Bezzel, Hermann - Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss. Ps. 39, 5.

Bezzel, Hermann - Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss. Ps. 39, 5.

Der Gott, der die einzige bleibende Persönlichkeit ist, ist der Allgenugsame und Selige, der nichts bedarf und alles die Fülle hat. Wir stehen trauernd am Wege, er ist im Frieden. Wir suchen das verlorne Glück auf unserer Strasse, bei ihm wohnt es vollkommen. Wir eilen von Schatten zu Schatten und schweifen von Traum zu Traum und wenn wir erwachen, ist das Glück gewichen. Er aber lebt im Licht der Wirklichkeit und in der Wahrheit des Lichtes. Er lebt selig. Der Menschen Zeiten enden und er bleibt ewig. Er schreitet über die Gräber hin, als läge in ihnen nicht tausendfaches Weh verstummt begraben. Er geht an Wiegen einer neuen Menschheit vorbei, als wüsste er nicht, dass Sterben nur Sterben gebiert. So lebt er in ewiger Freude ohne Sorge und sieht uns doch am Wege einsam weinen. Er lebt in Freude und Friede und gedenkt doch der Tränen der Verlassenen.

Dieser ewige, selige, allgenugsame Gott, so sagen wir nun, ist der allwissende, der allweise, der allmächtige, der heilige und der gerechte Gott.

Der Allwissende! Und doch hat er einen Judas geboren werden lassen, der seinen Herrn verriet? Und doch lässt er täglich Menschen auf die Welt kommen, die das grösste Leid über die Welt bringen? Er hat Napoleon aus dem Nichts gerufen, dass er Millionen ins Nichts zurücksende. Er hat dort in dem einsamen, weltverlornen Ort (Serajewo 1914) zwei den Mörderhänden verfallen lassen, deren Tod unsagbares Weh über die Welt gebracht hat. Er weiss es und ändert es nicht. Er weiss, wie viel Schrecken die Sünde im Gefolge hat und wie ein Mensch sich abquälen muss, bis er ihrer sich erwehrt. Er kennt die Seufzer derer, die da streiten bis aufs Blut, wenn ihre Versuchung kommt, und er lässt sie weiter versucht werden. Er kennt die Eigenschaften deines Charakters von ferne und nützt sie um dich an ihnen und mit ihnen zu versuchen. Dem ehrgeizigen gibt er Ehre, dem Habsüchtigen Schätze, dem Gewalttätigen räumt er Gewalt ein und weiss doch, wie verhängnisvoll das alles ist. Er weiss, was Scheiden ist und Leiden und hat so viel Glück mit rauer Hand zertrümmert und so vielen stillen Hausfrieden zerstört. Er weiss, welcher Versuchung im Alleinsein liegt und hat vielen dieses Joch auferlegt. Er hört das Fragen der Kinder nach dem fernen Vater und weiss die Tränen der Witwen nach dem Halt und Schutz ihres Lebens, er kennt den Protest derer, die schuldlos in die grosse Weltkatastrophe einbezogen worden sind – er weiss es alles und er ändert es nicht. Er weiss – und das ist das Allerschwerste –, wie viel Tausende zur Hölle fahren ohne Hilfe, ohne Heiland und Frieden, und immer wieder werden Neue geboren, die die Hölle bevölkern, und immer wieder sinken neue Geschlechter in den Abgrund. Daher kommt es, dass grosse Väter der Kirche die Unwissenheit Gottes mit der Vorherbestimmung verwechselten und sagten: Der Gott, der alles weiss, hat alles bestimmt. Judas musste den Herrn verraten, Kain musste Abel ermorden und die Feinde Gottes müssen in die Grube fahren; das ist alles so bestimmt. – Wenn du aber dem Gedanken nachgehst, dann wird dein Leben so eng, so finster, und so nutzlos deine Heiligungsarbeit. Wer bürgt dir dafür, dass sie nicht umsonst ist? Dann wird deine ganze Lebensführung inhaltsleer, wie ein Uhrwerk läuft es ab: Jedes Rädlein greift in das andere ein und endlich sinkt das Gewicht und die Uhr schlägt die letzte Stunde und es ist vorbei. Nein, mein Christ, ich kann euch keinen andern Trost geben, als der Kirchenvater in schweren Stunden auch meiner Seele gegeben hat: Es geschieht nichts, weil Gott es weiss, sondern weil es geschieht, weiss es Gott. Es ist nicht so, dass seine Allwissenheit zugleich sein Wille wäre, so dass, was er weiss, geschehen müsste, sondern, so gewiss er dir die Entscheidung für oder gegen ihn gegeben hat, so gewiss lässt er dir die Freiheit. Er weiss, was geschieht, aber er will nicht alles, was geschieht. Er will deinen Frieden und er weiss, dass du ihn zerstörst. Er will dein Heil und er weiss, dass du es verdirbst. Er will deiner Seele Heimkehr und er weiss, dass du abirrst. Er ruft, er hindert dich, er mahnt und lockt dich, er droht, er bittet, aber er zwingt dich nicht.

All das, was jetzt geschieht, von dem Tod des ärmsten Gefallenen an bis zu den grossen Weltereignissen, die das Gesamtbild verändern, ist ihm von Anfang an bekannt. Er lässt alles den Weg gehen, nicht den er will, sondern den er weiss. Seine Linien gehen gerade, die deinen krumm. Seine Wege gehen vom Licht ins Licht, die deinen von Nacht in Finsternis, und er sieht ihnen nach und trauert. Er hat seinen Sohn gesandt, dass er aus der Nacht erlöse; wer aber sich nicht erlösen lassen will, um den wirbt er, den lockt, bittet und mahnt er, aber die Freiheit nimmt er ihm nicht. Er weiss, dass die Freiheit höchste Gefahr ist, aber er weiss auch, dass Zwang die höchste Torheit ist. Eine erzwungene und aufgenötigte Seligkeit ist schlimmer als keine. Allwissend ist der Herr, dein Gott, und weiss alles von ferne. Bald tritt seine Allwissenheit in den kleinsten Zügen deines Lebens hervor, so dass du dich wunderst, wie er dies gerade jetzt und jenes dann kommen lässt. Eine zufällige Begegnung, wie du es nennst, ist eine Auswirkung seiner Allwissenheit, ein Zeichen, wie er um dich sorgt. Was du Zufall, Ungefähr, plötzliche Verkettung der Umstände nennst, das ist ein Zeugnis seiner Allwissenheit. Es sind alle deine Tage in sein Buch geschrieben (Ps. 139, 16). Und wer jeden Tag mit all seiner Plage, seinen Sorgen und Fragen dem allwissenden Herrn befiehlt, darf gewiss sein, dass an jedem Tag Gottes Wissen auch Gottes Willen und Gottes Willen auch Gottes Wirken ist. Bei denen, die ihn nicht suchen, steht das Wissen Gottes wider seinen Willen; bei denen, die ihn suchen, ist Wissen, Willen und Wirken Gottes eins. Wenn ihr euch fragt: Ja, wenn Gott das wusste, warum durfte es geschehen, warum hinderte er es nicht? – O, du weißt ja gar nicht, wie oft er schon gehindert hat. Du verstehst nicht, wie viel er aufgeboten hat um dieses und jenes, das sein Herz betrübt, fernzuhalten. Nein, die Allwissenheit Gottes sei mir und dir wohl ein Schrecken, wenn wir auf schlechten Wegen gehen: du erkennst mich von ferne. Es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr nicht alles wissest (Ps. 13,24). Bei ihm gibt es keine gleichgültigen Dinge; er kümmert sich um das Kleinste wie um das Grösste. Davor erbeben wir. Denn man kann nicht oft genug der Seele sagen: Meine Seele, du erlebst dich zweimal: Jeden unreinen Gedanken und jedes unnütze Wort und jede ungute Tat und jede falsche Begehrung erlebt man einmal, wenn man sie tut, und noch einmal, wenn man sie leidet. Die Allwissenheit Gottes ist ein grosser Ernst. So oft unsere Seele ausatmen will, ruft er ihr zu: Ich weiss deine Gedanken (5. Mos. 31, 21). Und so oft das Wort der Lieblosigkeit und Härte urteilt, komme in dein Gedächtnis: Wenn du mein Wort hörst und meines Urteils Schärfe erwiderst, wie soll ich bestehen?

Aber dieser Schrecken ist auch zugleich der höchste Trost: Du weißt, wie oft ein Christ weint und was sein Kummer sei. Er sorgt, als ob gar kein anderer Mensch mehr auf Erden wäre als du allein, um deine kleinsten Kleinigkeiten. Deine besten Freunde nennen deine Tränen töricht und deine treue Umgebung versteht deine Schmerzen nicht. Du möchtest sie wohl selber weglächeln, wegscherzen. Aber er kennt sie und versteht sie von ferne. Das ist Trost in unserm Elend: Er weiss alles.

Aber wenn die Allwissenheit bloss ein Wissen um alles wäre, so wäre Schreck und Trost einander gleich. Und nach dem Gesetz der Schwere würde der Schrecken vorwiegen; darum rufen wir einander zu: Er ist auch allweise!

Klug ist der, der die besten, gewandtesten, geeignetsten Mittel zu seinem Zwecke hat. Weise ist der, der zum edelsten Zweck das rechte Mittel hat. Der Zweck, den er mit deinem Leben hat, ist dir bekannt: der Seelen Seligkeit. O, traue ihm, dass er zu diesem hohen Ziel und Zweck die besten Mittel hat. Wäre er bloss allwissend, so könntest du fragen: Nimmt er teil an mir? Bringt er mir auch das Rechte? Führt er mich auch auf der rechten Strasse? (Ps. 23, 3) Aber er ist allweise. Gerade so, wie er dich führt, und nicht ein Tüttelchen anders, ist es gut für dich. Das ist ein wundersamer Trost: Er, als mein Arzt und Wundermann, wird mir nicht Gift einschenken für Arznei. Gottes Wege sind oft vielleicht nur handbreit, aber er führt sie herrlich hinaus (Jes. 28, 29). Wir kurzsichtigen und blödblickenden Menschen wissen manchmal nicht, warum gerade dieses und jenes ins Leben trat. Er aber spricht: Was ich jetzt tue, das weißt du nicht, du wirst es aber hernach erfahren (Joh. 13, 7). Ein wundersamer Gott, der dem einen Menschen so reiche Tage beschert, die vor den Augen glänzen und dem anderen so schwere Tage gibt, die nur im Innern leuchten! Ein reicher Gott, der den einen Menschen in der Arbeit fortfahren lässt, die nach aussen wirkt, und den andern in die Stille des Krankenzimmers bannt, dass er innerlich wirke! Jeden führt er, nicht wie er will, sondern wie er es braucht.

Meine Gedanken, das sagt er gleich, sind nicht eure Gedanken (Jes. 55, 8.9). Das nimmt er uns weiter gar nicht übel; das ist so geordnet. Denn er kennt den ganzen Weg und wir nicht. Und eure Wege sind nicht meine Wege! Das will uns in die Demut und in die Angst führen. Eure Wege, die selbstgewählten, selbstgebahnten, selbsterschwerten, sind nicht meine Wege, sondern so hoch der Himmel über der Erde, unerreichbar und unvergleichbar, so hoch gehen Gottes Wege über der Menschen Gedanken und Gottes Gedanken über der Menschen Wege. Er weiss, was zu unserm Frieden dient und in dieser Weisheit stellt er die Blume, die nach der Sonne verlangt, in den Schatten, und die Blume, die den Schatten begehrt, in die Sonne, lässt er das eine Lebensbild langsam verblassen und das andere in vollen, satten Farben zu Ende gehen, und hat doch beide Blumen und Bilder gleich lieb. Das ist der Reiz, den der sterbliche Mensch empfindet, wenn er einem abgeschlossenen Leben liebend nachsieht: ich vermesse mich nicht, seine Rätsel zu lösen, aber langsam zerrinnen die grauen Nebel über einem abgeschlossenen Leben und langsam röten sich die Spitzen der verhüllten Berge und die Täler treten hervor. Und wenn die Weltgeschichte am Ende ist, dann erscheint, wie treu gemeint die Prüfungsjahre waren. Herr, lass mich’s froh erfahren!

Allmächtig! – Wir spüren es, wenn er mit einem leisen Wink seines Fingers Weltteile zertrennt, alle Grenzen verschiebt, Länder austut und Länder auftut. Wir sehen, wie er alles so führt, dass seine Majestät zur Geltung kommt und seine Allmacht das letzte Wort behält.

Und doch fragst du und die alten Heiden haben auch so gefragt: Wenn Gott allmächtig ist, dann kann er doch alles. Aber er kann nicht sündigen und nicht sterben, also kann er nicht alles. Das ist ein Gedanke, der uns tief in die wunderbare Tat Jesu Christi Einblick tun lässt. So allmächtig ist Gott, dass er ohnmächtig werden kann. Und so gross ist Gott, dass er klein werden kann. Wenn du Macht und Grösse besitzest, dann hältst du sie an dich, damit sie dir niemand nehme. Aber Gott begibt sich ihrer und entäussert sich ihrer, weil er sie hat. Der allmächtige Gott – das freilich ist die Grenze – kann nur das, was er will. Du kannst nicht alles, was du willst; deine Grenzen sind Zeit, Raum, Kraft, Gabe, Alter, Vermögen. Er kann alles, aber eben nur das, was er will. Er kann auch nicht wollen, nicht die Sünde, nicht die Schande, nicht den Tod. Er ist allmächtig, weil er all seine Gedanken zu Stand und Wesen und all seinen Willen zur Wirklichkeit bringt. Aber diese Allmacht ist nicht so steinern, dass sie nicht erweicht, und nicht so gespenstisch, dass sie nicht erfasst werden könnte. Diese Allmacht steht im Dienste der Liebe. Er kann alles, was recht ist; er kann alles, was gut ist.

Abba, mein Vater, dir sind alle Dinge möglich, sagt der arme Mensch, und wagt es Gott einen Vorschlag zu machen, und erkühnt sich in Gottes Gedanken einzureden. Das heisst man Beten. Und er hat den Mut, auf Gottes Pläne Einfluss zu üben. Das heisst man glauben. Und dann merkt man erst: die Allmacht hat die Ohnmacht in ihr Wesen eingeordnet: du erhörest Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir (Ps. 65, 3). Die Allmacht konnte die Welt in der Flut ersäufen und Noah selbdritt ward erhört und erlöst (1. Mos. 6, 7). Die Allmacht konnte Sodom vernichten und Abraham hätte um fünf Gerechter willen Sodom gerettet (1. Mos. 22ff.). Die Allmacht könnte die Welt in ihren Sünden sterben lassen, und Jesus ward geboren, dass er sein Leben gebe zur Erlösung für viele (Matth. 20, 28). Die Allmacht kann uns alle vernichten in einem Augenblick, aber ihr strenger, gewaltiger Arm wird von der Liebe regiert: darum bricht mir das Herz über dir, dass ich mich dein erbarmen muss (Jer. 31,10).

Es ist dir heilsam, o Menschenkind, dass du die Allmacht in deinem Hochmut bekennst: Menschliches Wesen was ist’s gewesen? Es ist dir heilsam, dass du die Allmacht in deiner Hilflosigkeit anrufst: Hilf du mir, so ist mir geholfen! (Jer. 17, 14) Es ist etwas wundersam Grosses und Reiches: in der allumfassenden Macht meines Gottes hat auch das Leben eines Armen Raum; in der grossen, weltbewegenden, Sterne heraufführenden, sie mit Namen kennenden und nennenden (Ps. 147, 4), ihre Bahn bestimmenden Allmacht liegt auch die Teilnahme an einem enteilenden Menschenleben. Es ist wie ein Hohn der Allmacht, der über die Gräber hinschwebt: Was ist alles Menschenleben? Man sorgt, man sinnt, man arbeitet, man ängstet sich, man erlebt und erleidet, man hofft und wird getäuscht, man harrt und wird betrogen, man wirbt und verliert, man sucht und gewinnt nicht. Und dann genügen einige Schaufeln Sand um ein sorgenreiches, arbeitsvolles, verheissungsschweres, an Verantwortung überlastetes Leben ganz in die Stille und in die Schmach zu senken. Es ist ein furchtbarer Schrecken, das letzte Erleben. Was ist der Mensch? Die Allmacht steht wie mit versteinertem Lächeln daneben: Mensch sein heisst nichts sein! Aber darum richten wir an all unsern Gräbern das Kreuz auf, dass man wisse: was hier verfällt, versinkt, vergeht, das ist nichts mehr wert. Hier ist die Welt des Vergehens überwunden. Und wenn man an den Gräbern teurer Menschen die tiefsten Demütigungen erlebt, die die Nacht schlaflos machen und den Tag beschweren, so erlebt man zugleich an ihnen die höchsten Tröstungen: Ich lebe, spricht er, der tot war, und ihr sollt auch leben! (Joh. 14, 19) Wenn dein Herz von Hochmut schwillt, dann sende es in die Ohnmacht des Todes; und wenn es vor Kleinmut ängstlich lebt, sich selbst zum Schrecken wird, dann schicke es in die Allmacht des Lebens: Hast du mich darum geschaffen, dass ich vergehe? Darum erlöst, dass ich wie der Staub verwehe? Hast du mich darum in der Taufe und im Nachtmahl erquickt und getröstet, dass ich mit dem welken Laub fortgetragen werde in das leere, tote, starre Nichts? Das kannst du nicht wollen, das darfst du nicht wollen; denn du bist der Gott des Lebens und meine Seele tröstet sich in deiner Kraft. Ja, mein Christ, dass du nur Mensch bist, der Gedanke beuge das Haupt und das Herz. Doch dass du Mensch bist, rufe die Freude hervor; denn in deine Reihen ist Christus eingetreten und in dein Elend hat er sich eingestellt. Ich bete an, nicht die erdrückende Allmacht, ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Christo offenbart. Und nun sage mir auf dein Gewissen: was bleibt in dem furchtbaren Schrecken des Todes noch, wenn das Kreuz nicht mehr mächtig ist? Ich bleibe dabei: Verflucht wäre die Stunde meiner Geburt, wenn nicht das Kreuz über meinem Leben ragte! Ich wüsste keinen Sinn des Lebens und keinen Zweck des Daseins. Denn dazu bin ich mir doch zu gut, den Acker draussen zu düngen. Aber wenn ich in das grosse, schweigende Rätsel, das man Sterben heisst, das Kreuz des Todesüberwinders stelle, vergeht nicht der Schrecken, weicht nicht die Angst, schweigt nicht der Schauer, aber es wird alles milder und linder, bis ich endlich durch Nacht und Grauen Jesum sehe, ihn allein. Das ist Allmacht.

Und dieser Allmächtige, so sagen wir weiter, ist heilig und gerecht.

Vernichtend hört Jesajas das dreimal Heilig der vor Gottes Majestät sich bedeckenden Seraphim (Jes. 6). Wenn die heiligen Engel ihm nicht ins Auge sehen können und die reinen Söhne des Lichts ihn nicht ganz gewahren dürfen, wo soll ich bleiben? Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk unreiner Lippen. Es ist etwas Furchtbares, dass so reine, wahre, lautere Lebensmasse über meinem zerrissenen, unguten Leben ragen. Aber heilig sein ist doch im letzten Grund nicht Feindschaft gegen den Sünder, sondern Feindschaft gegen die Sünde. Jesajas, der eben noch gesagt hat: ich vergehe, kann nach wenigen Minuten sagen: hier bin ich, sende mich. Der Prophet, der eben noch zu Tode erschrocken war, kann, nachdem seine Lippen gereinigt sind und sein Herz geheiligt ist, sagen: ich will dein Bote sein. Die Heiligkeit Gottes ist der grosse, durchgreifende, einschneidende Ernst gegen die fromme und gottlose Phrase, Heuchelei und allen Schein. Aber wo ein sündig Herz nach Licht ringt und eine arme Seele frömmer werden möchte, da tönt das Gebet Jesu Christi: Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast! (Joh. 17, 4) Denn Gottes Heiligkeit will nicht verzehren wie ein furchtbares Feuer, sondern will reinigen wie heilige Flammen. Seine Heiligkeit will dich nicht verwerfen, sondern erretten. Seiner Heiligkeit Werk ist die Erlösung.

Und endlich: Gott ist gerecht, so gerecht, dass nichts auf Erden ungestraft und nichts ungelohnt bleibt. Der Becher kalten Wassers, in einer bald vergessenen Stunde einem der Seinen aus seiner Liebe gereicht, steht vor ihm unvergessen (Matth. 10,42). Von der armen Salbe des Weibes wird jetzt 1900 Jahre bald gepredigt; alle Jahre wieder sagt man, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis (Matth. 26, 13). Das unscheinbare Wort, das aus Herzenstiefen eine Seele sucht, die flüchtige Zeile eines unbedeutenden Briefes, der einem armen Menschen Trost geben will, die Freundlichkeit, die in des Nächsten Antlitz noch ein Hoffen erweckt, die Gütigkeit, die in die Kümmernis noch Licht streut – alles dies ist bei ihm unvergessen. Er ist nicht ungerecht, dass er vergässe eure Liebe, eure Mühe und euren Dienst, den ihr den Heiligen tut. Wir werden es an seinem Tag erst sehen, welch ein Gedächtnis er hat, wenn uns allerlei entgegenblüht, das nicht bedeutsam war und ist doch eine Grösse vor ihm, während vieles verwelkt, an das wir unser Herz hingen. Aber so gewiss er so gerecht ist, dass er auch die geringste gute Tat unvergessen sein lässt, so gewiss ist er auch so gerecht, dass er die geringste Untat ahndet und straft. Die geringste Untat! Schon die alten Heiden haben es gewusst: der Götter Mühlen mahlen langsam, aber klar. Wie viele Jahrhunderte hat Gott geschwiegen! Es ist, als ob die Welt auf einer dünnen Eisdecke ginge und diese Eisdecke wird, je mehr auf ihr lastet, desto stärker und tragfähiger. Gott schweigt. Jahrhunderte lässt er das Unrecht herrschen; dann kommt ein lauer Wind, ein Tau von Süd und die Eisdecke wird brüchig und die Weltgeschichte sinkt unter die geborstenen Schollen und vergeht. „Ich bin dem Ephraim wie eine Motte und dem Haus Juda wie eine Made!“ (Jos. 5, 12) Dieses heimliche Zerstörungswerk, das in den Kleidern anhebt, von niemand beachtet, durch stille Zeiten und Schweigen und Warten! Und nun wird plötzlich das Gewand ans Tageslicht gebracht und es zerfällt und zerfasert. So macht es Gott, wenn er schweigend Jahre über unser Leben hingehen lässt. Er straft nicht, züchtigt nicht, ahndet nicht, er kümmert sich nicht. Wir werden still, sicher, stolz, stark. Und dann tritt er ein, und das ganze Lebensbild ist zerrissen, die Farben verfliessen, die Töne verrauschen, die Kräfte zerschmelzen, das Leben ist nichts! Seht, das ist der Gott, den wir im ersten Artikel bekennen: ich glaube an Gott, den Allmächtigen. O dass diese Betrachtungen in uns allen zweierlei erweckten: einen furchtbaren Schrecken vor dem gerechten und eine tiefinnerliche Sehnsucht nach dem barmherzigen Gott! Erwählt, ob ihr den Schrecken übersehen und die Güte verachten wollt, oder ob ihr euch fürchtet vor seinem Zorn und in die Güte flüchtet! Die letzte Stunde ist nicht einmal, sondern sie kommt immer wieder. – Jeden Tag erlebst du deine Sterbestunde und jeden Tag erlebst du ihre entscheidungsvolle Frage. Gib, Herr, dass, eh ich sterb’, ich sterben mag! Amen.

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