Calvin, Jean - Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

Calvin, Jean - Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

Gotteserkenntnis ist der Weg zur Selbsterkenntnis. Es steht fest, daß der Mensch niemals eine reine Selbsterkenntnis gewinnen kann, wenn er nicht zuerst dem Herrn ins Angesicht schaut, um von dort aus den Blick auf sich selbst zurück zu lenken. Denn in unserem angeborenen Stolz halten wir uns selbst für gerecht, vollkommen, klug und weise, wenn wir nicht durch offenbare Beweise von unserer Ungerechtigkeit, Befleckung und Torheit und Unreinigkeit uns überzeugen müssen. Wir werden aber davon nicht überzeugt, wenn wir nur auf uns selbst schauen und nicht auch auf Gott, welcher allein der zuverlässige Maßstab unserer Selbstbeurteilung ist. Denn weil wir alle von Natur zur Heuchelei geneigt sind, geben wir uns mit jedem hohlen Schein von Gerechtigkeit schon reichlich zufrieden. Und weil wir um und um mit Schmutz besudelt sind, halten wir schon für rein, was nur vielleicht etwas weniger schmutzig ist. So hält das Auge, das an lauter schwarze Farbe gewöhnt, vielleicht schon ein schmutziges Grau für weiß. Überhaupt mögen wir aus der Erfahrung unseres leiblichen Auges ableiten, wie schwer wir uns im Urteil über unsere innere Tätigkeit täuschen. Denn so lange wir am hellen Tage nur die Erde anschauen mit allem, was uns umgibt, können wir unsere Sehkraft für scharf und stark halten; sobald wir aber mit geöffnetem Auge in die Sonne blicken wollen, wird die Sehkraft, die auf Erden völlig ausreicht, derart geblendet, daß wir gar nichts mehr sehen; was wir Sehschärfe nennen, erweist sich als Stumpfheit. Genau so geht es uns bei der Betrachtung geistlicher Gaben. So lange wir über das Diesseits nicht hinausblicken, schmeicheln wir uns in der angenehmsten Weise mit unserer Gerechtigkeit, Weisheit und Kraft, und es fehlt nicht viel, so hielten wir uns für Halbgötter. Fangen wir aber an, unsere Gedanken zu Gott emporzuheben, bedenken wir, wie er beschaffen ist und wir nach seiner vollkommenen Gerechtigkeit, Weisheit und Kraft gebildet sein sollten, so wird uns bald der Schmutz unserer Ungerechtigkeit anstarren, den wir zuvor für Gerechtigkeit hielten. Was wir als herrliche Weisheit bestaunten, wird uns als äußerste Torheit angrinsen; was den Schein der Kraft an sich trug, wird als jämmerliches Unvermögen offenbar werden. So wenig kann vor Gottes Reinheit bestehen, was das Vollkommenste an uns zu sein schien.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1925

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