Brockhaus, Rudolf - Die Gnade Gottes

Brockhaus, Rudolf - Die Gnade Gottes

„Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, auf daß wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf, indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi.“
(Titus 2,11-13).

I.

Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen. – Welch ein weites, unübersehbares Feld, voll der reichsten, kostbarsten Früchte, tut sich vor unseren Blicken auf, wenn wir dieses eine Wort: „die Gnade Gottes“ vernehmen! – eine Schatzkammer, gefüllt mit unerschöpflichen Reichtümern, mit Silber, Gold und blitzendem Edelgestein. Die Gnade eines mächtigen Fürsten auf dieser Erde ist gewiß ein köstliches, begehrenswertes Ding; aber was ist sie im Vergleich mit der Gnade Gottes? Wie ein einzelner, und dazu noch nicht einmal reiner Tropfen gegenüber den kristallhellen Fluten eines gewaltigen Sees, dessen Tiefen von keinem Geschöpf ausgemessen werden können.

Die Gnade Gottes! – Wie süß und lieblich klingt das Wort in den Ohren eines verurteilten, dem ewigen Gericht verfallenen Sünders! Wie tröstlich und erquickend spricht es zu dem Herzen des gläubigen Pilgrims auf seinem Wege durch eine ermüdende, gefahrvolle Wüste!

Sehr bemerkenswert ist die Verbindung, in welcher das köstliche Wort in der oben angeführten Stelle (Titus 2) erscheint. In der ersten Hälfte des Kapitels redet der Apostel von dem geziemenden Verhalten derer, welche sich zum Christentum bekennen, entsprechend der bezüglichen Stellung, in welcher sie sich befinden mögen. Er spricht von den Dingen, deren sich die alten Männer und die alten Frauen befleißigen sollten, beschreibt dann das Betragen der jungen Frauen, schildert die Charakterzüge der gläubigen Jünglinge und verweilt zum Schluß bei dem, was sich für einen Knecht oder eine Magd ihrer Herrschaft gegenüber in den Einzelheiten des täglichen Lebens geziemt: Sie sollen ihren Herren unterwürfig sein, in allem sich wohlgefällig machen, nicht widersprechen und nichts unterschlagen, sondern „alle gute Treue erweisen, auf daß sie die Lehre, die unseres Heiland=Gottes ist, zieren in allem“. Dann heißt es weiter: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen etc.“

Der Leser wolle das „Denn“ an dieser Stelle wohl beachten. Ein „Denn“ leitet eine Begründung des Vorgehenden ein. So ist es auch hier. Denn welchen Zweck hätte es, Ermahnungen, wie die eben angeführten, an Geschöpfe zu richten, die von Natur gerade das Gegenteil von dem Gesagten lieben, die widerspenstig, selbstsüchtig und eigennützig sind, wenn die Gnade Gottes nicht erschienen wäre und aus armen, in Ketten der Sünde schmachtenden Sklaven Satans freie, erlöste Kinder Gottes und Knechte und Mägde Jesu Christi gemacht hätte?

Aber noch aus einem anderen Grunde ist das „Denn“ bemerkenswert. Der Mensch sieht nur das, was vor Augen ist. Er kann nicht das Herz und seine Beweggründe beurteilen. Er muss sich zufrieden geben mit dem äußeren christlichen Verhalten eines Gläubigen. Gott aber prüft das Herz und wägt die Beweggründe; sein Wort beschäftigt sich mit den inneren Regungen mit den Quellen, aus welchen das äußere Verhalten hervorfließt, und regelt sie. Ja, mehr noch; kein noch so schönes äußeres Verhalten kann Gott befriedigen und in seinen Augen wohlgefällig sein, wenn es nicht aus einem Herzen hervorkommt, das seiner heilbringenden Gnade unterworfen ist und durch die Kraft derselben täglich beeinflußt und geleitet wird. Verhaltungsregeln können solchen nicht gegeben werden, deren Herzen sich nicht dem „Glaubensgehorsam“ unterworfen haben. Was könnten sie ihnen nützen, da ja doch die Gesinnung des natürlichen Herzens Feindschaft gegen Gott ist? – Wie schön und passen also das „Denn“!

„Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen.“ Wann ist sie erschienen? Als Jesus in diese Welt kam, um das Werk der Erlösung zu vollbringen: als Gott seine unergründliche Liebe, seine „Güte und Menschenliebe“ in der Sendung und Dahingabe seines eingeborenen Sohnes offenbarte. Ehemals hatte Gott vielfach durch den Mund der Propheten zu den Menschen geredet; aber jetzt redet er im Sohne eine so gewaltige, herzergreifende Sprache der Liebe, daß kein Mensch und kein Engel imstande ist, sie voll und ganz zu erfassen.

Ja, die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen. Da ist keiner ausgeschlossen. Das Heil Gottes ist nicht für ein besonderes Volk, nicht für eine auserwählte Klasse von Menschen, mit Ausschluß aller übrigen, bestimmt. Nein, es ist allumfassend, erdumspannend. Wie köstlich ist es, das zu wissen, das so einfach und klar im Worte Gottes ausgedrückt zu finden! „Wen da dürstet“, „wer da will“, so redet die Gnade Gottes. Niemand, auch nicht der Sündige und am weitesten von Gott Entfernte, kann sagen: Für mich gibt es kein Heil, keine Gnade. Nein, an alle ohne Ausnahme richtet sich die Sprache der göttlichen Liebe, für alle ohne Ausnahme ist Gnade und Heil da. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ (Johannes 3,16). Ach, wenn nur mehr Herzen sich auftäten, um das göttliche Heil zu empfangen; wenn nur mehr Lippen sich öffneten, um zu rufen: „O Gott, sei mir Sünder gnädig!“

In einem Sinne weiß selbst die ungläubige Welt die Bedeutung der Worte: „heilbringend für alle Menschen“, zu fassen und zu würdigen. Sie weiß sehr gut, daß da, wo das Wort vom Kreuze gepredigt und das Christentum, wenn auch vielleicht nur äußerlich angenommen wird, Gesittung und Bildung Fuß fassen und der Boden für ein friedliches Zusammenwohnen der Menschen und eine gedeihliche Entwicklung des Landes geebnet wird. Auch ist es den Obrigkeiten und Regenten in dieser Welt sehr wohl bekannt, von welch ungeheurem Einfluß das Christentum ist auf die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und des sozialen Friedens.

Doch wie segensreich diese Wirkungen der göttlichen Gnade auch sein mögen, so können wir sie doch nur „Begleiterscheinungen“ des Christentums nennen; keineswegs aber dürfen wir in ihnen die Erfüllung, oder auch nur die teilweise Erfüllung der Worte: „heilbringend für alle Menschen“, erblicken. Das Heil, zu dessen Einführung die Gnade Gottes einst erschien, ist unendlich kostbarer und herrlicher. Gott ist in seiner vollkommenen Güte auf einem Schauplatz des Verfalls und des Todes, hervorgerufen durch die Sünde des Menschen, erschienen, um dem sündigen, verlorenen Menschenkinde eine gänzliche Befreiung aus zeitlichem und ewigem Elend zu bringen. Die Gnade Gottes hat Heil und Rettung in dieser Welt eingeführt, wo Sünde, Tod und Teufelsmacht den Zustand des Menschen kennzeichneten; sie ist all den schrecklichen Folgen der Sünde begegnet und hat sie für den Gläubigen beseitigt, wenngleich dieser, so lange er noch in dem Zustande der Schwachheit und Unvollkommenheit sich befindet, die ewigen Ergebnisse dieser Beseitigung noch nicht voll und ganz genießt.

Die Gnade Gottes ist erschienen – wie lieblich und zugleich ergreifend ist diese Tatsache an und für sich schon, ganz abgesehen von ihren Folgen! Da wo nur Finsternis und Tod, Haß und Feindschaft herrschten, wo Unrecht und Gewalttat ihre blutgetränkten Pfade schritten, wo die Seufzer des Gefangenen, der Schrei des Unterdrückten, die Klage der Witwe und Waise und die Jammerlaute der Armen und Kranken gen Himmel fliegen, ist die Gnade Gottes, die Güte und Menschenliebe unseres Heilandes-Gottes (Titus 3,4), erschienen und Licht und Leben, Frieden und Heil, Lösung und Befreiung zu bringen; gleichwie Jesus selbst einst in der Synagoge von Nazareth vor den Ohren der Versammelten las: „ Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Gesicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn“. (Lukas 4,18-19.

Ja, die Gnade Gottes ist erschienen, sein Name sei ewig dafür gepriesen! Und was hat sie gebracht? Wir haben schon darauf hingedeutet, aber wir müssen noch einmal darauf zurückkommen. Um die Ergebnisse dieser Dazwischenkunft Gottes in Gnade ein wenig zu verstehen, (das volle Verständnis wird ja erst die Ewigkeit bringen,) müssen wir uns daran erinnern, wo der Mensch von Natur sich befindet, wohin die Sünde ihn gebracht hat. Gottes Wort beschreibt seinen Zustand als völlig verderbt und gottentfremdet. Der Mensch ist in geistlichem Sinne „tot in Vergehungen und Sünden“; er ist fern von Gott, unrein, ungerecht, gottlos, hassens- und verdammungswürdig, zu allem Guten untauglich, ein Kind des Zorns u.s.w. Dazu ein Feind Gottes, aber voll von Eigenliebe und Selbstsucht. Sein Zustand könnte gar nicht schrecklicher und hoffnungsloser gedacht werden, als er ist. Er gleicht im besten Falle einem übertünchten Grabe, daß von außen zwar schön erscheint, aber von innen voll Totengebeine und Unreinigkeit ist. Wie Gott über den Zustand des Menschen denkt und urteilt, das sieht man am Kreuz in den schrecklichen Leiden und dem Tode Christi.

Nun, um solch einem armen, beklagenswerten Geschöpf zu helfen, um solch Unwürdige und ganz und gar Verlorene zu erretten, erschien die Gnade Gottes. Nichts Geringeres als göttliche Gnade und göttliches Erbarmen hätte einem solche Zustand begegnen können. Darum lesen wir auch: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat“; und „Also hat Gott die Welt geliebt“; und: „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Kinder Gottes heißen sollen!“ und viele andere ähnliche Stellen. Ja, wo ist eine Liebe gleich dieser Liebe!

„Das Heil, welches die Gnade Gottes bringt“, sag ein anderer Schreiber, „begegnet jeder Art sittlicher Entfernung von Gott, welche durch die Sünde hervorgebracht worden ist, und beseitigt sie. „Denn es ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe.“ (1 Petrus 3,18). Die Sünde entfernt von Gott, das ist die Natur der Sünde; denn Licht kann keine Gemeinschaft mit Finsternis haben. Aber dann heißt es: „In Christo Jesu seid ihr, die ihr einst ferne waret, durch das Blut des Christus nahe geworden.“ (Epheser 2,13). Sünde, Tod, Satans Macht und Gottes Gericht kennzeichneten miteinander den verderbten Zustand des Menschen, und ihnen allen muß begegnet werden, bevor ein volles und angemessenes Heil verkündigt werden kann. Es genügt nicht, den Menschen aus seiner Erniedrigung und sittlichen Verunreinigung herauszuheben, wenn eine solche Sache überhaupt möglich wäre, und ihn auf den Weg zum Glück zu stellen. Das Gewissen muß zur Ruhe gebracht werden, und zwar auf Grund der Befriedigung aller Ansprüche Gottes, welche er in seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit erheben muß, sowie der Beseitigung aller irgend möglichen Folgen der Sünde. Und dies gerade ist das Heil, welches die Gnade Gottes bringt. Es führt ewiges Leben in den Bereich des Todes ein; „denn Gott hat uns ewiges Leben gegeben, und dieses Leben ist in seinem Sohne“. (1 Johannes 5,11). Es bringt göttliche Gerechtigkeit dahin, wo die Verdammnis herrscht. Denn Gott „hat den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“. (2 Korinther 5,21). Es bringt Befreiung von der Macht Satans; denn Christus hat „durch den Tod den zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel“. (Hebräer 2,14). Nein, mehr noch als das: Das Heil, welches die Gnade Gottes bringt, versetzt uns vor Gott an den Platz, in die Stellung und Annehmlichkeit Dessen, durch welchen das Heil erworben wurde, und macht uns zu Teilhabern seines Lebens und seiner Herrlichkeit. Das ist das Maß und das der Charakter dieses Heils.“

Ja, die Gnade Gottes ist ohne Schranken, so frei wie die Luft, die wir einatmen, oder wie der Sonnenstrahl, der uns erwärmt, und so tief und weit wie das Meer, oder besser noch wie der Raum, der ohne Grenzen und Maße ist. Und wie schön und ermunternd ist es, daß zunächst von dem Erscheinen dieser vollen und für alle Menschen heilbringenden Gnade gesprochen wird, und dann erst davon, wie und wozu sie uns unterweist! Das ist eben das Charakteristische der göttlichen Gnade, wodurch sie unmittelbaren Gegensatz zu dem Gesetz tritt: sie fordert nicht, sondern gibt, gibt überströmend und ganz umsonst, und dann erst unterweist sie den Begnadigten, wie er der neuen Stellung gemäß, in die er gebracht ist, wandeln soll. Doch ehe wir zu dem Inhalt der Unterweisung der Gnade übergehen, möchte ich noch auf einen anderen bemerkenswerten Punkt in unserer Stelle aufmerksam machen. Sie schließt mit den Worten: „indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi“.

Unwillkürlich werden wir beim Lesen dieser Worte an eine Stelle aus dem 84. Psalm (Psalm 84), einem der herrlichen Lieder der Söhne Korachs, erinnert. Diese Männer hatten auch etwas von der unbegreiflichen Gnade Gottes an sich erfahren: sie waren von dem Rande des Abgrundes, der ihre aufrührerischen Väter verschlungen hatte, durch die mächtige Gnadenhand Gottes hinweggerissen und an einen Platz hoher Segnung gestellt worden. Sie waren es, die, durch den Geist der Prophezeiung geleitet, von dem großen auf Golgatha vollbrachten Werke sangen: „Güte und Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt“ (Psalm 85,10); und sie waren es auch, die mit dankerfülltem Herzen und im Bewußtsein der erfahrenen Güte Gottes jubelnd riefen: „Jehova, Gott, ist Sonne und Schild; Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben, sein Gutes vorenthalten denen, die in Lauterkeit wandeln“. (Psalm 84,11). Gnade und Herrlichkeit – Anfangs- und Endpunkt der Laufbahn des Gläubigen! Die Gnade geht dem Verlorenen nach und errettet ihn, und das Ziel, wohin sie ihn bringt, ist die Herrlichkeit. Beides ist die freie, unverdiente Gabe Gottes; aber welch eine Bezeichnung der beiden äußersten Punkte der christlichen Laufbahn, nicht wahr, mein Leser? Wie beneidenswert ist ein Mensch, dessen Weg durch diese beiden göttlichen Grenzpfähle bezeichnet wird! „Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden“, so steht gleichsam auf dem ersten; und: „Vater, ich will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, auf daß sie meiner Herrlichkeit schauen“, heißt es auf dem zweiten.

Was sagen unsere Herzen hierzu, lieber gläubiger Leser? Könnten sie einer solchen Liebe und Gnade gegenüber gleichgültig bleiben? Sollten sie nicht mit unaussprechlicher Freude frohlocken? Ja, die Gnade, welche uns gesucht und gefunden hat, wird uns geleiten und bringen bis ans Ziel; und ist das Ziel erreicht, so tut die Herrlichkeit ihre Tore vor uns auf. Zwischen diesen beiden Endpunkten der christlichen Laufbahn, der Errettung und dem Eingang in die Herrlichkeit, liegt die Wüste mit ihrem Kampf, ihren Versuchungen und Schwierigkeiten. Der Weg ist bei dem einen kürzer, bei dem anderen länger, bei dem einen leichter, bei dem anderen schwerer; aber mag er kurz oder lang, leicht oder schwer sein – der Glaube sagt zuversichtlich: „Jehova, Gott, ist Sonne und Schild; Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben, kein Gutes vorenthalten denen, die in Lauterkeit wandeln“; und: „Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und ich werde wohnen im Hause Jehovas auf immerdar“. (Psalm 23,6). Auch in diesem letzten Werke sind Gnade und Herrlichkeit unmittelbar miteinander verbunden; und gerade so ist es in Römer 5,2 und manchen anderen Stellen: „Durch welchen (Jesum Christum) wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“.

Und vergessen wir nicht: der Tod ist nicht die Erwartung oder der Gegenstand der Hoffnung des Gläubigen; nein, seine Hoffnung hat ein viel herrlicheres Ziel. Es ist die Ankunft seines Herrn, „die Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi“. Wie die Gnade erschienen ist, so wird auch die Herrlichkeit einmal erscheinen, und allen, denen die Erscheinung der Gnade Heil und Rettung gebracht hat, wird die Erscheinung der Herrlichkeit ewige Ruhe bringen, ungestörte Freude im Anschauen des Antlitzes ihres hochgelobten Herrn und reiche Vergeltung ihrer Bemühung der Liebe hienieden.

II.

„Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, auf daß wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf.“

Wir kommen jetzt zu dem zweiten Teil unserer Betrachtung, zu den Unterweisungen der heilbringenden Gnade Gottes, Wie schön ist die göttliche Ordnung! Wir haben schon einmal darauf hingewiesen. Zunächst besucht uns die Gnade in unserem Elend und unserer Sündhaftigkeit, schenkt uns ein ewiges, herrliches Heil, und dann unterweist sie uns, wie wir uns als Erlöste und Begnadigte in dieser Welt der Sünde zu verhalten haben.

Beachten wir zunächst, daß die Gnade es ist, die uns unterweist. Nicht das Gesetz ist uns als Richtschnur unseres Verhaltens hienieden gegeben, nicht ein schweres Joch uns auf den Hals gelegt worden, das wie Petrus einst zu den in Jerusalem versammelten Aposteln und Ältesten sagte, „weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten“ (Apostelgeschichte 15,10), noch ist ein menschliches Sittengesetz für uns aufgestellt worden. Ebenso wenig sind wir unseren eigenen Meinungen überlassen oder berufen, uns durch unsere Gefühle oder durch unseren Verstand, mit einem Wort, durch menschliche Beweggründe leiten und bilden zu lassen. Mein Gott sei gepriesen! Dieselbe Gnade, die uns Heil und Rettung gebracht hat, sorgt auch für alles Weitere; sie wirkt in uns, leitet und unterweist, warnt und belehrt uns. Sie beeinflußt das neue Leben in dem Gläubigen; sie wirkt auf die göttliche Natur, die sie mitteilt, und ruft herrliche Ergebnisse hervor.

Doch wie unterweist die Gnade? Ihre Belehrungen lassen sich in zwei Hauptabschnitte einteilen, entsprechend dem großen göttlichen Grundsatz: „Weiche vom Bösen und tue Gutes“. (Psalm 34,14). Die erste und unerläßliche Bedingung für einen Gott wohlgefälligen Wandel ist die Umkehr von dem bisherigen verkehrten Wege, die entschiedene Verurteilung alles Bösen, mit dem man in Verbindung stand oder noch steht, kurz, ein wahres, aufrichtiges Selbstgericht, welches das Fleisch, die alte Natur, nicht schont, sondern das Todesurteil, das Gott darauf geschrieben hat, anerkennt. Mancher Gläubige fragt sich verwundert, weshalb er so wenig Fortschritt mache im geistlichen Leben, weshalb sein Herz so wenig im wahrem Frieden ruhe und nur so schwach die selige Freude der Gemeinschaft mit Gott genieße. Die Ursache kann in mangelhafter Erkenntnis der Wahrheit liegen, wird aber in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen in der mangelhaften Ausführung des göttlichen Gebots: „weiche vom Bösen“ zu suchen sein. Das Herz ist nicht entschlossen, koste es was es wolle, mit allem zu brechen, was das Licht Gottes nicht ertragen kann. Die eine oder andere Lieblingsneigung bleibt von dem Urteil der Seele unberührt; oder man geht der Sache nicht wirklich auf den Grund, man richtet nicht die Wurzel, aus welcher das Böse hervorgeht; und so bleibt die erste Bedingung eines Wandels mit Gott unerfüllt, denn Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in ihm.

Demselben Grundsatz begegnen wir überall im Worte Gottes, und der Gläubige fühlt ganz unwillkürlich, daß es so und nicht anders sein kann. Sobald z. B. an den Patriarchen Jakob die Aufforderung erging: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel und wohne daselbst, und mache daselbst einen Altar etc.“, sprach er zu allen, die bei ihm waren: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte sind, und reinigt euch, und wechselt eure Kleider“. (1 Mose 35,1-2). Und ehe den gläubigen Kolossern gesagt wird: „Ziehet an, als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte etc.“, wird ihnen zugerufen: „Jetzt aber leget auch ihr das alles ab: Zorn, Wut, Bosheit etc.“ (Kolosser 3,8-12). So ist es immer. Es ist ein fruchtloses Beginnen, Gott dienen und Gutes tun zu wollen, so lange nicht der Boden von allem Anstößigen gereinigt und der Bruch mit dem, was wir als aus dem Fleische stammend erkannt haben, vollzogen ist.

So hören wir denn auch an unserer Stelle als erste Unterweisung der Gnade Gottes „daß wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnen“ sollen. Gottlosigkeit und Weltlust sind die beiden Bereiche, in welchen der natürliche Mensch sich bewegt. Er ist ein Nachkomme Kains, der Gott nicht fürchtete, aus seiner Gegenwart sich entfernte, um „Los“ von ihm zu sein und diese Welt so viel wie irgend möglich zu genießen. „Kain ging weg von dem Angesicht Jehovas“, und seine Nachkommen breiteten sich aus auf der Erde, erbauten Städte, wurden reich, erfanden Musikinstrumente und allerlei Werkzeuge aus Erz und Eisen und richteten sich, fern von Gott, hienieden wohnlich ein. – Auch wir gehörten einst zu dem Geschlecht Kains. Wir waren gottlos (los von Gott), fragten nicht nach seinem Willen, folgten den natürlichen Neigungen und Begierden unserer Herzen und sanden unsere Freude an den weltlichen Lüsten, indem ein jeder nach seiner Weise, seinem persönlichen Charakter, aber auch seinen Verhältnissen entsprechend, so viel wie möglich von der Welt und ihren Dingen zu genießen suchte. Unsere Wege waren vielleicht sehr verschieden voneinander, der eine versank tiefer in den Schlamm der Sünde als der andere; aber Gottlosigkeit und weltliche Lust waren die Dinge, welche uns alle ausnahmslos kennzeichneten.

Da kam die Gnade. Sie stellte uns still auf dem Wege des Verderbens, öffnete uns die Augen über unser Sündenelend und ließ uns das Ende unseres Weges sehen. Sie nahm uns heraus aus dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf, machte uns umkehren und stellte unsere Füße auf den Pfad des Friedens. Sie schenkte uns eine neue Natur mit ganz neuen Eigenschaften, Trieben und Wünschen und malte ein herrliches, begehrenswertes Ziel vorunsere Blicke. Jetzt erst begannen wir wirklich zu leben. Das Alte war vergangen, alles war neu geworden.

Wir haben gesehen, daß „Gnade und Herrlichkeit“ die beiden Endpunkte der christlichen Laufbahn sind; wir könnten sie auch „Kreuz und Himmel“ nennen. Das Kreuz Christi, der Glanzpunkt der göttlichen Gnade, ist der Anfang – der Himmel, die Heimstätte der göttlichen Herrlichkeit, das Ende des Pfades des Gläubigen. Beide, Gnade und Herrlichkeit, oder Kreuz und Himmel, sind schnurstracks aller Gottlosigkeit und allem weltlichen Wesen entgegengesetzt. Wie könnte ein Christ, hinblickend auf das Kreuz, an welchem sein Heiland, verworfen und verspottet von der Welt, um seiner Sünden willen litt und starb, in irgend eine Sünde einwilligen, oder begehren, den Taumelkelch der weltlichen Lüste und Vergnügungen wieder an die Lippen zu setzen? Wie könnte er gemeinsame Sache machen mit einer Welt, die Jesum haßt und Satan als ihrem Fürsten huldigt? Wie könnte andererseits ein Christ, dessen Blick auf die vor ihm liegende Herrlichkeit gerichtet ist, der danach verlangt, ins Vaterhaus zu gehen, irgendwelcher Gottlosigkeit Raum geben oder mit der Welt liebäugeln und nach ihren Träbern verlangen? Nein, sagt die Seele, es ist mir genug, die vergangene Zeit dem Willen des Fleisches und den Lüsten der Menschen gedient zu haben; die Zeit, die mir hienieden noch bleibt, gehört Gott und der Erfüllung seines Willens. (Vergl. 1 Petrus 4,2-3). Sie hat ein für allemal gebrochen mit dem früheren Wesen und Treiben, sie hat ihm den Rücken gewandt, und das Antlitz ist nach oben, auf die Herrlichkeit gerichtet, in welcher weltliche Lüste und Begierden keinen Raum mehr haben. Wenn jene Herrlichkeit erscheint, wird die Welt und alles was von ihr ist verschwinden. „Denn alles was in der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht von dem Vater, sondern ist von der Welt. Und die Welt vergeht und ihre Lust.“ (1 Johannes 2,16-17).

Allein die Unterweisung der Gnade ist nicht nur, wenn ich mich so ausdrücken darf, negativ, d. h. wir werden nicht nur aufgefordert, aufzugeben, abzulegen, zu verleugnen, sondern sie ist auch positiv, d. h. sie bezweckt die Hervorbringung und Pflege der kostbaren Eigenschaften und Tugenden des neuen Lebens. Das Nichtige, Vergängliche und Böse soll verschwinden, und das Wirkliche, Bleibende und Gute an seine Stelle treten. „Denn die Gnade Gottes…. unterweist uns, auf daß wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf.“

Drei kostbare Dinge, drei Früchte der unterweisenden Gnade, treten hier vor unsere Blicke; die erste Frucht betrifft den Gläubigen persönlich, die zweite sein Verhalten Anderen gegenüber, und die dritte seine praktische Stellung zu Gott. Betrachten wir sie kurz der Reihenfolge nach, und Gott gebe Gnade, daß diese gesegneten Früchte reichlich bei uns allen gefunden werden möchten!

Im christlichen Leben gibt es keinen Stillstand; es kommt niemals eine Zeit, da wir sagen könnten: „So, nun sind wir fertig; jetzt können wir die Hände in den Schoß legen und es uns bequem machen“. Selbst den gläubigen Thessalonichern, die in einem sehr guten geistlichen Zustande waren, als der Apostel seinen ersten Brief an sie schrieb, wurde gesagt: „Wir ermahnen euch aber, Brüder, reichlicher zuzunehmen“; und den gläubigen Ephesern, deren Herzen noch in der Frische der ersten Liebe standen: „Die Wahrheit festhaltend in Liebe, laßt uns in allem heranwachsen zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus“; und den Philippern, für die der Apostel allezeit in jedem seiner Gebete Gott danken konnte: „Um dieses bete ich, daß eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüfen möget. was das Vorzüglichere sei“. – Wenn aber jene ernsten Schriften in der Blütezeit der christlichen Kirche solcher Ermahnungen bedurften, wieviel mehr wir in diesen letzten Tagen des Verfalls und der kleinen Kraft! Der Herr schenke uns deshalb ein offenes Ohr, ein aufmerksames Herz und einen willigen Geist.

Die erste der drei Früchte heißt „Besonnenheit“. Es ist auffallend, wie oft wir in den Büchern des Neuen Testamentes ermahnt werden, besonnen zu sein. Es beweist, wie groß die Gefahr für uns ist, ins Gegenteil zu verfallen. Doch was ist Besonnenheit? Es ist jene Verfassung des Geistes, die uns befähigt, nicht vorschnell und unüberlegt zu reden, zu urteilen oder zu handeln, sondern all unser Reden und Tun wohl zu erwägen, uns nicht durch augenblickliche Gefühle und Einbrüche hinzureißen oder durch den äußeren Schein blenden zu lassen. Ein ruhiger, besonnener Mann ist schon im natürlichen Leben eine angenehme Erscheinung und ein Segen für seine Umgebung; wieviel mehr im geistlichen! Kein Wunder daher, wenn der Apostel bei der Aufzählung der notwendigen Eigenschaften eines Aufsehers der Versammlung Gottes die Besonnenheit und Nüchternheit besonders betont. „Der Aufseher nun muß untadelig sein, eines Weibes Mann, nüchtern, besonnen, sittsam etc.“ (1 Timotheus 3,2; vergl. auch Titus 1,8). Zu einer sachgemäßen Behandlung der mancherlei Schwierigkeiten, die sich in dem persönlichen oder Gemeinschaftsleben der Gläubigen ergeben, sowie zu einer richtigen Berücksichtigung der verschiedenen Charaktere und Verhältnisse sind Ruhe und Besonnenheit erforderlich. Wie häufig hat ein unbesonnenes Wort, ein unüberlegter Rat zu großem Schaden und Unsegen gedient!

Aber nicht nur für den, der nach dem „schönen Werk“ eines Aufseherdienstes trachtet, ist Besonnenheit am Platze, nein, sie tut uns allen not. „Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben worden ist, jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu denken, daß er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat.“ (Römer 12,3). Aus dieser Stelle ersehen wir, wie eng wahre Besonnenheit mit Bescheidenheit und Demut verbunden ist. Ein wahrhaft besonnener Christ hält nicht viel von sich, von seiner Klugheit und Erfahrung, sondern er vertraut auf Gott und erbittet sich Weisheit von oben. Er geht auch nicht über das ihm zugeteilte Maß hinaus, sondern redet und handelt in dem Bewußtsein seiner Schwachheit und seines Unvermögens. Er prüft, „was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes sei“, und beurteilt alles im Lichte des göttlichen Wortes, eingedenk der menschlichen Kurzsichtigkeit und Torheit. Und wenn es sich um den einen oder anderen „Dienst“ handelt, so ist er besorgt, nicht über „das Maß des Glaubens“ hinauszugehen, das Gott ihm gegeben hat, damit sein Dienst wirklich gesegnet und nützlich sei. Wenn er redet, so redet er „Worte der Wahrheit und der Besonnenheit“. (Apostelgeschichte 26,25).

Wie sehr sich Besonnenheit für uns alle geziemt, geht auch aus der ersten Hälfte unseres Kapitels (Titus 2) mit besonderem Nachdruck hervor. „Du aber rede“, so lesen wir in Vers 1 u. 2, „was der gesunden Lehre geziemt; daß die alten Männer nüchtern seien, würdig, besonnen, gesund im Glauben etc.“ Die alten Frauen werden ermahnt, „die jungen Frauen zu unterweisen, ihre Männer zu lieben, ihre Kinder zu lieben, besonnen, keusch etc. zu sein“. (Titus 2,4 & Titus 2,5). Bezüglich der jungen Männer lesen wir: „die Jünglinge desgleichen ermahne, besonnen zu sein“. (Titus 2,6). So werden beide Geschlechter und alle Altersstufen zur Besonnenheit aufgefordert, und es ist besonders beachtenswert, daß bei den Jünglingen nur diese eine Sache genannt wird, weil sie gerade am meisten der Gefahr ausgesetzt sind, infolge ihrer Jugend und Unerfahrenheit und des damit gewöhnlich verbundenen Selbstvertrauens, unbedacht zu reden und unbesonnen zu handeln. Titus selbst wird von dem Apostel ermahnt, sich als ein Vorbild guter Werke darzustellen, würdigen Ernst zu zeigen und durch gesunde, nicht zu verurteilende Rede den Gegner zu beschämen.

Als letzte, unseren Gegenstand behandelnde Stelle sei ein Wort des Apostels Petrus angeführt. Er sagt im 4. Kapitel seines 1. Briefes zu den Gläubigen, die dem Verderben, das in der Welt ist, entflohen waren: „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. Seid nun besonnen und seid nüchtern zum Gebet.“ (1 Petrus 4,7). Die Ermahnung verbindet sich also hier mit dem besonderen Ernst, der den letzten Tagen, in welchen wir leben, anhaftet. Wir stehen nahe vor dem Ende aller Dinge, heute noch viel näher als die Gläubigen damals standen. Die „schweren Zeiten“ des Endes (2 Timotheus 3,1) sind gekommen. Der Geist des Eigenwillens und der Unbotmäßigkeit nimmt mit erschreckender Gewalt überhand, die Jagd nach den Schätzen dieser Welt wird immer wilder, das Begehren nach ihren Genüssen immer ungestümer, und in der Wahl der Mittel, um das ersehnte Ziel zu erreichen, ist man immer weniger ängstlich und vorsichtig.

Da heiß es wahrlich für den Christen: feststehen in der brandenden Flut und mit Besonnenheit, unter ernstem, anhaltendem Gebet, die beiden Angelpunkte des christlichen Lebens im Auge behalten! So lange das Kreuz und die Herrlichkeit den Gesichtskreis der Seele ausfüllen, steht es wohl um den Gläubigen. Er hält sich dann fern von dem Treiben der Welt, ja, von jeder Verbindung mit ihr, und er bleibt ein Fremdling hienieden, der hier keine bleibende Stadt hat, sondern die zukünftige sucht. Eingedenk des Wortes des Apostels, daß die Gestalt dieser Welt vergeht, und daß das Ende aller Dinge nahe gekommen ist, gehört er zu denen, die da wohl kaufen, aber nicht besitzen, die der Welt gebrauchen, aber ihrer nicht als Eigentum gebrauchen. (1 Korinther 7,30-31). O wie manche Gläubige unserer Tage scheinen dieses ernste, herzerforschende Wort vergessen zu haben! Wie manche haben den klaren, einfältigen Blick, das nüchterne, besonnene Urteil verloren! In ihren geschäftlichen Unternehmungen, in ihren Gewohnheiten und Handlungen sind sie auf den Boden der Kinder dieser Welt hinabgesunken; das zarte Gefühl für das was wahr, würdig, recht, rein und lieblich ist, für alles was wohllautet und die Lehre unseres Heiland-Gottes ziert, ist ihnen abhanden gekommen. Menschliche Klugheit leitet sie in ihren Plänen und Entschlüssen, und der Gedanke an irdischen Gewinn beschäftigt sie mehr als die Sorge um die Ehre des Herrn und um die ewigen Dinge.

Ach, daß doch alle die Geliebten Gottes aufwachen möchten! „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten! Sehet nun zu, wie ihr sorgfältig wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise, die gelegene Zeit auskaufend, denn die Tage sind böse.“ (Epheser 5,14-16). Ja, die Tage sind böse, verhängnisvoll für viele. Wie mancher Gläubige hat sich auch auf dem Gebiet des Werkes des Herrn, der Evangelisation etc., durch Mangel an Wachsamkeit in Dinge eingelassen, die ihm und anderen Gläubigen zu tiefem Schmerz und Leid und dem Herrn zur Unehre ausgeschlagen sind! Er war nicht besonnen, nicht nüchtern zum Gebet. wie vieles geschieht auf diesem Gebiet, sowohl im Kreise der Gläubigen als auch im Zeugnis nach außen hin, was bei etwas mehr Besonnenheit und Nüchternheit gewiß unterbleiben würde! Wie macht sich da leider so oft das eigene Ich, der eigene Wille, die eigene Kraft und Weisheit geltend! O laßt uns darum die Ermahnung beachten: „Seid besonnen und nüchtern zum Gebet“! Ja wohl, nüchtern zum Gebet; denn zwischen Beten und Beten ist ein großer Unterschied. Mancher Christ betet vielleicht noch regelmäßig zu gewissen Zeiten, aber seine Gebete sind mehr Worte als Kraft; sein Geist ist nicht wach und nüchtern, und das Bewußtsein, zu wem er redet, ist schwach.

Doch kehren wir zu unserem Text zurück. Die zweite Frucht der Unterweisung der Gnade Gottes ist praktische Gerechtigkeit. Diese gibt sich, wie bereits gesagt, Anderen gegenüber kund, und zwar in Worten sowohl wie in Handlungen; denn nicht umsonst wird die Zunge, „die Welt der Ungerechtigkeit“ genannt. (Jakobus 3,6). Viel, unendlich viel Ungerechtigkeit geschieht durch die Zunge. Hier wird von dem Verkäufer eine minderwertige Ware als vollwertig angepriesen, dort von dem Käufer ein Gegenstand gegen besseres Wissen heruntergesetzt, um einen billigeren Preis zu erzielen; hier flüstert die Zunge leichtfertige, verführerische Worte, dort zerstört sie gefühllos den guten Ruf eines Menschen; hier beschönigt und schmeichelt sie, dort fällt sie ein hartes, ungerechtes Urteil; hier heuchelt und lügt, dort flucht und lästert sie u.s.w. u.s.f.

„Dies, meine Brüder, sollte nicht also sein.“ Nein, alle unsere Worte und Handlungen sollten gerecht und lauter sein. Von einem Christen sollte es stets heißen, wie einst von Daniel, als seine Feinde ihn zu verderben suchten: „Sie konnten keinen Anklagegrund und keine schlechte Handlung finden, weil er treu war und kein Vergehen und keine schlechte Handlung an ihm gefunden wurde“. (Daniel 6,5). Ach! es ist ein trauriges Ding, wenn Kinder der Welt auf Kinder Gottes hinweisen und sagen können: „Seht, das sind die, die uns den Weg zum Himmel zeigen wollen; aber wie handeln sie! Wo ist da die himmlische Gesinnung, von der sie so viel reden?“ Ja, die Welt sieht unsere Grundsätze und Handlungen, hört unsere Worte, und sie urteilt scharf; und sie tut es mit vollem Recht. O möchte es sich doch tief in unsere Herzen einprägen, daß Gott ein gerechtes Epha, eine gerechte Wage und gerechte Entscheidung liebt, und daß wir berufen sind, in den Fußstapfen des Heiligen und Gerechten zu wandeln! Laßt uns unseren Wandel unter den Kindern dieser Welt ehrbar führen, auf daß sie, worin sie wieder uns als Übeltäter reden, aus den guten Werken, die sie anschauen, Gott verherrlichen am Tage der Heimsuchung! (Vergl. 1 Petrus 2,12; Matthäus 5,16). Tadellos und lauter, unbescholtene Kinder Gottes inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, hell leuchtende Lichter, darstellend das Wort des Lebens (vergl. Philipper 2) – inwieweit paßt diese Beschreibung auf mich und dich, geliebter Leser?

Zum Schluß noch ein kurzes Wort über die dritte und letzte Frucht der Unterweisung der Gnade, die Gottseligkeit. Worin sie besteht, ergibt sich aus dem Worte selbst; es bezeichnet den Zustand, die praktische Stellung der Seele Gott gegenüber. Der Mensch von Natur lebt fern von Gott, gottlos, der Gläubige ruht in Gott und wandelt mit Gott. Der Feind ist bemüht, die Seele aus dieser seligen Gemeinschaft mit Gott zu entfernen, und legt dem, der gottselig leben will, Hindernisse und Anstöße aller Art in den Weg. Darum lesen wir: „Alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, werden verfolgt werden“, und: „übe dich zu Gottseligkeit“, und: „Du aber, o Mensch Gottes, … strebe nach Gerechtigkeit, Gottseligkeit, Glauben, Liebe, Ausharren, Sanftmut des Geistes. Kämpfe den guten Kampf des Glaubens!“ (2 Timotheus 3,12; 1 Timotheus 4,7; 1 Timotheus 6,11-12). Wahre Gottseligkeit ist die Darstellung des Lebens Christi hienieden, die selbstverständlich in uns immer unvollkommen bleibt; aber seine anbetungswürdige Person ist das Muster, das vollkommene Vorbild für uns. Wenn wir daran denken, so verstehen wir, daß „Gottseligkeit mit Genügsamkeit“ in der Tat ein großer Gewinn sein muß. Möchte deshalb das Bild unseres geliebten Herrn sich mehr in uns gestalten! Vergessen wir auch nicht, daß die Gottseligkeit „die Verheißung des Lebens hat, des jetzigen und des zukünftigen“, und daß „der Herr die Gottseligen aus der Versuchung zu retten weiß“. (2 Petrus 2,9).

III.

„Indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi.“ – Diese Worte leiten uns zu dem dritten und letzten Teil unseres Gegenstandes, zu dem herrlichen Ziel, für welches die Gnade Gottes die Glaubenden bestimmt und bereitet hat. Sie hat an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht, mit einem Wort, sie at für alles Sorge getragen. Wir begegnen derselben köstlichen Wahrheit im Anfang des 5. Kapitels des Römerbriefes. Dort haben wir, was die Vergangenheit betrifft, Frieden mit Gott, unsere Sünden sind nicht mehr; in der Gegenwart haben wir freien Zugang zu der Gnade oder Gunst Gottes, in welcher wir stehen, und im Blick auf die Zukunft rühmen wir uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Ähnliches finden wir in 1 Thessalonicher 1,9-10: Die gläubigen Thessalonicher hatten sich von den Götzenbildern, denen sie einst dienten, zu Gott bekehrt (die Vergangenheit), um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen (die Gegenwart) und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten (die Zukunft). Nun, in unserer Stelle ist es gerade so: die Gnade hat uns, den einst Verlorenen, Heil gebracht; gegenwärtig unterweist sie uns, und hinsichtlich der Zukunft zeigt sie uns die Herrlichkeit als das Ende unseres Pfades.

Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß nichts einen mächtigeren Einfluß auf unser ganzes Verhalten hienieden auszuüben vermöge als die Hoffnung auf die Ankunft des Herrn. Wo diese Hoffnung in der Seele lebendig ist, da gestaltet sie den Charakter eines Menschen völlig um, regelt sein Tun und Lassen nach himmlischen Grundsätzen und macht ihn zu einem Fremdling hienieden, der nach dem verheißenen „köstlichen Lande“ ausschaut. Die Hoffnung wird eine „glückselige“ Hoffnung genannt; sie erfüllt tatsächlich das Herz mit Freude und Frieden, macht es ruhig und getrost im Leid, bewahrt es vor Überhebung in guten Tagen und läßt es fröhlich aufwärts und vorwärts schauen.

Der Herr Jesus selbst hat die Seinigen zuerst mit dieser Hoffnung bekannt gemacht. Als er im Begriff stand, zu seinem Vater zurückzukehren, richtete er die Blicke seiner betrübten und bestürzten Jünger zum Himmel empor und erzählte ihnen von einem Vaterhause mit vielen Wohnungen droben in der Herrlichkeit. Wenn irgend etwas imstande war, ihre niedergebeugten Herzen aufzurichten, so war es dies. Der Herr wußte das. Er wußte aus Erfahrung, was es heißt, einsam durch eine sündige, feindselige Welt gehen zu müssen, und sein liebendes Herz verlangte danach, den Seinigen, die in der Welt zurückbleiben mußten, einen „starken Trost“ zu geben. So lenkte er denn ihre Gedanken nach oben und zugleich auf seine Wiederkehr: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seiet.“ (Johannes 14,2-3). Er konnte nicht länger da bleiben, wo sie waren, aber sie sollten dahin versetzt werden, wo er fortan sein würde. Kostbarer Tausch. Die Verheißung des Herrn ist noch nicht erfüllt, aber wir warten darauf mit Ausharren; und bald wird sie in Erfüllung gehen. Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Morgen ist nahe.

Es ist sehr bemerkenswert, wie diese Hoffnung auf die Wiederkunft unseres geliebten Herrn in den Schriften des Neuen Testamentes mit den verschiedensten Gegenständen und Verhältnissen in Verbindung gebracht wird. Sie ist es zunächst, die uns nicht betrübt sein läßt, „wie die übrigen, welche seine Hoffnung haben“, wenn es Gott gefällt, einen geliebten Bruder oder eine teure Schwester aus unserer Mitte abzurufen. Sie erinnert uns daran, daß wir diese Entschlafenen in verherrlichtem Zustande wiedersehen werden, wenn Jesus kommt, und zwar nicht erst droben im Himmel, sondern schon hier, ehe wir alle miteinander Ihm entgegengerückt werden in die Luft. (1 Thessalonicher 4). Sie spornt uns an, treu und eifrig zu sein in unserem Dienst, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn, indem wir wissen, daß unsere Mühe nicht vergeblich ist im Herrn. (1 Korinther 15). Sie treibt uns, daß uns anvertraute Pfund treulich zu verwalten, und wachsam und nüchtern zu sein, damit, wenn Er kommt, ein reicher Lohn uns zu teil werde. (Lukas 12 und Lukas 19). Sie ermuntert die Knechte des Herrn, den Evangelisten, den Hirten und Lehrer, zu hingebender Treue, zu anhaltendem Fleiß, zu unermüdlichem Wirken, sei es unter denen, die draußen sind, oder unter der Herde Christi selbst, damit sie eine Krone des Ruhmes empfangen und nicht beschämt werden vor dem Herrn bei seiner Ankunft. (2 Korinther 1,14; Philipper 2,16; 1 Thessalonicher 2,19; 1 Johannes 2,28; 2 Johannes 8). Sie lehrt uns, allen Menschen gegenüber sanftmütig und gelinde zu sein (Philipper 4,5), Geduld zu haben (Jakob 5,7-8), nicht uns selbst zu rechtfertigen (1 Korinther 4), dagegen uns zu reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes und die Heiligkeit zu vollenden in der Furcht Gottes, ja, uns zu reinigen, gleichwie er rein ist. (1 Johannes 3,3). Sie läßt uns in Trübsal ausharren, gibt uns Kraft, Unrecht zu leiden und Dem alles anheimzustellen, der recht richtet, warnt unsere Herzen vor der ihnen so natürlichen Neigung, sich an das Sichtbare zu hängen, und lenkt sie hin auf die unsichtbaren Dinge.

Wie wichtig ist es daher, daß diese Hoffnung in uns allen lebendig und wach erhalten bleibe; und der Herr sei gepriesen, daß er uns nicht nur durch sein Wort und seinen Geist (ach! wir sind oft so vergeßliche Hörer und haben so unempfindliche Herzen für die Beleherungen und Mahnungen des Geistes), sondern auch durch die Umstände, durch seine Wege mit uns, zu Hilfe kommt! Es ist schier unglaublich, wie rasch die wärmsten Gefühle erkalten und die tiefsten Eindrücke sich verflachen können; wohl ein jeder von uns weiß aus eigener beschämender Erfahrung, daß es oft so ist, und darum wie gut, daß des Herrn Auge allezeit auf uns gerichtet bleibt, und daß seine treue Hand uns leitet!

Daß es zwei Abschnitte in der Wiederkunft des Herrn gibt, sein Kommen zur Aufnahme der Heiligen und seine Erscheinung mit ihnen in Herrlichkeit, ist wohl allen meinen Lesern bekannt, so daß ich nicht näher darauf einzugehen brauche. Daß mit dem zweiten Abschnitt, der Erscheinung des Herrn in Macht und Herrlichkeit, das Gericht aller Feinde, das Niederwerfen aller Widersacher, zugleich aber auch die öffentliche Vergeltung der Treue des Gläubigen, die Austeilung des Lohnes in Verbindung steht, darf ich auch wohl als bekannt voraussetzen. In unserer Stelle nun scheinen beide Abschnitte zusammengefaßt zu sein, indem von der „glückseligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi“ gesprochen wird. Der Gläubige erwartet beides mit glücklichem und dankbarem Herzen.

Die Ankunft Christi zur Entrückung der auferweckten oder verwandelten Heiligen (1 Thessalonicher 4,15-17) ist etwas so Wunderbares und Erhebendes, daß der Gedanke daran den himmlischen Pilger nur ermuntern kann. Darum sagt auch der Apostel: „Ermuntert einander mit diesen Worten!“ Mit welcher Wonne werden wir den mächtigen Zuruf unseres geliebten Herrn vernehmen! Jede Fessel wird fallen, jede Last weichen und in verklärten, verherrlichten Leibern werden wir ihn schauen, den unsere Seele liebt. Selbst diese arme, gebrechliche Hülle, die uns heute noch an diese Schöpfung bindet und uns immer wieder schmerzlich daran erinnert, daß wir einen sündigen, gefallenen Menschengeschlecht angehören, wird die befreiende und erlösende Macht unseres Heilandes Jesu Christi erfahren. Unser Leib der Niedrigkeit wird umgestaltet werden zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit, gemäß der göttlichen Kraft, mit der er vermag, sich alle Dinge zu unterwerfen. (Philipper 3,20-21). Wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen. (1 Korinther 15,49). „Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvorbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gelichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.“ (Römer 8,29). O wie wird uns sein, wenn unser Jesus die himmlische Familie ins Vaterhaus einführen und dem Vater darstellen wird, nach den Worten: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat“!

Ist das nicht in Wahrheit eine „glückselige“ Hoffnung? Und heute oder morgen kann sie sich erfüllen! Was sagt dein Herz dazu, teurer Leser? Antwortet es mit innigem Verlangen: „Amen, komm, Herr Jesu!“? Oder ist da ein unbestimmtes Gefühl in dir, dem du nicht Ausdruck verleihen möchtest, das sich aber immer wieder regt und in die Worte kleiden läßt: Die Ankunft meines Herrn ist doch noch nicht so nahe? Wenn es so ist, dann verurteile es ohne Zögern; es ist vom Feinde, der dir gern deine köstliche Freue rauben und dich wieder hinabziehen möchte in den Bereich und unter die Einflüsse der sichtbaren Dinge. Ja, es ist im Grunde nichts anderes als Unglaube, der Keim dessen, was du in den Spöttern der letzten Tage zur Reife gelangen siehst. Sie sagen: „Wo ist die Verheißung seiner Ankunft? Denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an.“ (2 Petrus 3,4). Möchtest du ihnen auch nur im Entferntesten gleichen, nur auf die leiseste Weise ihnen Recht geben? Nein, und tausendmal nein! „Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, daß irgend welche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen.“ (2 Petrus 3,9). Das Wort des Jakobus: „Das Ausharren habe ein vollkommenes Werk“, können wir auch sicher auf diese Sache anwenden; und ich möchte fragen: Ist es nicht der Mühe wert, noch ein wenig auszuharren, wenn Gott die Wartezeit dazu benutzt, so viele Verlorene zu erretten?

Laßt uns auch nicht vergessen, daß Jesus droben mit weit größerem Verlangen auf den Augenblick der Vereinigung mit seiner geliebten Braut wartet, als wir hienieden je warten können. Die Stärke des Verlangens richtet sich naturgemäß nach der Tiefe und Innigkeit der Liebe; und wo wäre eine Liebe wie seine Liebe? Darum wünscht auch der Apostel, daß der Herr unsere Herzen richten möge zu der Liebe Gottes und dem Ausharren Christi, d.h. zu seinem gegenwärtigen Ausharren, während er droben, zur Rechten des Vaters, sitzt. (2 Thessalonicher 3,5).

Indes möchte gefragt werden: Wird denn „die Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi“ nichts Erschreckendes oder doch wenigstens Niederdrückendes für uns haben? Unmöglich! Denn der, welchen wir in seiner göttlichen, majestätischen Herrlichkeit erblicken werden, ist unser Jesus, unser Heiland, der uns geliebt und sich selbst für uns gegeben hat. (V. 14). Wie könnte sein Anblick Angst und Schrecken in uns wachrufen? Ihn zu sehen, wie er ist, wird vielmehr eitel Wonne und Entzücken für uns sein. O Geliebte, wir werden ihn schauen, an den wir geglaubt, von dem wir uns so oft unterhalten haben, dessen Liebe uns auf dem Wege durch die Wüste erquickte, dessen Worte uns nährten, und dessen starker Arm uns hindurchtrug durch alle Versuchungen und Gefahren! Anstatt erschreckt zu sein, werden wir mit tiefer, dankbaren Freude die Herrlichkeit betrachten, die ihm, dem jetzt Verachteten und Verworfenen, zu teil geworden, ja, die ihm eigen ist kraft seiner göttlichen Person; und unser: „Du bist würdig!“ wird mit einer Kraft und Innigkeit ertönen wie nie zuvor.

Ja, wir können mit völligem Vertrauen an seine Erscheinung in Herrlichkeit denken. Denn er, der da kommt, angetan mit Pracht und Majestät, ist der Geliebte unserer Herzen, der uns erkoren und zubereitet hat, um all seine Herrlichkeit mit ihm zu teilen und neben ihm zu thronen als seine Miterben. Fleisch und Blut können allerdings das Reich Gottes nicht ererben. Unsere jetzigen Augen sind nicht dazu geschaffen, ihn zu sehen, wie er ist, unsere Ohren nicht dafür gebildet, die Sprache des himmlischen Kanaan zu verstehen; unsere Zunge ist nicht imstande, jene unaussprechlichen Worte auszusprechen, die der Mensch nicht sagen darf; unsere Hände sind nicht fähig, in die Saiten der goldenen Himmelsharfen zu greifen, und unsere Füße vermögen nicht in den goldenen Straßen des neuen Jerusalem zu wandeln; all unser Verstehen ist Stückwerk und unser Verwirklichen unvollkommen und schwach. Aber das Vollkommene wird kommen, und wir werden erkenn, wie wir erkannt sind. Unser Leib der Niedrigkeit wird dann abgelegt, alles Irdische, Zeitliche und Vergängliche für immer verschwunden sein. Augen und Ohren, Hände und Füße – alles, alles wird neu gemacht und umgestaltet werden nach dem Bilde des verherrlichten Menschen droben. „Wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen.“ „Wir werden ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Wir haben weiter oben gesagt, daß mit der Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn auch die öffentliche Vergeltung der Treue des Gläubigen, die Austeilung des Lohnes, stattfinden werde. Ist nun dieser Gedanke nicht geeignet, ängstliche Sorge in unseren Herzen wachzurufen? Wiederrum möchte ich antworten: Unmöglich! Denn was wird an jenem Tage von uns geschaut werden? Was wird diese Vergeltung uns zeigen? Nichts als die unendliche, überströmende Gnade unseres großen Gottes und Heilandes. Es wird uns ähnlich ergehen wie den „Schafen“, welche in Matthäus 25 zur Rechten des auf seinem Throne der Herrlichkeit sitzenden Menschensohnes stehen; gleich ihnen werden wir mit tiefem Staunen fragen: „O Herr, wann und womit habe ich denn die reiche Belohnung, die du mir zu teil werden lässest, verdient?“ Nie hat eine so gerechte, aber auch nie eine so gnädige, alle Erwartungen übertreffende Lohnauszahlung stattgefunden, wie sie dann stattfinden wird. Ohne Zweifel wird die Verteilung des Lohnes ganz anders ausfallen, wie wir heute denken; wenn je, so werden wir dann erkennen, wie kurzsichtig wir hienieden waren, wie viel Gewicht wir auf das Äußere gelegt haben, und wie wenig wir imstande waren, Menschen und Handlungen nach ihrem wahren Werte vor Gott zu beurteilen. Aber wie dem auch sei, eins ist gewiß: ein jeder von uns wird die wunderbare Güte des Herrn preisen und wird erkennen, wie böse und grundschlecht die Aussage des faulen Knechtes ist: „Herrn, ich kannte dich, daß du ein harter Mann bist“. (Matthäus 25,24).

Vergessen wir auch nicht, daß der öffentlichen Austeilung des Lohnes die Offenbarwerdung vor dem Richterstuhle Christi vorangeht. Wieder fragt da das arme, ängstliche Herz, das so wenig die Liebe seines großen Gottes und Heilandes kennt: Ist denn das nicht erschreckend und furchteinflößend? Ich möchte demgegenüber fragen: Hat es heute etwas Erschreckendes für eine aufrichtige Seele, in das Licht Gottes zu kommen? Verlangt sie nicht vielmehr danach, heute schon ganz offenbar vor Gott zu sein, auch nicht den geringsten Rückhalt vor ihm zu haben? Ja, ihre Sprache lautet: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Wege!“ (Psalm 139,23-24). Sie ist nur dann wahrhaft glücklich und zufrieden, wenn nicht der leiseste Schatten, nicht das schwächste Wölkchen zwischen ihr und dem heiligen Gott steht. Wohl ist sie mit tiefem, heiligem Ernst erfüllt und voll von Eifer, in allem Gott wohlgefällig zu sein; wohl fürchtet sie sich vor sich selbst, vor den Gefahren und Versuchungen, die es auf dem Wege durch diese sündige Welt gibt, und vor der Möglichkeit, ihren geliebten Herrn durch Untreue oder Unglauben zu betrüben. Aber die Quelle und Triebfeder ihres Verhaltens sind nicht Furcht und Mißtrauen, sondern im Gegenteil Liebe und Vertrauen. Sie weiß, an wen sie geglaubt hat. Sie müht sich auch nicht eigentlich um des Lohnes willen, sondern um Deswillen, der sie geliebt hat und liebt. Sie möchte gern einen reichen Lohn empfangen, aber nicht damit sie, sondern damit Jesus dadurch verherrlicht werde, und weil der Lohn ihr aus seiner Hand zukommt.

Wenn eine Seele so steht, wie wir es soeben beschrieben haben, - und so sollte jede gläubige Seele stehen, das ist ihr normaler Zustand, - dann denkt sie an den Richterstuhl nicht mit Furcht, sondern mit vollkommenem Frieden, ja mit Freude. Sie sehnt sich nach dieser Offenbarwerdung, denn sie weiß aus Erfahrung: je näher dem Lichte, desto tiefer die Freude, desto inniger und seliger die Gemeinschaft, desto klarer der Blick, desto ungetrübter der Friede und desto reiner der Genuß.

Ach, daß es so viele Gläubige gibt, die durch Mangel an Glauben oder an praktischer Treue, von diesen kostbaren Dingen so wenig verstehen und genießen! Daß wir alle schwach, sehr schwach sind und weit hinter dem Ziele zurückbleiben, das ist gewiß; der treueste Gläubige wird am meisten fühlen, wie schwach und unvollkommen sein Glaube, seine Treue, seine Hingebung, kurz alles ist, was sich bei ihm von den Eigenschaften und Tugenden des neuen Lebens, das er besitzt, finden sollte. Aber wie viele Gläubige sind da in unseren Tagen, deren Herzen weltförmig geworden sind, die nach dem trachten, was auf der Erde ist, und bei diesem Trachten naturgemäß die Gemeinschaft, die nahe Verbindung mit Gott, verloren haben; oder andere, die nicht acht haben auf die Gedanken und natürlichen Neigungen ihrer Herzen, die dem Fleische Raum lassen, Gebet und Selbstgericht versäumen und auf diese Weise eine Schranke zwischen Gott und sich aufrichten. Daß solche Seelen nicht mit Ruhe und Freude an das Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi denken können, ist selbstverständlich; sie sind jetzt nicht offenbar vor Gott, wie könnten sie nach dem vollkommenen Lichte der Richterstuhls verlangen? Sie erwarten nicht mit glücklichem Herzen die Erscheinung der Herrlichkeit Jesu Christi. Die Hoffnung, ihn zu sehen, ist keine „glückselige“ Hoffnung für sie. Wie tief beklagenswert sind solche Seelen! Wie freude- und friedlos ist ihr Weg, wie verloren ihre Zeit, wie nutzlos ihr Leben!

O mein lieber Leser! Sollte irgendwie diese Beschreibung auf dich passen, möchtest du dann doch aufwachen und mit tiefem Schmerz vor dem niedersinken, „der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentums-Volk, eifrig in guten Werken“! Sieh, du bist nicht mehr dein eigen; du bist losgekauft von aller Gesetzlosigkeit und dem Eigentums-Volk des Herrn zugezählt. Und was war der Preis? Jesus selbst! Er gab sich selbst. Könnte es einen rührenderen Beweggrund geben, um uns zu einem hingebenden Wandel für ihn anzuspornen, als diesen? Er starb für uns, der Heilige für die Unheiligen, der Gerechte für die Ungerechten! Sein kostbares Blut floß, um uns zu reinigen, und nun sind wir sein, sein teuer erkauftes Eigentum.

„Ein Eigentums-Volk, eifrig in guten Werken“ – berühren diese Worte nicht dein Herz? Der Herr hat sein Volk auf dieser Erde, das ihm eigentümlich gehört, das er sich erworben hat, durch sein eigenes Blut, welches seinen Namen trägt, und in dem er verherrlicht ist; und du bist einer von diesem Volke. Kann die Welt es sehen? Erkennt sie deinen Herrn in deinem Handel und Wandel? Bist du eifrig in guten Werken? Es gibt so viele Bedürfnisse in unseren Tagen, so viele Kranke, Schwache, Arme, Trauernde, so viele trostbedürftige Witwen und Waisen. Das Werk des Herrn ist so groß und ausgedehnt und erfordert so mancherlei Handreichung. Bist du eifrig, an diesen verschiedenen Bedürfnissen teilzunehmen, jedem guten Werke nachzugehen? O laß uns nicht vergessen, daß wir zu diesem Zweck erkauft und hienieden gelassen sind! Wie freundlich und gütig ist unser Gott, daß er uns in solch rührender Weise zu einem heiligen, ihm wohlgefälligen Wandel ermuntert! Er fordert nicht streng, er droht nicht mit Strafe. Nein, er sagt gleichsam: „Mein Kind! Jesus hat sich selbst für dich hingegeben. Rührt das nicht dein Herz? Er hat dich für sich erkauft. Könntest du noch irgendwie einem anderen Herrn dienen wollen?“

O möchten unser aller Herzen bereitwilliger antworten auf eine solche Sprache der Liebe! Die Gnade ist erschienen; die Herrlichkeit wird bald erscheinen. Laßt uns diese beiden Endpunkte der christlichen Laufbahn miteinander verbinden durch einen Wandel in Gottesfurcht und Treue!

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