beharrlichkeit, die sich mit stärkster Anstrengung verbindet. Es steht im Gegensatz zu einem bloß zeitweiligen Eifer, der alsbald ermattet, wenn der Herr nicht sofort auf die Gebete antwortet. Gottes „Heil“ deutet nicht auf eine bloß einmalige Hilfe, sondern auf den ununterbrochenen Lauf der Gnade, welche endlich die Gläubigen völlig hindurchrettet. Der Dichter beschreibt auch die Art und Richtung seiner Sehnsucht: er hat sich an Gottes Wort gehängt. Dabei ist ein Doppeltes zu bemerken: wir können auf Gottes Heil nicht anders warten, als dass wir auf seine Verheißungen trauen und uns dabei seinem Schutz übergeben. Zum andern lässt man dem Herrn das Lob für die Errettung nur dann zukommen, wenn man seine Hoffnung fest an sein Wort heftet. Denn auf diesem Wege muss man ihn suchen, und wenn er auch seine Kraft verbirgt, soll man auf seinen bloßen Verheißungen ausruhen. Darum ist von dem Wort seiner Gerechtigkeit die Rede. Auf die Zuverlässigkeit eines gerechten Wortes dürfen wir trauen: Gott speist uns nicht mit leeren Reden ab, wenn er uns freigebig seine Verheißungen zukommen lässt.

V. 124. Handle mit deinem Knechte usw. Die beiden Glieder dieses Verses müssen zusammengefasst werden. Denn David erbittet es nicht als zwei besondere Stücke, dass Gott sich ihm gnädig erweise und sodann sein Lehrer werde. Vielmehr wollen die Sätze besagen: Erweise mir deine Gnade darin, dass du mich deine Satzungen lehrst. Sicherlich besteht unser ganzes Glück darin, dass wir durch Gottes Wort wahrhaft weise werden. Die Zuversicht, dies zu erlangen, können wir aber allein darauf gründen, dass Gott uns seine Barmherzigkeit und Güte erweist. Der Prophet erhebt also die Größe und Vortrefflichkeit dieser Wohltat, wenn er um ihre Verleihung durch freie Gnade bittet. Wie glühend aber dies Anliegen war, und wie ernstlich er eben diesen Gebetswunsch verfolgte, zeigt die Wiederholung im nächsten Verse: Unterweise mich, dass ich erkenne deine Zeugnisse. Diese Worte zeigen deutlich, in welcher Weise Gott die Seinen lehrt; er erleuchtet ihren sonst blinden Verstand mit gesunder Einsicht. Es würde ja wenig nützen, wenn das Gesetz in unsre Ohren tönte, oder seine Schrift vor unsern Augen stände, und es mit der Stimme eines Menschen uns vorgetragen würde; Gott muss unsere Stumpfheit bessern und uns inwendig durch den verborgenen Antrieb seines Geistes gelehrig machen. Sollte aber jemand meinen, dass der Prophet dem Herrn irgendetwas von eigenem Verdienst vorhalte, wenn er sich seinen Knecht nennt, so lässt sich dies leicht widerlegen. Freilich bildet man sich gewöhnlich ein, dass Gott uns als Lohn für unsre guten Entschlüsse einen weiteren Gnadenzuwachs schenke. Aber der Prophet ist weit davon entfernt, die eigne Würdigkeit zu rühmen; ganz im Gegenteil weist er darauf hin, wie viel er dem Herrn verdankt. Denn es steht in keines Menschen Macht, sich zu einem Knecht Gottes zu machen; und niemand kann aus seinem Eigenen etwas beibringen, was ihm solche Würde erwürbe. Indem also der Prophet ganz richtig daran festhält, dass kein Sterblicher wert ist, in die Zahl der Gottesknechte gerechnet zu werden, hält er dem Herrn die Gnade vor, die er ihm geschenkt hat: er möge nun, wie es seine Weise ist, das angefangene Werk vollenden. So lasen wir auch im 116. Psalm (V. 16): „Ich bin dein Knecht, deiner Magd Sohn.“ Und dort ist ganz klar, dass der Dichter nicht seinen Gehorsam rühmt, sondern lediglich darauf hinweist, dass er ein Glied der Gottesgemeinde ist.

V. 126. Es ist Zeit, dass der Herr dazu tue. Indem der Dichter gottlosen und verbrecherischen Menschen die verdiente Rache anwünscht, erklärt er, die rechte Zeit dafür sein bereits gekommen, weil sie gar zu frech gegen Gott sich erhoben haben. Dass Gott etwas tun soll, lautet sehr nachdrücklich. Wenn er jetzt nicht des Richteramts waltet, müsste es scheinen, dass er zu lange zögerte. Denn es ist Gottes eigenes Werk, die Gottlosen im Zaum zu halten und sie hart zu strafen, wenn er sieht, dass sie ganz unverbesserlich sind. Es könnte jemand einwerfen, dass solches Gebet nicht mit der Regel der Liebe stimme. Es ist aber von verworfenen Leuten die Rede, bei welchen auf Umkehr nicht mehr gehofft werden kann. Wir dürfen nicht zweifeln, dass das Herz des Propheten sich von dem Geist der Weisheit leiten ließ. Zudem klagt er nicht über persönliche Belästigungen, sondern lässt sich durch ehrlichen und rechten Eifer zu dem Wunsch treiben, dass die Gottesverächter zugrunde gehen möchten. Nur dies eine stellt er in die Mitte: sie haben dein Gesetz zerrissen. Er beweist damit, dass ihm nichts über die Verehrung Gottes geht und er nichts Wertvolleres kennt als die Beobachtung des Gesetzes. Schon öfter habe ich darauf hingewiesen, dass unser Eifer verkehrt und ungeordnet ist, wenn wir uns von persönlichen Beleidigungen treiben lassen. Der Schmerz des Propheten erwuchs aber, wie wir uns fleißig einprägen wollen, lediglich daraus, dass er die Verletzung des göttlichen Gesetzes nicht tragen konnte. Sein Hauptanliegen ist, dass Gott in die verwirrten und verrotteten Zustände Ordnung bringen möge. So oft wir also die Erde mit Verbrechen angefüllt und befleckt und alle Ehrfurcht vor Gott geschwunden sehen, wollen wir aus Davids Beispiel lernen, ihn anzurufen, dass er als Rächer seiner Ehre erscheinen möge. Der Nutzen dieser Lehre ist der, dass sie unsre Hoffnung und Geduld stärkt, so oft Gott sein Gericht länger aufschiebt, als uns erwünscht ist. Bevor der Prophet seine Rede an Gott richtet, stellt er bei sich den Grundsatz fest, dass der Herr seiner Pflicht nicht vergisst, wenn er auch eine Zeitlang müßig scheint, und dass er seine Gerichte aus gerechten Ursachen nur aufschiebt, um sie zur richtigen Zeit endlich auszuführen.

V. 127. Darum liebe ich dein Gebot usw. Ohne Zweifel hängt dieser Vers mit dem vorigen zusammen. Sonst hätte ja das folgende „Darum“ keinen Sinn. Die Meinung ist: dem Dichter war Gottes Gesetz wertvoller als Gold und Edelsteine, weil er tief im Herzen die Überzeugung trug, dass die Zerstörung des Rechten und Guten nicht für immer ungestraft bleiben werde, wenn auch Gott eine Zeitlang die Sache gehen ließ. Je frecher er aber die Gottlosen dahinstürmen sah, desto mehr entbrannte er in heiliger Entrüstung und erfüllte seinen Geist mit umso glühenderer Liebe zum Gesetz. Eine überaus bemerkenswerte Stelle. Weiß man doch, was böse Beispiel ausrichten: jedermann hält für erlaubt, was allgemein geschehen darf; so reißt die böse Gewohnheit uns wie ein Wirbelsturm mit sich fort. Umso aufmerksamer sollen wir diese Lehre erwägen: wenn die Verworfenen sich eine zügellose Willkür anmaßen, sollen wir mit Augen des Glaubens auf Gottes Gerichte schauen, welche die Liebe zur Beobachtung des Gesetzes in uns erwecken. Ist jemals Anlass gewesen, diese Lehre auszunützen, so müssen wir heute alle Mühe anwenden, dass nicht die verbrecherische Verschwörung fast der ganzen Welt uns in die Auflehnung gegen das göttliche Gesetz verwickle. Vielmehr je rasender die Verworfenen sich erheben, desto mehr soll in uns die Ehrfurcht und Liebe zum Gesetz wachsen.

V. 128. Darum halte ich alle deine Befehle. Auch diese Folgerung ergibt sich aus derselben Lehre: weil der Prophet geduldig auf Gottes Gericht wartete und dasselbe mit glühendem Eifer erflehte, gab er dem Gesetz des Herrn in allen Stücken seine Zustimmung und eignete es sich restlos an. Darum kann er auch fortfahren: Ich hasse allen falschen Weg. Dass er alle Befehle des Herrn billigt und halten will, sagt er ausdrücklich und mit gutem Grunde. Denn es liegt nur zu nahe, dass man verschmäht und verwirft, was einem nicht gefällt. Je nach den Lastern, an denen ein Mensch leidet, wünscht er, dass das entsprechende Gebot aus dem Gesetz Gottes getilgt sein möchte. Wir haben aber nicht das Recht, irgendetwas beizufügen oder wegzunehmen. Und da Gott seine Gebote durch ein heiliges und unverletzliches Band miteinander verknüpft hat, so ist es unerträglich, eins von dem anderen zu trennen. Wir sehen also den Propheten in heiligem Eifer für das Gesetz wider die verbrecherische Aufsässigkeit seiner Verächter streiten. Auch wenn wir die Gottlosen in ihrer Frechheit Gottes spotten, sich bald übermütig erheben, bald einzelne Stücke des Gesetzes verdrehen sehen, so müssen wir uns mit umso größerem Eifer und Mut entzünden lassen, Gottes Wahrheit zu behaupten. Insbesondere die äußerste Gottlosigkeit unserer Zeit macht es erforderlich, dass die Gläubigen sich in diesem Streben üben; denn unheilige Menschen wetteifern, die Lehre des Heils mit ihrem Spott zu verfolgen und Gottes heiliges Wort mit ihren Witzen verächtlich zu machen; andere hören nicht auf, ihre Lästerungen auszuspeien. Darum würden wir dem Vorwurf treuloser Feigheit nicht entgehen können, wenn unsre Herzen nicht in heiligem Kampfeseifer glühen würden. Der Prophet sagt ja auch nicht bloß, dass er Gottes Gesetz völlig und ohne Ausnahme gebilligt, sondern auch, dass er die Wege der Lüge gehasst habe. Sicherlich unterschreibt nur der die Gebote Gottes mit völligem Ernst, der jede Schmähung verwirft, mit welcher die Bösen die Reinheit der gesunden Lehre beflecken und verdunkeln. Unter dem „falschen Weg“ versteht der Prophet ohne Zweifel alles, was sich von der Reinheit des Gesetzes entfernt. Jegliche Verderbnis, welche dem Wort Gottes widerstreitet, ist ihm ein Gräuel.

129 Deine Zeugnisse sind wunderbarlich; darum hält sie meine Seele. 130 Die Anfangsgründe deines Wortes erleuchten und machen klug die Einfältigen. 131 Ich sperre meinen Mund auf, und lechze nach deinen Geboten; denn mich verlanget darnach. 132 Wende dich zu mir, und sei mir gnädig, wie du pflegst zu tun denen, die deinen Namen lieben. 133 Lass meinen Gang gewiss sein in deinem Wort, und lass kein Unrecht über mich herrschen. 134 Erlöse mich von der Menschen Frevel, so will ich halten deine Befehle. 135 Lass dein Antlitz leuchten über deinen Knecht, und lehre mich deine Rechte. 136 Meine Augen fließen mit Wasser, dass man dein Gesetz nicht hält.

V. 129. Deine Zeugnisse sind wunderbarlich. Damit will der Prophet die Lehre des Gesetzes nicht einfach als eine wunderbare Sache bezeichnen, sondern auch darauf hinweisen, dass dieselbe tiefe und verborgene Geheimnisse in sich birgt. Weil er in Gottes Gesetz den Inbegriff erhabener und bewunderungswürdiger Weisheit erkannte, ließ er sich zur Ehrfurcht gegen dasselbe stimmen. Dies wollen wir uns fleißig einprägen. Denn die meisten Menschen verwerfen Gottes Gesetz in ihrem Hochmut, während sie doch seine Lehre gar nicht richtig geschmeckt noch verstanden haben, dass hier Gott von seiner Höhe herab redet. Wir aber wollen den Hochmut des Fleisches ablegen, das Gesetz mit dem Sinn des Glaubens erfassen und uns dadurch hoch emporheben lassen. Auch dies ergibt sich aus unsrer Stelle, dass man unmöglich Gottes Gesetz von Herzen halten kann, wenn man es nicht mit Ehrfurcht annimmt. Eben diese Ehrfurcht ist der Anfang reiner und rechter Unterwerfung. Ich sage, dass die meisten Gottes Wort darum verachten, weil sie sich ihm in ihrem Scharfsinn überlegen glauben. Ja, um mit ihrem Geist zu prunken, lassen sich viele zu einer frechen Verachtung hinreißen, welche dem Herrn seine Verehrung raubt. Mögen aber unheilige Leute sich in ihrem selbstgefälligen Hochmut bespiegeln, so bleibt doch der Lobspruch des Propheten wahr, dass Gottes Gesetz Geheimnisse umfasst, welche alles menschliche Begreifen weit übersteigen.

V. 130. Die Anfangsgründe deines Wortes erleuchten usw. Die Meinung ist, dass das Licht des göttlichen Wortes eine Klarheit besitzt, welche schon beim ersten Aufblitzen erleuchtend wirkt. Buchstäblich wäre zu übersetzen: die Eröffnung oder die Eingangstür deines Wortes. Gemeint sind aber die ersten Elemente des Unterrichts im göttlichen Worte. Der Prophet will sagen: nicht bloß diejenigen, welche das Gesetz bis zum letzten Buchstaben gelernt und sich vollkommen in ihm geübt haben, sehen darin ein helles Licht, sondern auch solche, die es nur eben geschmeckt und gleichsam nur auf der Schwelle gegrüßt haben. Nun sollen wir einen Schluss von dem Kleineren auf das Größere ziehen: wenn schon die Einfältigen und Elementarschüler beim ersten Eintritt Licht empfangen, was wird erst geschehen, wenn man zur vollen Erkenntnis vordringen durfte? Unter den Einfältigen sind nämlich solche Leute zu verstehen, die weder durch hohe geistige Begabung noch durch Klugheit sich auszeichnen, sondern als ungelehrte und ungebildete Leute dastehen. Von derartigen Menschen heißt es, dass sie mit Einsicht begabt werden, sobald sie nur die Anfangsgründe des göttlichen Gesetzes aufnehmen. Gewiss wird nicht einem jeden der Aufstieg bis zum höchsten Grade verliehen; soweit aber werden die Frommen insgesamt gefördert, dass sie eine gewisse Regel für ihr Leben in Händen haben. Niemand, der gelehrig sich dem Herrn zur Verfügung stellt, wird in seiner Schule sich vergeblich mühen, sondern schon im Vorhof eine unschätzbare Frucht gewinnen. Darin liegt zugleich der mahnende Hinweis, dass in Finsternis wandelt, wer seinem eigenen Sinne folgt. Denn dass die „Einfältigen“ erleuchtet werden, deutet darauf hin, dass brauchbare Schüler des Gesetzes nur solche Menschen werden, die alles Selbstvertrauen fahren lassen und sich dem Herrn unterwerfen. Mögen die Papisten lachen, wie sie zu tun pflegen, weil wir die Schrift jedermann zum Lesen in die Hand geben: Gott täuscht uns doch nicht, wenn er durch Davids Mund verkündet, dass das Licht seiner Lehre auch für Ungebildete bereitsteht. Leute, die im Bewusstsein ihrer Ungelehrtheit sich demütig dem Herrn unterwerfen, werden sich in ihrem ernsten Streben nicht betrogen sehen.

V. 131. Ich sperre meinen Mund auf. In diesen Worten beschreibt der Prophet seine Liebe und brennende Sehnsucht, in welcher er unablässig dem Gesetz Gottes wie mit fliegendem Atem entgegenlief. In diesem Bilde stellt er sich als einen hungrigen Menschen dar, der vor Begierde lechzt. Wie ein solcher den Mund aufmacht und in ängstlicher Gier schnappt, als wollte er die ganze Luft verschlingen, so bebte der Prophet in fortwährender Unruhe. Wie hebt sich doch ein solcher Zustand ab von einer bloß kalten Billigung des Wortes Gottes! Hier lehrt uns der heilige Geist, mit welch glühendem Eifer wir die Erkenntnis der göttlichen Lehre begehren müssen. Wir schließen daraus, dass ein Mensch, der im Gesetz Gottes schlechte Fortschritte macht, nur die Strafe für seine eigene Trägheit empfängt. Mit der Glut des Eifers verband sich aber die Beständigkeit: immerfort lechzte David nach Gottes Gebot.

V. 132. Wende dich zu mir usw. In diesem Vers bittet er, Gott möge sich seiner annehmen, wie er überhaupt gewohnt ist, auf die Seinen zu schauen: wie du pflegst zu tun. Buchstäblich: nach dem Recht oder der Weise mit denen, die deinen Namen lieben. Das Ziel, um dessentwillen Gott sich zu David wenden soll, ist die gnädige Erleichterung in seinem Elend. Wir haben es also mit dem Gebet eines bedrängten Mannes zu tun, der sich von Gottes Hilfe verlassen sah und nun nicht anders denken kann, als dass Gott selbst ihn verlassen und versäumt habe. Nun erwägt er aber bei sich selbst, dass dies dem Wesen und der Gewohnheit Gottes durchaus nicht entsprechen würde. Er will etwa sagen: Freilich erscheint mir kein Zeichen deiner Gunst, vielmehr ist meine Lage so jämmerlich und verzweifelt, dass ich nach dem Sinn des Fleisches glauben müsste, du habest mir den Rücken gewendet. Weil du aber seit Anbeginn der Welt bis auf diesen Tag durch unzählige Beweise dich gegen deine Verehrer barmherzig gezeigt hast, so offenbare doch diesem Maßstabe eine ähnliche Güte auch gegen mich! Übrigens wollen wir uns fleißig einprägen, dass der Prophet lange Zeit von Unglück bedrückt war, ohne irgendeine Erleichterung zu erfahren. Darum sollen wir den Mut nicht verlieren, wenn Gott uns nicht sofort antwortet. Zugleich aber wollen wir uns merken, dass der Prophet lediglich im Vertrauen auf Gottes unverdiente Güte seine Bitte ausspricht. Sie also war, trotz aller seiner ausgezeichneten Heiligkeit, seine einzige Zuflucht. Nur müssen wir uns Mühe geben, zu denen zu gehören, die Gottes Namen lieben. Damit werden die Gläubigen beschrieben. Denn als rechte Verehrer Gottes verdienen nicht anerkannt zu werden, die ihm nur um knechtischen Lohn dienen. Er fordert von uns einen freien Gehorsam; es soll uns nichts erquicklicher sein, als ihm zu folgen, wohin er uns ruft. Dabei wollen wir zugleich festhalten, dass diese Liebe aus dem Glauben geboren wird. Ja, der Prophet rühmt hier des Glaubens beste Frucht; er unterscheidet damit die Gläubigen, die auf Gottes Gnade ausruhen, von den unheiligen Menschen, welche den Lockungen der Welt sich ergeben und niemals ihre Gedanken zum Himmel emporheben.

V. 133. Lass meinen Gang gewiss sein (oder auch: lenke meine Schritte) in deinem Wort. Wieder einmal prägen uns diese Worte ein, dass es keine andere Regel für ein richtiges Leben gibt, als sich in völligem Gehorsam dem Gesetz Gottes anzupassen. Wir haben in diesem Psalm schon öfter gesehen: solange die Menschen es sich gestatten, nach ihren Gedanken umherzuschweifen, mögen sie noch so ängstlich sich mühen, - der Herr verschmäht, was sie hervorbringen. Einerseits erklärt nun der Prophet, dass man das Menschenleben erst dann richtig gestaltet, wenn man sich völlig dem Gehorsam gegen Gott ergibt. Anderseits gesteht er doch, dass dies durchaus nicht im Belieben oder in der Macht des Menschen liegt. Gottes Gesetz schreibt uns vor, was recht ist, macht uns aber damit um nichts besser. Darum wird die äußere Predigt mit einem toten Buchstaben verglichen (2. Kor. 3, 6). David, der rechtschaffen im Gesetz unterwiesen war, bittet also um ein willfähriges Herz, damit er auf dem Wege, den er sich vorgesetzt, wandeln könne. Man muss diese beiden Stücke scharf unterscheiden: es ist schon eine Freundlichkeit Gottes, wenn er die Menschen durch Wort und Lehre zu sich lädt; es bleibt dies aber alles kalt und erfolglos, bis er diejenigen, die er bereits belehrt hat, mit seinem Geist lenkt. David bittet nun nicht einfach, dass seine Schritte gelenkt werden möchten, sondern dass dies in Gottes Wort geschehe. Er schaute also nicht unter Hintansetzung des Wortes nach geheimen Offenbarungen aus, wie viele Schwärmer zu tun pflegen, vielmehr verknüpfte er die äußere Lehre mit der Gnadenwirkung des Geistes. Die wahre Vollkommenheit der Gläubigen besteht eben darin, dass Gott in ihre Herzen einprägt, was er ihnen durch sein Wort als Wahrheit gezeigt hat. So ist es ein ganz fader Trugschluss, Gott müsse wohl die Kräfte der Menschen hoch einschätzen, da er ihnen vorschreibt, was er getan wissen will. Denn die Lehre wird vergeblich in unser Ohr klingen, wenn nicht Gottes Geist wirkungskräftig in die Herzen dringt. Der Prophet gesteht, dass er vergeblich Gottes Gesetz liest und hört, wenn nicht der verborgene Antrieb des Geistes sein Leben regiert, so dass er in der Rechtschaffenheit jener Lehre nun wandelt. Das zweite Versglied erinnert, wie notwendig es ist, dass wir uns in dieser Bitte ständig üben. Wenn Gottes Hand sich uns nicht zur Befreiung entgegenstreckt, müssen wir ja Knechte der Sünde sein. Darum: Lass kein Unrecht über mich herrschen. Solange wir also uns selbst überlassen bleiben, herrscht Satan mit gewaltiger Kraft über uns, und wir haben keine Freiheit, uns seinem ungerechten Regime zu entziehen. Darin allein besteht die Freiheit der Frommen, dass sie von Gottes Geist regiert werden; dann unterliegen sie dem Unrecht nicht mehr, wie harte und schwere Kämpfe sie auch noch bestehen müssen.

V. 134. Erlöse mich von der Menschen Frevel. Indem der Prophet von seinen Erfahrungen berichtet, lässt er an diesem Beispiel ersehen, dass alle Frommen Räubereien und Unterdrückungen ausgesetzt sind und wie Schafe im Rachen der Wölfe stecken, wenn nicht Gott sie zu seinem Eigentum nimmt. Denn da nur sehr wenige sich durch Gottes Geist regieren lassen, ist es nicht verwunderlich, dass alles Streben nach Rechtlichkeit aus der Welt schwindet und alle sich allenthalben in jede Art von Verbrechen stürzen, dass die einen sich von Grausamkeit treiben lassen, die andern sich Trügereien ergeben. Da also der Prophet sich auf allen Seiten von Unrecht bedrängt sah, begibt er sich zu Gott als zu seinem Erlöser. Dieser Ausdruck deutet darauf hin, dass es um sein Heil geschehen wäre, wenn er nicht wunderbar gerettet würde. Im zweiten Satzglied verspricht er, dafür dankbar zu sein. Nichts soll uns ja mehr im Streben nach Recht und Gerechtigkeit stärken, als wenn wir erfahren, dass Gottes Schutz für uns mehr wert ist als alle unerlaubten Hilfsmittel, die unheilige Menschen sich zu verschaffen pflegen. Diese Stelle lehrt uns, dass man wider die Gottlosen nicht mit Bosheit streiten, sondern trotz aller ungerechten und gewaltsamen Bekämpfung sich allein mit Gottes erlösender Hilfe zufrieden geben soll. So oft wir aber Gottes Gnade zu unserer Befreiung erfahren, muss uns dies ein Stachel werden, ein rechtschaffenes Wesen zu pflegen; denn nur dazu erlöst uns Gott, dass man die Frucht der Befreiung in unserm Leben sehe. Es wäre ein Zeichen starker Verkehrtheit, wenn diese Erfahrung nicht ausreichte, uns in treuer Gottesfurcht verharren zu lassen; denn wenn auch die ganze Welt wider uns steht, so werden wir durch seine Hilfe doch stets unversehrt bleiben.

V. 135. Lass dein Antlitz leuchten usw. Dieser Vers wiederholt ein Gebet, dem wir schon öfter begegneten. Der Prophet lässt dadurch ersehen, dass ihm nichts mehr am Herzen liegt, als Gottes Gesetz recht zu verstehen. Wenn Gott sein Angesicht über seinen Knecht leuchten lassen soll, so ist dies freilich eine allgemeine Bitte um seine väterliche Gunst. Aber der Prophet erbittet diesen Erweis der Liebe Gottes doch eben zu dem Zweck, damit er in seinem Gesetz rechte Fortschritte mache. Er setzt also die himmlische Lehre über alle anderen Güter. Wäre doch solcher Sinn auch in unseren Herzen lebendig! Was aber der Prophet so hoch erhebt, wird fast von jedermann vernachlässigt. Und wenn ja einmal einen Menschen diese Sehnsucht packt, sehen wir ihn doch bald wieder in die Lockungen der Welt zurücksinken; nur sehr wenige stellen alle anderen Wünsche zurück, um sich mit David im vollen Ernst der Lehre des Gesetzes entgegenzustrecken. Weil aber der Herr dieses Vorzugs nur diejenigen würdigt, die er mit seiner väterlichen Liebe umfasst hat, muss den Anfang die Gebetsform bilden, er möge sein Angesicht über uns leuchten lassen. Doch hat dieser Ausdruck noch einen weiteren Inhalt, nämlich dass Gott die Gläubigen erst dann mit den Strahlen seiner Gnade erquickt, wenn er ihren Sinn durch das wahre Verständnis seines Gesetzes erleuchtet. Oft aber wird auch ihnen in diesem Stück das Antlitz Gottes verdunkelt, wenn er sie des rechten Geschmacks an seinem Wort beraubt.

V. 136. Meine Augen fließen mit Wasser. David zeigt sich von einem nicht gewöhnlichen Eifer für die Ehre Gottes entbrannt, wenn er ob der Verachtung des Gesetzes ganz in Tränen zerfloss. Mag sein Ausdruck auch übertrieben sein, so ist doch der wahre und schlichte Sinn, dass er in einer Stimmung sich befand, wie er sie auch im 69. Psalm (V. 10) ausdrückt: „Der Eifer um dein Haus hat mich gefressen.“ Wo Gottes Geist regiert, erweckt er sicherlich diese Glut und lässt fromme Seelen darüber entbrennen, dass sie die Herrschaft des höchsten Gottes für nicht geachtet sehen. Denn es ist nicht genug, dass ein jeder von uns dem Herrn zu gefallen trachte: wir müssen auch wünschen, dass sein Gesetz von jedermann wertgeschätzt werde. So quälte nach dem Zeugnis des Petrus (2. Petr. 2, 8) der gerechte Lot seine Seele, weil er in Sodom eine Flut von allen Lastern herrschen sah. Wenn aber jemals die Unfrömmigkeit der Welt den Kindern Gottes eine solche Traurigkeit erregt hat, so sind wir heute zu einem Grade der Verderbnis hinab gestiegen, dass wir dreifach und vierfach stumpfsinnig sein müssten, könnten wir den gegenwärtigen Zustand mit sicherem Gemüte und trockenen Augen anschauen. Wie rast doch die Welt förmlich, den Herrn zu verachten und seine Lehre auszuspeien! Einige wenige bekennen sich mit dem Munde zu ihrer Annahme, aber kaum der Zehnte bekräftigt dies mit seinem Leben; inzwischen lassen sich ungezählte Scharen in den Betrug Satans und des Papstes hinreißen, andere sind gleichgültig wie unvernünftige Tiere, viele Epikuräer verspotten öffentlich die Religion. Ist also noch ein Tropfen von Frömmigkeit in uns übrig, so müssen nicht nur einzelne Tränen aus unsern Augen fließen, sondern ganze Bäche. Wollen wir ein Zeichen reinen und echten Eifers geben, so muss dies der Anfang unseres Schmerzes sein. Sehen wir doch, wie weit wir von vollkommener Erfüllung des Gesetzes entfernt sind, ja wie die sündhaften Begierden des Fleisches sich immer wieder gegen Gottes Gerechtigkeit erheben.

137 Herr, du bist gerecht, und dein Wort ist recht. 138 Du hast die Zeugnisse deiner Gerechtigkeit und die Wahrheit hart geboten. 139 Ich habe mich schier zu Tode geeifert, dass meine Widersacher deiner Worte vergessen. 140 Dein Wort ist wohl geläutert, und dein Knecht hat es lieb. 141 Ich bin gering und verachtet; ich vergesse aber nicht deiner Befehle. 142 Deine Gerechtigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit, und dein Gesetz ist Wahrheit. 143 Angst und Not haben mich getroffen; ich habe aber Lust an deinen Geboten. 144 Die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig; unterweise mich, so lebe ich.

V. 137. Herr, du bist gerecht usw. Dieser Vers erteilt dem Herrn das Lob der Gerechtigkeit und erkennt dieselbe auch in seinem Wort oder Gesetz an. Buchstäblich lautet der Ausdruck freilich: „Deine Gerichte sind recht.“ Aber es wird schwerlich an die Strafgerichte zu denken sein, welche Gott über die Menschen verhängt, sondern an die gerechten Ordnungen seines Gesetzes. Der Prophet will zum Ausdruck bringen, dass man nirgend sonst einen Tropfen von Gerechtigkeit findet, wenn man sich von Gott entfernt. Den Ausdruck und Erweis dieser Gerechtigkeit haben wir im Gesetz: wenn man nicht alle seine Vorschriften unterschreibt, beraubt man den Herrn seines Lobes. Eben darauf zielt der nächste Vers: in seinem Gesetz hat Gott die vollkommene Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit aufgestellt. Diese lobenden Bezeichnungen werden der Lehre des Gesetzes gegeben, damit jedermann aus derselben Weisheit schöpfe und sich nicht einbilde, anderswo Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit zu finden, wie der Mensch sich nur zu gern seinen eigenen Entwurf eines gerechten Lebens macht.

V. 139. Ich habe mich schier zu Tode geeifert usw. Der Prophet spricht von seinen Verfolgern, welche ihm ohne Zweifel viele Belästigungen bereiteten. So feindlich und grausam sie sich aber stellten, so kann er doch sagen, dass er sich viel weniger durch persönliches Unrecht getroffen fühlte, als durch die Verletzung des Gesetzes Gottes. Der Schmerz darüber rieb ihn dermaßen auf, dass persönliche Beunruhigung ihn gar nicht rührte. Er gibt uns damit ein überaus nützliches Vorbild: denn wir sind sehr empfindlich gegen Beleidigungen; sobald man uns nur mit einem Finger anrührt, entbrennen wir in Jähzorn; Beleidigungen Gottes dagegen lassen uns kalt. Würde der Eifer des Propheten in uns lebendig sein, so müsste er uns in eine ganz andere Traurigkeit hineintreiben, die uns dann ganz erfüllen würde. Den Grund seines Eifers verzeichnet der nächste Vers: er hat Gottes Wort lieb. Denn es wäre reine Heuchelei, wollten wir uns über die Verachtung des göttlichen Wortes entrüsten und dieselbe heftig verdammen, wenn die Liebe dazu uns nicht ganz gefangen hielte. Die Liebe des Propheten zu Gottes Wort ist nun nicht gedankenlos, noch entspringt sie aus einer unüberlegten Stimmung: sie gründet sich vielmehr darauf, dass er es mit reinem Gold oder Silber vergleichen kann, welches von allen Beisätzen und Schlacken wohl geläutert ist. Indem er so Gottes Wort gegen alle verkehrten und böswilligen Urteile in Schutz nimmt, stellt er uns den wahren Gehorsam des Glaubens anschaulich dar. Fast ein jeder spritzt ja durch seinen Zweifelmut, durch Verdrießlichkeit, hochfahrendes Wesen oder weichliche Empfindlichkeit irgendeinen Flecken auf Gottes Wort. Wenn nun das Fleisch so widerspenstig ist, so bedeutet es rein nicht gewöhnliches Lob der himmlischen Lehre, dass jemand dieselbe wohl geläutertem Golde vergleicht, dessen Reinheit über jeden Schmutz erhaben ist. Zur Glaubwürdigkeit dieses Zeugnisses trägt es übrigens nicht wenig bei, dass der Prophet dasselbe durch eigene Erfahrung bekräftigt. Er erklärt, dass er aus tiefster Herzensempfindung rede: die Reinheit des Gesetzes, auf die er hinweist, ist seine süßeste Freude. Damit hält er unsre Zügellosigkeit in Schranken, die nur zu leicht an Gottes Wort irgendwelchen Flecken finden zu dürfen glaubt.

V. 141. Ich bin gering usw. Obwohl der Dichter durch Mangel und mancherlei Elend angefochten war, verharrte er doch treulich in der Pflege der Frömmigkeit und in der Beobachtung des Gesetzes. Auf seine verächtliche Lage weist er darum hin, weil jedermann dem Herrn nur so viel an Lob zuteil werden lässt, als er sich durch seine Guttätigkeit gesättigt fühlt; und unter hundert wird man kaum einen finden, der sich dem Dienste Gottes von Herzen ergäbe, wenn ihm nicht alle seine Wünsche erfüllt werden. Darum sind heuchlerische Menschen mit dem Lobpreis Gottes so lange äußerst freigebig, als sie üppig gesättigt werden, Reichtümer aufhäufen können und Macht ausüben dürfen. Sobald Gott aber anfängt, sie etwas rauer zu behandeln, hören sie auf, seinen Namen zu preisen. Solcher Menschen Gottesverehrung ist bloßer Lohndienst. Wir aber sollen nach dem Beispiel des Propheten lernen, dass wahre Frömmigkeit nicht auf Bezahlung ausgeht, und sollen unablässig Gott preisen, obwohl er uns durch Unglück niederbeugt und vor der Welt verächtlich macht. Es ist ein sehr bemerkenswerter Vorwurf, den Christus erhebt (Joh. 6, 26): „Ihr suchet mich nicht darum, dass ihr Zeichen gesehen habt, sondern dass ihr von dem Brot gegessen habt und seid satt worden.“ Zur echten und treuen Gottesverehrung gehört also, dass wir in seiner Furcht beständig bleiben, obwohl wir uns in verächtlicher Lage befinden. Wir suchen auf Erden keinen Lohn, sondern gehen durch Hitze und Kälte, Mangel und Gefahren, Schmach und Spott im Lauf unserer Ritterschaft unermüdet vorwärts.

V. 142. Deine Gerechtigkeit ist eine ewige Gerechtigkeit. Hier empfängt Gottes Gesetz das weitere Lob, dass es ewige Gerechtigkeit und Wahrheit ist. Die Meinung ist: alle anderen Lebensregeln, wie scheinbar sie auch glänzen, sind nur flüchtige Schatten. Ohne Zweifel will der Prophet die Lehre des Gesetzes allen Sittenvorschriften gegenüberstellen, die man jemals überliefert hat, und will alle Gläubigen zum Gehorsam in dieser Schule vollkommener Weisheit drängen. Wie einleuchtend es auch scheint, was menschlicher Scharfsinn fein erdacht hat, so fehlt ihm doch der starke und feste Grund. Diese Zuverlässigkeit des Gesetzes Gottes rühmt der Dichter im nächsten Verse an der besonderen Erfahrung, dass er unter der schweren Qual von Versuchungen darin doch Trost gefunden habe. Dies ist die rechte Probe darauf, ob wir Fortschritte gemacht haben, dass wir gegen jede drängende Angst einen Trost aus Gottes Wort setzen können, der alle Traurigkeit aus unsrer Seele verscheucht. Dieser Satz hat aber einen noch umfassenderen Inhalt als der frühere, in welchem der Dichter erklärte, dass er in treuer Gottesverehrung verharrt habe, obwohl dies angesichts seiner harten und rauen Behandlung vergebliche Mühe schien. Jetzt aber sagt er, dass er für Angst und Kreuz in Gottes Gesetz die süßeste Erquickung finde, die alle Schmerzen lindert und nicht bloß ihre Bitterkeit mäßigt, sondern sie auch mit ihrer Lieblichkeit würzt. Wo dieser Geschmack uns nicht erfreut, liegt freilich nichts näher, als dass wir uns von der Traurigkeit verschlingen lassen. Unter den Geboten Gottes muss hier nun die gesamte Lehre des Gesetzes verstanden werden: denn die bloßen Forderungen würden uns nicht trösten, noch unsere Übel heilen, sondern uns nur größere Angst einflößen. In seinem ganzen Gesetz aber fordert Gott nicht bloß, was recht ist, sondern lädt seine Auserwählten auch zur Hoffnung ewigen Heils ein und tut ihnen damit die Tür zu voller Glückseligkeit auf. Im Gesetz ist auch die gnädige Annahme zur Kindschaft samt allen daraus fließenden Verheißungen enthalten.

V. 144. Die Gerechtigkeit deiner Zeugnisse ist ewig. Der Vers wiederholt, was wir schon hörten, dass die Gerechtigkeit Gottes ganz etwas anderes ist als menschliche Fündlein, deren Glanz erbleicht, während sie für die Dauer feststeht. Es wird dies zweimal eingeprägt: denn wenn die Welt sich auch gezwungen sieht, dem Gesetz Gottes das Lob der Gerechtigkeit zu erteilen, so lassen sich die meisten doch zu ihren Träumereien fortreißen. Und nichts ist schwieriger, als uns an den Gehorsam gegen Gott selbst gebunden zu halten. Eben darauf zielt nun David hier, dass eine ewige oder bleibende Gerechtigkeit nirgend anders begriffen ist als in Gottes Gesetz, und dass man sie überall sonst vergeblich suchen wird. Dieser Gerechtigkeit wird darum ganz klar als diejenige bezeichnet, die in Gottes „Zeugnissen“ sich findet. Im Blick auf sie ergeht auch das Gebet: unterweise mich. Diese Bitte um Erleuchtung des Sinnes lautet freilich allgemein. Aber David weiß doch von keiner anderen Einsicht, als die aus dem rechten Fortschritt im Gesetz hervorgeht. Nur wenn er dieses Lichtes himmlischer Weisheit nicht entbehrt, kann er im vollen Sinne sagen: so lebe ich. Denn die Menschen sind sicherlich nicht dazu geschaffen, wie Schweine und Esel ihren Bauch zu füllen, sondern sich in der Erkenntnis und Verehrung Gottes zu üben; wenn sie unter diese Linie hinabsteigen, ist ihr Leben übler als ein tausendfacher Tod. David weiß von Leben nur zu sagen, wenn er nicht bloß mit Speise und Trank sich nährt und irdische Vorteile genießt, sondern zu einem besseren Leben sich ausstreckt, zu welchem uns allein der Glaube den Weg zeigen kann. Dies ist eine überaus nützliche Erinnerung. Freilich ist es eine Binsenwahrheit, dass der Mensch darauf angelegt ist, durch seine Vernunft über den Tieren zu stehen; aber die meisten unterdrücken wie absichtlich alles Licht, was Gott in ihre Seele fallen lässt. Gewiss bemüht sich jedermann, scharfsinnig zu sein. Aber wie viele streben nach dem Himmel und halten dafür, dass Gottesfurcht der Weisheit Anfang ist? So oft also das Trachten nach dem himmlischen Leben durch irdische Sorgen überschüttet wird, steigen die Menschen in ein Grab hinab; sie leben der Welt und sterben für Gott ab.

145 Ich rufe von ganzem Herzen; erhöre mich, Herr, dass ich deine Satzungen halte. 146 Ich rufe zu dir; hilf mir, so werde ich deine Zeugnisse halten. 147 Ich komme in der Frühe, und schreie; auf dein Wort hoffe ich. 148 Ich wache auf, wenn´s noch Nacht ist, zu sinnen über dein Wort. 149 Höre meine Stimme nach deiner Gnade; Herr, mache mich lebendig nach deinen Rechten. 150 Die der Bosheit nachjagen, nahen herzu und sind ferne von deinem Gesetze. 151 Herr, Du bist nahe, und deine Gebote sind eitel Wahrheit. 152 Längst weiß ich aus deinen Zeugnissen, dass du sie für ewig gegründet hast.

V. 145. Ich rufe von ganzem Herzen. Dieser Vers kann in geschlossenem Zusammenhang gelesen werden und würde dann am Ende von dem Inhalt des Gebets Kunde geben. Der Dichter würde in brennender Sehnsucht darum bitten, dass es ihm verliehen werde, Gottes Gesetz zu halten. Der nächste Vers zwingt doch zu einer anderen Satzabteilung. David bittet um Erhörung und verspricht als Zeichen der Dankbarkeit, seine Gebote halten zu wollen: Hilf mir, so werde ich deine Zeugnisse halten. Dass er „ruft“, deutet also nicht auf eine bestimmt mitgeteilte Bitte, sondern besagt allgemein, dass er sich mit ganzer Kraft an Gott wendete, während die Kinder dieser Welt sich hierhin und dorthin umtreiben lassen. Allerdings beten viele wenigstens obenhin, weil sie sich gezwungen sehen, Gott als den Geber aller guten Gaben anzuerkennen. David dagegen erklärt, dass er „von ganzem Herzen“ gebetet habe. Sind aber seine Anliegen erhört worden, dann stellt er sich als Zweck Gottes Ehre vor Augen und will sich mit umso größerem Eifer seinem Dienst weihen. Gewiss ist ein Lobopfer eine rechte Verehrung des Herrn. David aber will sich gegen die Heuchler abheben, welche mit kaltem und gequältem Lob Gottes Namen entweihen: darum sagt er mit gutem Grunde, dass er mit seinem Loben und seinen Werken den Dank erstatten will.

V. 147. Ich komme in der Frühe usw. Buchstäblich: Ich komme dem Morgengrauen zuvor. David hat es also mit seinem Gebet besonders eilig. Und dass er „schreit“, ist immer ein Ausdruck besonderer Inbrunst, der weniger auf den Klang der Stimme, als vielmehr auf die Anspannung der Seele deutet. Von seiner Eile gibt er Zeugnis als von einem Beweis der Beharrlichkeit. Hebt er auch früh an mit seinem Gebet, so ermüdet er doch nicht alsbald. Die Ungläubigen werden ungehalten und hadern mit Gott, wenn er auf ihre Gebete nicht sofort antwortet. David aber verbindet mit glühender Sehnsucht hoffende Geduld und zeigt damit, wie man recht beten soll. Wenn Paulus sagt (Phil. 4, 6), dass wir unsere Bitten mit Danksagung vor Gott kund machen sollen, so erinnert er damit, dass man alle unruhigen Leidenschaften dem Gebet fernhalten muss. Denn es ist auch der Zweck des Gebets, dass wir unsre Hoffnung nähren sollen. Nicht überflüssig ist der Hinweis auf Gottes Wort: denn nur wenn dieses uns immer vor Augen steht, lässt sich die Maßlosigkeit unseres Fleisches zügeln.

V. 148. Ich wache auf, wenn´s noch Nacht ist. Buchstäblich: Meine Augen kommen den Nachtwachen zuvor. David war also eifriger auf Gottes Gesetz bedacht, als Wächter auf ihre Nachtwachen. Sein Streben ist, „zu sinnen über dein Wort“ . Andere übersetzen: „dass ich rede von deinem Wort.“ Wäre dies richtig, so würde der Prophet sich einen Eifer für die Belehrung der Brüder zuschreiben, der sich keine Ruhe gönnt. Indessen ist die Nacht keine passende Zeit, von Gottes Wort zu reden: vielmehr rief sich David in sinnendem Schweigen ins Gedächtnis zurück, was er zuvor gelernt hatte, und erfüllte die Nacht mit der Betrachtung des Gesetzes.

V. 149. Höre meine Stimme nach deiner Gnade. Lediglich die unverdiente Gnade wurde dem Beter zur Unterlage der Erhörungszuversicht. Was auch die Heiligen in ihrem Gebet vorbringen mögen, den Anfang müssen sie immer mit Gottes freier Gnade machen. In diesem Sinn ist auch im zweiten Satzglied von Gottes Rechten die Rede. Denn weil Gott seine Güte im Wort kundgetan hat, müssen wir aus diesem deren Gewissheit schöpfen. Indem der Prophet erkennt, dass er des Erbarmens Gottes bedarf, begibt er sich gerades Wegs zum Wort, wodurch Gott die Menschen freundlich zu sich lädt und zusagt, dass seine Gnade für jedermann bereit und offen daliegen soll. Will jemand also mit voller Sicherheit wissen, dass Gott ihm gnädig sein wird, so möge er mit dem Propheten darum bitten, dass er ihm leiste, was er versprochen hat. Das Gebet: „Mache mich lebendig“ bezeugt, dass David mitten im Leben sich wie tot fühlt, wenn Gottes Kraft ihn nicht hält. Wer seiner eigenen Schwachheit sich recht bewusst ist, wird in jedem Augenblick darum bitten, dass Gott ihn am Leben erhalte, weil er selbst sein Leben für nichts hält. Außerdem aber hat Gott seinen Knecht oft derartig geübt, dass er gleichsam aus dem Grabe um Wiederbelebung beten musste.

V. 150. Die der Bosheit nachjagen, nahen herzu. Man übersetzt den Satz auch etwas abweichend, was aber dem Text nicht entspricht. David weist auf boshafte Leute hin, die zu seinem Verderben anstürmen. Dabei kümmern sie sich nicht um Gottes Gesetz und trachten überhaupt nicht mehr nach dem, was recht und billig ist. Angesichts dieser Leute wäre die Lage des Propheten eine ganz jämmerliche gewesen, wenn nicht auf der andern Seite Gott nahe bei ihm gestanden hätte, womit er sich ja sofort tröstet: Herr, Du bist nahe. Also wird er auch zur rechten Zeit Hilfe bringen. Ähnlich sagt auch Paulus (Phil. 4, 5 f.): „Der Herr ist nahe, sorget nichts; eure Mäßigung lasset kund sein allen Menschen.“ Der Schluss des Verses will darauf hindeuten, dass Gott die Seinen in der Not niemals verlässt oder betrügt, weil seine Gebote oder Verheißungen eitel Wahrheit sind. In denselben verkündigt er aber, dass er immer für das Heil der Seinen sorgen will. So dürfen wir nicht zweifeln, dass Gottes Hand immer ausgestreckt sein wird, die Angriffe unsrer Feinde zurückzuschlagen. Denn es steht fest, dass er nicht vergeblich sich in seinem Wort als Schützer unseres Heils anbietet.

V. 152. Längst weiß ich aus deinen Zeugnissen, dass du sie für ewig gegründet hast. Andere übersetzen: „Ich weiß in Betreff deiner Zeugnisse“ usw. Der Prophet sagt aber ausdrücklich, dass er dieses Wissen aus den Zeugnissen Gottes selbst geschöpft hat. Es ist dies nun das Hauptstück unseres Glaubens, dass Gottes Wort Glaubwürdigkeit nicht bloß für gewisse Zeit besitzt, sondern immer unwandelbar bleibt. Sollen wir davon eine tiefinnerliche Überzeugung gewinnen, so bedarf es freilich einer inneren Offenbarung durch den Geist. Denn solange Gott nicht die Gewissheit seines Wortes in unserem Innern versiegelt, wird uns seine Glaubwürdigkeit stets anfechtbar bleiben. Und doch erklärt der Prophet mit gutem Grunde, dass er aus dem Wort gelernt habe. Denn sobald uns Gott durch seinen Geist erleuchtet, schafft er auch, dass wir jene Wahrheit, die ewig bleibt, im Spiegel des Wortes schauen.

153 Siehe mein Elend und errette mich; hilf mir aus, denn ich vergesse deines Gesetzes nicht. 154 Führe meine Sache und erlöse mich; mache mich lebendig nach deinem Wort. 155 Das Heil ist ferne von den Gottlosen; denn sie achten deine Satzungen nicht. 156 Herr, deine Barmherzigkeit ist groß; mache mich lebendig nach deinen Rechten. 157 Meiner Verfolger und Widersacher sind viele; ich weiche aber nicht von deinen Zeugnissen. 158 Ich sehe die Verächter und tut mir wehe, dass sie dein Wort nicht halten. 159 Siehe, ich liebe deine Befehle; Herr, mache mich lebendig nach deiner Gnade. 160 Von Anbeginn ist dein Wort Wahrheit; alle Rechte deiner Gerechtigkeit währen ewiglich.

V. 153. Siehe mein Elend usw. Davids Vorbild lehrt uns, dass die Frommen den Mut nicht verlieren dürfen, wenn sie in der Welt üblen Lohn empfangen; das ist nun einmal ihre Lage, dass sie auf Erden streiten müssen. Darum ziemt es sich durchaus nicht, dass wir uns von Widrigkeiten verwirren lassen; vielmehr sollen wir in dem Trost still werden, dass die Tür zur Anrufung Gottes offen steht. Wenn der Prophet dabei sagt: Ich vergesse deines Gesetzes nicht, so fordert er damit nicht Lohn, sondern will, wie er dies auch anderwärts (V. 125) tat, nur zeigen, dass er zu Gottes Knechten gehört. Das hat freilich in der gegenwärtigen Lage eine besondere Bedeutung. Denn es ist ein Zeichen seltener Tugend, dass man sich durch Widrigkeiten nicht von der Furcht Gottes abtreiben lässt, sondern mit den Anfechtungen ringt und den Herrn sucht, auch wenn er uns abzuschütteln scheint. Im nächsten Vers beschreibt David die Art seiner Bedrängnis. Er wird von bösen und gottlosen Leuten unverdient gequält: Führe meine Sache. Gott soll als sein Sachwalter auftreten und dem Unterdrückten zu seinem Recht helfen. Indem der Prophet den Herrn zur Verteidigung seiner Sache aufruft, zeigt er erstlich, dass ungerechte Gewalt, Verleumdung oder Betrug auf ihm lasten. Und indem er nach einem Erlöser ausschaut, lässt er ersehen, dass ihm die Kraft zum Widerstand fehlt, oder dass er in einer Weise verstrickt ist, die nur noch den hoffenden Ausblick auf Gottes Befreiungstat offen lässt. So muss er beten: Mache mich lebendig. Denn wer so tief hinab gestoßen ward, gleicht einem Toten. Passend fügt er hinzu: nach deinem Wort. Denn unsre Lebenshoffnung leuchtet darum auf, weil Gott in seinem Wort verheißen hat, unser Befreier sein zu wollen. Indem also der Prophet aus der Finsternis sich dem Licht entgegenstreckt, stärkt und hält er sich aufrecht mit Gottes Wort.

V. 155. Das Heil ist ferne von den Gottlosen. Weil der Prophet überzeugt ist, dass die Welt durch die geheime Vorsehung Gottes, des gerechten Richters, regiert wird, zieht er aus diesem Grundsatz den Schluss, dass die Gottlosen vom Heil weit entfernt sind und ebenso das Heil von ihnen. Daraus erwächst Zuversicht zum Gebet. Denn wie Gott sich von seinen Verächtern abwendet, so ist er bereit, seinen Knechten zu helfen. Es ist nun bemerkenswert, dass der Prophet, als er seine Feinde durchs Glück erhoben sah, sein Herz im Glauben noch höher erhob und mit Sicherheit feststellte, dass alle ihre Freuden verflucht sind und zum Verderben führen. So oft wir also sehen, dass den Gottlosen alles nach Wunsch geht, sie sich üppig sättigen und in ihrem Fett übermütig werden, wollen wir diesen Schild, den der heilige Geist uns in die Hand gibt, zu unserer Deckung vorhalten. Leute, die nach Gottes Geboten nicht fragen, müssen endlich jämmerlich zugrunde gehen. Daraus ergibt sich die gegensätzliche Erkenntnis: Obgleich die Gläubigen, die treulich in der Furcht Gottes wandeln, wie zur Schlachtbank bestimmte Schafe scheinen, so ist ihr Heil doch nahe und in Gottes geheimer Hut geborgen. In diesem Sinne fügt der Prophet im nächsten Verse hinzu: Herr, deine Barmherzigkeit ist groß. Buchstäblich: Deine Barmherzigkeitstaten sind groß oder viel. Niemand also kann gerettet werden, als der zu dieser Barmherzigkeit seine Zuflucht nimmt. Und damit wir wagen, mit desto größerer Zuversicht zu nahen, wird dieselbe in der Mehrzahl geschrieben und so hoch gerühmt. Wir ziehen auch den Schluss, dass der Prophet mit dieser Barmherzigkeit sich zufrieden gab und nicht etwa seine Verdienste noch zur Hilfe herbeirief. Bemerken müssen wir freilich auch, dass er in vielerlei Anfechtungen heftig umgetrieben wurde, so dass er sich gezwungen sah, die Barmherzigkeit Gottes in ihrer ganzen Weite dagegen zu setzen. Den folgenden Satz: Mache mich lebendig nach deinen Rechten - deute ich auf Gottes Verheißungen. Der Prophet bekräftigt also noch einmal, dass er von Gott Leben nur erhoffen und erbitten kann, wenn er Hoffnung aus seinem Wort schöpft. Er prägt dies immer wieder ein, weil wir in diesem Stück nur zu vergesslich sind. Wollen wir aber ohne alle Furcht alle Gnade, die Gott seinen Knechte zusagt, auf uns beziehen, so möge uns immer der Grundsatz vor Augen stehen, dass Gottes Barmherzigkeitstaten groß und viel sind. Denn wenn wir meinen sollten, dass Gott verspricht, was er schuldig ist oder was wir verdient haben, so würde sofort ein Zweifel aufsteigen, welcher dem Gebet die Tür verschließt. Sind wir aber tief davon durchdrungen, dass Gott durch nichts anderes zu seinen Verheißungen sich bestimmen lässt, als weil er barmherzig ist, so werden wir ihm unbedenklich nahen: denn er hat sich aus freien Stücken verpflichtet.

V. 157. Meiner Verfolger sind viele usw. David wiederholt, was er auch sonst bezeugt hat, dass er trotz aller Reizungen durch vielerlei Unrecht vom rechten Wege sich nicht abbringen ließ. Ich habe schon erinnert, dass dies ein Beweis großer und einzigartiger Standhaftigkeit ist. Denn es ist leicht, im Verkehr mit guten Menschen recht zu handeln; wenn aber gottlose Leute uns reizen, wenn der eine uns mit gewaltsamer Hand angreift, der andere uns beraubt, noch ein anderer uns mit Betrug umgarnt oder mit Verleumdungen uns befehdet, so ist es schwer, sich unantastbar zu halten, - wir fangen an, mit den Wölfen zu heulen. Zudem ist die Frechheit, die jenen ungestraft zugelassen wird, wie ein gewaltsamer Ansturm, der unsern Glauben ins Wanken bringt; indem Gott hier durch die Finger sieht, scheint er uns ihnen zur Beute auszusetzen. Darum versteht der Prophet unter den Zeugnissen Gottes nicht bloß die Regel für ein gutes und gerechtes Leben, sondern auch die Verheißungen. Er will etwa sagen: Herr, ich bin nicht vom rechten Wege abgewichen, obwohl die gottlosen Leute mich dazu reizten; ich habe mir auch das Zutrauen zu deiner Gnade nicht erschüttern lassen, sondern habe geduldig auf deine Hilfe gewartet. Beides zusammen ist nötig. Denn wenn auch ein Mensch durch rechtschaffenes Handeln wider die Bosheit seiner Feinde streitet und Unrecht nicht mit Missetaten vergilt, so wird diese einwandfreie Haltung ihn doch nicht retten können, wenn er sich nicht ganz an Gott hängt. Sicherlich kann sich ja niemand bescheiden zurückhalten, wenn er nicht völlig auf Gott ausruht und von ihm Hilfe erwartet; aber auch wenn dies möglich wäre, könnte diese halbe Tugend nicht hinreichen; denn Gottes Heil ist für die Gläubigen aufbehalten, die ihn in ernstlichem Glauben anflehen. Wer aber überzeugt ist, dass Gott als sein Erlöser dasteht, stützt und hält seine Seele mit seinen Verheißungen und wird nun darnach streben, das Böse mit Gutem zu überwinden. Im nächsten Vers geht der Dichter noch weiter und spricht aus, dass ein heiliger Eifer ihn ergriff, als er Gottes Gesetz von den Frevlern verachtet sah: Ich sehe die Verächter, und tut mir wehe. Der letztere Ausdruck deutet vielleicht nicht bloß auf eine innere Entrüstung, sondern auch auf einen offenen Tadel, zu welchem David sich wider die Verächter Gottes erhob. Dem heiligen Zorn folgt fast notwendig die Tat zur Verteidigung der Ehre Gottes. Alles in allem: das Beispiel des Propheten mahnt uns, dass wir die Verachtung des göttlichen Wortes nicht ruhig hinnehmen, sondern uns zu Erregung und Widerstand treiben lassen sollen. Zuerst soll der Schmerz uns inwendig stechen, sodann sollen wir bei passender Gelegenheit auch die Frechheit und den Übermut der Feinde zu dämpfen suchen und unbedenklich ihre Wut gegen uns reizen.

V. 159. Siehe, ich liebe deine Befehle usw. Es ist festzuhalten, was ich schon sagte: So oft die Gläubigen vor Gott sich auf ihre Frömmigkeit berufen, wollen sie sich nicht auf Verdienste stützen, sondern halten sich an den Grundsatz, dass Gott, der zwischen seinen Verehrern und Verbrechern einen Unterschied macht, ihnen selbst gnädig sein werde, weil sie ihn von Herzen suchen. Zudem ist treue Liebe zu Gottes Gesetz ein gewisses Zeichen des Kindschaftsstandes: denn sie ruht auf der Wirkung des heiligen Geistes. Obwohl also der Prophet nichts sich selbst zuschreibt, stellt er doch mit gutem Grunde seine Frömmigkeit in die Mitte, um aus der Gnadenwirkung Gottes, die er erfahren durfte, desto gewissere Zuversicht auf Erhörung zu schöpfen. Dabei empfangen wir auch die Belehrung, dass die wahre Beobachtung des Gesetzes allein aus dem freien Trieb der Liebe geboren wird. Gott wünscht freiwillige Opfer, und der oberste Grundsatz eines rechten Lebens ist der, dass man ihn liebe, wie Mose sagt (5. Mos. 10, 12): „Nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir, denn dass du ihn liebest?“ Dasselbe wird in der Summe des Gesetzes wiederholt (5. Mos. 6, 5): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben.“ Darum hat David zuvor (V. 127) erklärt, dass ihm Gottes Gesetz nicht bloß ein Gegenstand hoher Schätzung, sondern der Liebe sei. Wie nun aber die Beobachtung des Gesetzes mit freiwilligem Gehorsam anheben muss, so dass wir die höchste Freude an Gottes Gerechtigkeit haben, so ist auf der andern Seite festzuhalten, dass allein die Empfindung von Gottes unverdienter Güte und väterlicher Liebe diese Stimmung in unserer Seele erzeugen kann: denn die bloßen Vorschriften locken die Menschen nicht, sondern schrecken sie vielmehr ab. Erst wenn man aus der Lehre des Gesetzes einen Geschmack für Gottes Güte gewonnen hat, wird man seine Seele zur Gegenliebe stimmen. Dass der Prophet aber so oft die Bitte wiederholt: mache mich lebendig – ist ein Beweis dafür, dass er sich der Gebrechlichkeit seines Lebens rechtschaffen bewusst war. Er weiß, dass die Menschen nur insoweit leben, als Gott ihnen in jedem Augenblick Leben einhaucht. Außerdem ist es aber wahrscheinlich, dass er fortwährend von vielfachem Tod umlagert war, damit er umso ängstlicher zur Lebensquelle fliehe. Wiederum aber gründet er seinen Glauben auf Gottes Gnade. Wir sehen daraus, dass er von der Prahlerei mit Verdiensten sehr weit entfernt war, da er seine Liebe zu Gottes Gesetz beteuert.

V. 160. Von Anbeginn ist dein Wort Wahrheit. Was der Prophet im letzten Grund sagen will, ist nicht undeutlich; die Worte aber können zwiefach verstanden werden. Einmal kann die Meinung sein, dass wir von dem Zeitpunkt an, da wir die Augen unseres Geistes auf die himmlische Lehre richten, sofort von seiner Wahrheit ergriffen werden (vgl. V. 130). Vielleicht empfiehlt sich noch mehr die andere Deutung, dass von Anbeginn der Offenbarung die gewisse Glaubwürdigkeit des Wortes Gottes feststeht und bis zu Ende bleiben wird. So würden die beiden Versglieder sich trefflich zusammenschließen: Gott war seit Anbeginn wahrhaftig in seinem Wort und wird in ununterbrochener Reihe ewiglich sich gleich bleiben. Die Rechte Gottes verstehen manche Ausleger als seine Gerichte oder Werke. Das ist nicht ganz unmöglich, passt aber schlecht in den Zusammenhang. Wir stellen vielmehr folgenden Sinn fest; seitdem Gott zu reden anfing, war er immer zuverlässig in seinen Verheißungen und hat niemals die Hoffnung der Seinen getäuscht; und der Lauf seiner Wahrheit blieb immer in der gleichen Bahn, so dass von Anfang bis zu Ende sein Wort als wahrhaftig und zuverlässig sich bewährt.

161 Die Fürsten verfolgen mich ohne Ursache; und mein Herz fürchtet sich vor deinen Worten. 162 Ich freue mich über deinem Wort wie einer, der eine große Beute kriegt. 163 Lügen bin ich gram und habe Gräuel daran; aber dein Gesetz habe ich lieb. 164 Ich lobe dich des Tages siebenmal um der Rechte willen deiner Gerechtigkeit. 165 Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben, und werden nicht straucheln. 166 Herr, ich warte auf dein Heil, und tue nach deinen Geboten. 167 Meine Seele hält deine Zeugnisse und liebet sie sehr. 168 Ich halte deine Befehle und deine Zeugnisse; denn alle meine Wege sind vor dir.

V. 161. Die Fürsten verfolgen mich usw. David erzählt, dass er in harter und schwerer Anfechtung sich in der Furcht Gottes hielt und nichts zu unternehmen trachtete, was eines frommen Mannes unwürdig gewesen wäre. Wie leicht können wir doch in Verzweiflung stürzen, wenn Fürsten, die mit Macht bewehrt sind, uns zu unterdrücken, sich feindlich und beschwerlich wider uns stellen. Dazu ist es doch ganz unwürdig, dass Leute, die unser Schutz und Schild sein sollten, ihre Kräfte zu unserem Schaden verwenden. Wenn elende Menschen in dieser Weise gleichsam aus der Höhe geschlagen werden, meinen sie, dass Gottes Hand wider sie stände. Ganz eigentümlich war es zudem bei dem Propheten, dass er mit den großen des auserwählten Volks zu kämpfen hatte, die Gott auf eine so ehrenvolle Stufe gestellt und zu Säulen der Gemeinde gemacht hatte. Zur allgemeinen Erläuterung des Sinnes ließe sich hier an das Wort des Herrn erinnern (Mt. 10, 28): „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben mag in der Hölle.“ Bekannt ist auch die Mahnung des Jesaja (8, 12): „Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen, sondern heiliget den Herrn Zebaoth; den lasset eure Furcht und Schrecken sein.“ Wenn man dem Herrn alle Sorgen überlässt und sich mit seinem Schutz zufrieden gibt, wird man sich nicht zu falschen Unternehmungen verleiten lassen. So sagt auch an unsrer Stelle der Prophet, dass er nicht unterlag, obwohl er durch ungerechte Gewalt der Fürsten unterdrückt war und als ein trauriges Schauspiel dastand; er stellte sich vor, was ihm erlaubt war, ahmte nicht ihre bösen Anschläge nach, setzte nicht Trug gegen Trug, noch Gewalt gegen Gewalt. Das ist es, was die Worte ausdrücken: mein Herz fürchtet sich vor deinen Worten. Dies heißt in Anwendung auf den besonderen Fall, dass er sich im Zaum hielt und nichts Unerlaubtes in Angriff nahm. Dass man ihn ohne Ursache verfolgte, wird zur Steigerung angemerkt; die Anfechtung war umso härter, weil die Tyrannen den unschuldigen Mann ohne jeden Anlass, lediglich in ihrer sündhaften Laune angriffen. Bekanntlich lassen sich edle Naturen leichter zum Jähzorn hinreißen, wenn jemand angegriffen wird, der niemand reizte. Der Prophet gab also ein herrliches Zeichen von Mäßigung, wenn er sich nach Gottes Wort einen Zügel anlegte und nicht mit bösen Waffen stritt, wenn er sich nicht durch Ungeduld besiegen und aus seinem Beruf drängen ließ. Wir wollen darum lernen, uns ruhig zu halten und nicht durch Aufruhr die gesetzliche Ordnung zu durchbrechen, selbst wenn Fürsten die ihnen von Gott verliehene Gewalt tyrannisch missbrauchen.

V. 162. Ich freue mich über deinem Wort usw. Bekanntlich verursacht kein Gewinn größere Freude, als wenn Sieger sich mit der Beute ihrer Feinde bereichern können; denn mit dem Gewinn verbindet sich der Ruhm des Triumphs, und der unerwartet erworbene Nutzen macht umso fröhlicher. Dies ist der Grund, weshalb David die Erkenntnis der himmlischen Lehre, die ihm zuteil geworden war, nicht mit irgendwelchen Reichtümern vergleicht, sondern vielmehr mit einer Beute. Er beschreibt damit eine ganz besondere Freude, die Gottes Wort ihm brachte, an welche kein sonst noch so erwünschter Gewinn heranreicht. Wir ziehen daraus den Schluss, dass er mit Gottes Wort als seiner vollen Ergötzung und festesten Glückseligkeit sich begnügte. Dies konnte aber nicht anders der Fall sein, als indem er sein Herz von bösen Begierden zurückzog. Und es ist nicht zu verwundern, dass David den ganzen Inbegriff eines glücklichen Lebens in Gottes Wort fand; denn er wusste, dass darin der Schatz ewigen Lebens beschlossen lag, der ihm durch die gnädige Annahme zur Kindschaft angeboten ward.

V. 163. Lügen bin ich gram usw. Was wir soeben anrührten, wird hier noch deutlicher ausgeführt. Der Dichter ließ sich von sündhaften Stimmungen reinigen, um dem Gesetz die rechte Ehre und Schätzung entgegenzubringen. Seine Liebe zu demselben beweist sich darin, dass er die Lüge hasst. Wissen wir doch, wie allen Herzen die Heuchelei angeboren ist und wie wir von Natur zu eitlem und trügerischem Wesen neigen: soll also in unserem Herzen die Liebe zum Gesetz regieren, so müssen wir eifrig an der Reinigung desselben arbeiten. Ist der Anfang eines rechten Lebens und das Hauptstück der Gerechtigkeit Hass und Abscheu gegen den Trug, so folgt, dass nichts besser ist als ganze, sittliche Klarheit. Denn wenn sie nicht die erste Stelle behauptet, werden alle Tugenden hohl. Mit gutem Grunde fügt der Dichter steigernd hinzu, dass er Gräuel an den Lügen hat. Wir sollen wissen, dass ein gewöhnlicher Hass nicht ausreicht; Kinder Gottes sollen feindlichen Abscheu beweisen. Wenn die Liebe zum Gesetz und der Hass gegen den Trug unzertrennlich verbunden sind, so muss jeder, der in Gottes Schule unterwiesen ward, der List und Heuchelei feindlich gegenüberstehen.

V. 164. Ich lobe dich des Tages siebenmal. Diese Zahl will besagen, dass der Prophet ständigen Eifer beweist, den Herrn zu loben. So heißt es auch (Spr. 24, 16), dass der Gerechte siebenmal fällt, d. h. dass er öfter mannigfachen Versuchungen unterliegt. Die Rechte Gottes werden auch hier nicht seine Gerichte sein, sondern die Lehren seines Gesetzes, mit denen sich ja dieser Psalm recht eigentlich beschäftigt. Alles in allem will David sagen: die eifrige Versenkung in Gottes Gesetz ließ ihn darin vollkommene Gerechtigkeit und Weisheit finden, so dass er immer wieder in Lobpreis und Danksagung ausbrach. Dieser Eifer für das Lob Gottes beweist, dass David nicht bloß ehrfürchtig und ehrenvoll von Gottes Gesetz sprach, sondern es als eine unvergleichliche Wohltat für das Menschengeschlecht ansah. Denn seine Bewunderung bringt nicht nur lobende Anerkennung zum Ausdruck, sondern auch Stimmungen der Dankbarkeit. Er sah, dass den Menschen nichts Herrlicheres geschenkt werden könne, als dass sie durch den unverweslichen Samen der himmlischen Lehre zum seligen und ewigen Leben erneuert werden. Unter hundert Leuten, welchen Gott diesen Schatz anbietet, setzt freilich kaum einer auch nur eine mäßige Bemühung daran, ihm zu danken. Allenthalben in der Welt herrscht sogar eine so große Böswilligkeit, dass manche die himmlische Lehre hochfahrend von sich stoßen, andere sie verspeien, noch andere wider das anbellen, was ihnen darin nicht gefällt.

V. 165. Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben. Unter dem Frieden könnte, wie dies öfter im Hebräischen der Fall ist, ein glücklicher Lebensstand verstanden werden. Dass die Menschen straucheln, wäre dann umgekehrt eine Beschreibung des Unglücks. Noch besser passt aber die andere Deutung, dass die Liebhaber des Gesetzes großen Frieden haben, weil sie wissen, dass sie und ihr Leben dem Herrn gefallen, und dass sie darin den Frieden eines guten Gewissens genießen. Wissen wir doch, dass diese wohlgemute Stimmung mit Recht als das Hauptstück eines glücklichen Lebens geschätzt wird: weil wir einen gnädigen Gott haben, gehen wir ruhig dahin, und seine väterliche Gunst strahlt in unsern Herzen wider. Der Prophet hat nun recht, wenn er behauptet, dass man solchen Frieden infolge der Liebe zum Gesetz erlange: denn wer sich an irgendetwas anderes hängt, wird beim geringsten Lufthauch immer wieder zittern. Nehmen wir diese Auslegung an, so bedeutet das zweite Satzglied, dass Leute, die Gottes Gesetz lieben, nicht straucheln werden, eben dies, dass ihnen alle Gemütserschütterungen fernbleiben, an welchen andere Menschen, die sich nicht auf Gottes stützen oder sich durch ihre Lüste und Menschenurteil bestimmen lassen, so jämmerlich leiden. In jedem Falle will der Prophet sagen, dass Menschen, die sich dem Herrn nicht ergeben, unglücklich sind: mögen sie auch eine Zeitlang mit sich zufrieden sein, so drohen ihnen doch viele Anstöße, die sie plötzlich auf die entgegen gesetzte Seite werfen. Dass man Gottes Gesetz lieben soll, deutet darauf, dass man diesen Frieden nicht durch eine knechtische Beobachtung erwirbt, sondern durch Glauben gewinnt: denn das Gesetz würde keine Süßigkeit haben, die uns locken könnte, wenn es uns nicht Gott als Vater zeigte und durch die Gewissheit ewigen Heils unsere Seele still machte. Unheilige Menschen aber und Gottesverächter erleben mit Recht in ihrem hochfahrenden und bösen Wesen ihre eigene Strafe; jeder von ihnen ist sein eigener Henker, und je trotziger sie sich das letzte Verderben herbeiziehen. Gewiss haben auch fromme Leute ihre inneren Unruhen, aber der Trost des Herzens wischt alle Beschwerde hinweg, richtet sie auf, so dass sie die Anstöße überwinden können, oder schafft eine Linderung, die sie vor dem Unterliegen bewahrt.

V. 166. Herr, ich warte auf dein Heil. Diesen Satz, der fast zum Gemeinplatz geworden ist, prägt der Prophet mit gutem Grunde öfter ein. Denn freilich ist nichts leichter, als dass man Gott als den Retter preist, - sehr selten findet man aber in der Welt ein Beispiel fester Hoffnung, wenn ein Mensch länger mit Anfechtung ringen muss. Aus der Hinzufügung des zweiten Satzgliedes: und tue nach deinen Geboten, ergibt sich der Schluss, dass man zuerst sein Heil beim Herrn suchen muss, wenn man in den Schranken der Gottesfurcht und eifriger Gesetzeserfüllung sich halten will. Wenn wir den Glauben an Gottes Gnade und damit die Geduld verlieren, lassen wir uns hierhin und dorthin reißen und vergessen des frommen Wandels. Darum ist die Haupttugend der Gläubigen Geduld unter dem Kreuz, Abtötung und Selbstverleugnung, mit welcher wir uns still unter Gott beugen. Neue Fortschritte machen wir nur dann, wenn wir unser Heil mit Gleichmut in Gottes Schoß geborgen glauben und nicht zweifeln, dass er ein treuer Vergelter für alle sein werde, die ihn suchen, wenn er auch seine Gnade unsern Augen entzieht. Denselben Gedanken drückt der nächste Vers bekräftigend mit etwas anderen Worten aus: Meine Seele hält deine Zeugnisse. Dass es die Seele tut, deutet darauf, dass der Fromme im tiefsten Herzensgrunde die Lehre des Gesetzes festhält. Als Grund dieses eifrigen Gehorsams wird hinzugefügt, dass er Gottes Zeugnisse sehr liebet. Denn wer nur aus Zwang und knechtisch dem Gesetz gehorcht, nimmt es nicht mit herzlicher Zustimmung auf sich, sondern wünscht es weit hinweg.

V. 168. Ich halte deine Befehle usw. Was der Dichter soeben mit besonderer Inbrunst aussprach, wiederholt er jetzt schlichter und gibt den Grund dafür an. Mit Gottes Befehlen verbindet er seine Zeugnisse. Damit lässt er deutlich ersehen, dass er nicht bloß an die Regel für das sittliche Leben denkt, sondern den ganzen Bund des Heils mit einschließt. Sicherlich könnte die Lehre des Gesetzes, welche vorschreibt, was gut ist, nicht so süß und lieblich erscheinen, wenn nicht im Vordergrunde Gottes freie Gnade stände. Der Grund, welchen der Prophet angibt: denn alle meine Wege sind vor dir – zielt darauf, dass das Bewusstsein von Gottes Allwissenheit ihn wie ein Zügel zur Pflege der Frömmigkeit leitete: denn wenn wir nicht gleichsam vor Gottes Augen unser Leben führen, reißt uns die Lüsternheit des Fleisches hierhin und dorthin. Auch darauf könnte der Dichter hinweisen, dass er bei allen seinen Taten an Gott denkt, nicht auf Menschenurteil Rücksicht nimmt, sondern sich vor des Herrn Richterstuhl stellt. Er bemühte sich, nicht bloß vor Menschen ohne Schuld und Tadel zu wandeln, sondern auch dem Herrn ein reines und treues Herz darzubringen. Jedenfalls empfangen wir hier einen Hinweis darauf, dass man Gottes Gesetz nur dann richtig erfüllt, wenn man bedenkt, dass wir es mit dem Herzenskündiger zu tun haben, dessen Augen nichts verborgen bleibt. Indessen könnte das letzte Satzglied auch eine Form der Beteuerung sein, etwa in dem Sinne: Herr, der du alles weißt, du bist auch der beste Zeuge dafür, wie treulich ich dein Gesetz gehalten habe.

169 Herr, lass mein Schreien vor dich kommen; unterweise mich nach deinem Wort. 170 Lass mein Flehen vor dich kommen; errette mich nach deinem Wort. 171 Meine Lippen sollen loben, wenn du mich deine Satzungen lehrest. 172 Meine Zunge soll ihr Gespräch haben von deinem Wort; denn alle deine Gebote sind recht. 173 Lass mir deine Hand beistehen; denn ich habe erwählet deine Befehle. 174 Herr, mich verlanget nach deinem Heil, und habe Lust an deinem Gesetze. 175 Lass meine Seele leben, dass sie dich lobe, und lass deine Gerichte mir helfen. 176 Ich bin wie ein verirret und verloren Schaf; suche deinen Knecht, denn ich vergesse deiner Gebote nicht.

V. 169. Herr, lass mein Schreien vor dich kommen. Der Dichter wiederholt, was wir schon hörten, dass es sein dringendster, vor allen anderen Anliegen herausgehobener Wunsch ist, im Gesetze Gottes Fortschritte zu machen. Sein „Schreien“ deutet auf die Inbrunst des Gebets. Er will sagen, dass diese Sorge ihn vornehmlich bewegt und diese Sehnsucht – wie es denn recht und billig ist – in seinem Herzen brennt, das Licht der Erkenntnis, welches unsern Vorzug vor den unvernünftigen Tieren bildet und uns ganz nahe an Gott heranrückt, über alle irdischen Vorteile zu setzen. Die Bitte: unterweise mich nach deinem Wort – lässt eine doppelte Deutung zu. Entweder wünscht David, dass sein Herz nach der Vorschrift des göttlichen Wortes gebildet werde, so dass er keine andere Weisheit kennt, als die aus der Lehre des Gesetzes kommt. Dies würde einen nicht üblen Sinn ergeben, wenn nicht die Bitte des nächsten Verses entgegenstände: errette mich nach deinem Wort. Ohne Zweifel sollen die beiden Sätze einander entsprechen. Darum wird die Meinung des ersten sein, dass David um die Gabe der Erkenntnis bittet, wie Gott sie in seinem Wort versprochen hat. Steht doch unter allen freigebigen Zusagen Gottes diese mir Recht obenan, dass wir durch die Erleuchtung seines Geistes wahre und gesunde Weisheit reichlich empfangen sollen. Der Nutzen dieser Lehre ist ein mannigfacher. Zuerst wird uns als die allererwünschteste Sache eingeprägt, dass Gott uns durch sein Licht leitet, damit wir uns über das unvernünftige Vieh erheben. Des weiteren können wir hier abnehmen, dass dies eine besondere Gabe des heiligen Geistes ist: denn David hätte nicht erst zu erbitten brauchen, was ihm von Natur angeboren gewesen wäre, oder was er durch eigene Bemühung hätte erlangen können. Als drittes kommt hinzu, was ich schon über Gottes Verheißung sagte: die Gläubigen sollen sich ohne Bedenken Gott zur Erleuchtung darbieten, der sich den Blinden als Führer anträgt, und dem es nicht zu gering ist, die Kleinen und Niedrigen zu lehren.

V. 170. Lass mein Flehen vor dich kommen. An die Bitte um rechte Erkenntnis schließt sich eine solche um äußere Befreiung. David befand sich also beständig in vielerlei Gefahren, aus denen er nur herauskommen konnte, wenn Gott ihm seine Hand vom Himmel entgegenstreckte. Wir wissen, dass er allemal Gottes Hilfe anrief, wenn irgendeine Not ihn drängte. Weil er aber hier allgemein redet, zweifle ich nicht, dass er sein Leben überhaupt dem Schutz Gottes übergibt: wenn nicht Gott fortwährend uns befreit, ist ja unser Leben von zahllosen Todesgefahren eingeschlossen. Das aber ist ein unschätzbarer Trost, dass in jeglicher Gefahr uns Gottes immer bereitstehende Hilfe verheißen werden kann.

V. 171. Meine Lippen sollen loben usw. Noch auf eine andere Weise als im vorigen Verse zeigt jetzt der Dichter, wie hoch er es schätzt, zu den Schülern Gottes sich zu zählen und in seiner Schule rechte Fortschritte zu machen: er kann darauf hinweisen, dass er mit vollem Munde dafür Dank sagt. Buchstäblich wäre zu übersetzen: „Meine Lippen sollen Lob sprudeln“, - also nicht einfach aussprechen, sondern in reicher Rede ergießen. Das Bild erinnert an einen sprudelnden Quell. Wie also Davids Beten soeben auf die Glut seines Begehrens deutete, so verspricht er jetzt, Dank erstatten zu wollen, und lässt daraus ersehen, dass ihm nichts wünschenswerter ist, als eine rechte Unterweisung in der himmlischen Lehre. Dies aber – so bekräftigt er es noch einmal – ist die Regel wahrer Weisheit, dass wir uns dem Wort Gottes unterwerfen und nicht selbst gemachten Einbildungen folgen; zum andern, dass Gott selbst unser Verständnis öffne und uns zum Gehorsam leite. Beides nämlich verbindet hier der Prophet: zuerst stellt Gott uns seine Satzungen vor Augen, aus welchen wir lernen müssen, was zu wissen heilsam und nützlich ist, sodann dankt David dem Herrn mit den Worten: „dass du mich lehrest.“ Gott muss uns also innerlich unterweisen, mit dem Geist der Einsicht erleuchten und unsere Unempfänglichkeit durch den Geist der Gelehrigkeit bessern. Der Schall des äußeren Wortes würde nicht genügen. Andererseits aber lassen wahre Schüler Gottes sich nicht durch geheime Offenbarungen von Gesetz und Schrift abbringen, wie die Schwärmer nur dadurch über die Anfangsgründe hinauszuwachsen meinen, dass sie Gottes Wort hochmütig mit Füßen treten und ihren eigenen Einbildungen nachfliegen.

V. 172. Meine Zunge soll ihr Gespräch haben von deinem Wort. Wenn der Dichter in Gottes Gesetz fortgeschritten ist, will er sich auch Mühe geben, andere zu unterweisen. Gewiss soll die Ordnung eingehalten werden, dass wir die Lehre erst weitergeben, nachdem sie in unsern Herzen Wurzel geschlagen hat. Aber es soll doch ein jeder nach dem Maß seines Glaubens den Brüdern mitteilen, was er empfangen hat; die Lehre soll nicht begraben werden, sondern Frucht und Nutzen nach Gottes Willen für die gemeinsame Erbauung bringen. Es wird auch der Grund angegeben, der alle Frommen zur Verkündigung des göttlichen Gesetzes treiben muss: denn alle deine Gebote sind recht. Es wird also auf diese Weise Gerechtigkeit über die ganze Welt verbreitet. Der Satz enthält nämlich nicht eine bloße Zustimmung zu Gottes Geboten, sondern lässt auch zwischen den Zeilen lesen, dass die ganze Welt von trauriger und schrecklicher Verwirrung voll ist, bis diese Regel der Gerechtigkeit zur Regierung des Menschengeschlechts aufleuchtet.

V. 173. Lass mir deine Hand beistehen; denn usw. Weil David sich der Lehre des Gesetzes ergeben hat, bittet er, dass Gottes Hand ihm helfen möge. Er erklärt also mit diesen Worten, dass der beständige Schutz Gottes für die Leute erforderlich ist, die sich unter das Regiment seines Wortes stellen. Sicherlich bekämpft Satan einen Menschen in demselben Maße ausgiebiger, als er mit vollem Ernst nach einem rechtschaffenen Wesen strebt; es mehren sich auch die Widersacher, die ihn belästigen. Sieht aber Gott, dass ein Mensch, der einmal seine Lehre ergriffen hat, beständig in diesem Vorsatz verharrt, so ist er ebenfalls geneigter, ihm zu helfen. Dass der Dichter Gottes Befehle „erwählet“ hat, will besagen, dass er sich durch nichts hindern ließ, sich dem göttlichen Gesetz anzuschließen. Es wird ja sich dies niemals ohne großen Kampf durchführen lassen, da einen jeglichen die sündhaften Begierden des Fleisches hierhin und dorthin ziehen. Dieses „Erwählen“, von welchem hier die Rede ist, zeigt also, dass die Kinder Gottes nicht aus Unwissenheit oder unüberlegtem Eifer die himmlische Lehre sich aneignen, sondern unter allen Schwankungen der Menschennatur und den verschiedensten Antrieben des Fleisches, die sie erfahren, ihre Seele mit bewusster Absicht unter den Gehorsam gegen Gott beugen.

V. 174. Herr, mich verlanget nach deinem Heil. Gewiss wünschen alle Menschen sich ein glückliches Leben; auch wird niemand Gottes Gunst geradezu verschmähen, - aber das Begehren nach Glück ist so verworren und wandelt auf solchen Irrwegen, dass kaum der Hundertste sich nach Gott ausstreckt. Die einen lassen sich von ihrem Ehrgeiz hinreißen, andere von Habsucht beherrschen, noch andere von Fleischeslust entflammen: je weiter sie also von Gott sich entfernen, umso glücklicher glauben sie zu werden. Ein jeglicher wünscht wohl bewahrt zu bleiben, aber durch die Mittel, die er für diesen Zweck wählt, zieht er nur Gottes Zorn herbei. Des Weiteren beschreibt unser Vers auch die Weise, wie man in Geduld das Heil suchen soll: Ich habe Lust an deinem Gesetze. Es gilt also für jedes Übel Trost und Erleichterung aus Gottes Wort zu schöpfen. Wer sich nicht durch das Vertrauen auf die verheißene Gnade erquickt, wird beim leichtesten Angriff ins Wanken kommen.

V. 175. Lass meine Seele leben, dass sie dich lobe. Indem David um Verlängerung seines Lebens bittet, gibt er zugleich den Zweck an, weshalb er zu leben wünscht: er will sich im Lobpreis Gottes üben. So hieß es auch im 115. Psalm (V. 18), dass wir, die wir am Leben bleiben, den Herrn loben werden. Im zweiten Satzglied bittet der Dichter, dass Gottes Gerichte ihm helfen mögen. An die „Rechte“, d. h. die gerechten Gebote Gottes zu denken, wäre in diesem Zusammenhange unpassend. David fühlt sich von zahllosen Übeln bedrückt, wie denn die Gläubigen wegen der zügellosen Frechheit der Gottlosen in dieser Welt wie Schafe unter den Wölfen wohnen. So ruft er Gott als Rächer an, dass er durch den verborgenen Zügel seiner Vorsehung alle Gottlosen abhalte, ihm zu schaden. Es ist dies eine überaus nützliche Lehre: wenn es in der Welt drunter und drüber geht und unser Heil unter mannigfachen Stürmen in Gefahr schwebt, sollen wir unsere Augen zu Gottes Gerichten erheben und bei ihnen Heilung suchen.

V. 176. Ich bin wie ein verirret und verloren Schaf. Das ist in diesem Zusammenhange nicht ein Sündenbekenntnis. Vielmehr vergleicht sich David mit einem verirrten Schaf, weil die gewaltsamen Angriffe der Feinde ihn umtrieben und er zitternd hier und dort einen Schlupfwinkel suchen musste. Wir wissen ja, wie er sich immer auf der Flucht befand, so dass ihm in der Verbannung niemals ein ruhiges Plätzchen zuteil ward. Darum passt dies Gleichnis auf ihn so trefflich, weil er trotz Vertreibung und Flucht niemals von Gottes Gesetz wich. Da ihn aber die Wölfe verfolgten, bittet er, dass Gott ihn suche und sammle, dass er ihm also eine sichere und ruhige Wohnung gebe und seinem Umherschweifen ein Ende mache. Er hat einen trefflichen Grund, zuversichtlich die Erhörung zu erwarten: denn ich vergesse deiner Gebote nicht – trotz alles erfahrenen Unrechts. Man wird dies richtiger auf seinen ganzen Lebenslauf beziehen müssen, als auf jede einzelne seiner Taten. Denn in seinem Ehebruch war er eine Zeitlang sittlich stumpf geworden. Sicherlich hat ihn aber im Unglück seine fromme Geduld in solchen Schranken gehalten, dass er standhaft die Gerechtigkeit pflegte.

Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter

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