Aurelius Augustinus - Der Gottesbeweis

Aurelius Augustinus - Der Gottesbeweis

Die geistlichen Volkserzieher im Alten und Neuen Bunde [XXVIII.51]

140. Einige gab es zu Zeiten des irdischen Volkes, die zur Erleuchtung des inneren Menschen gelangten. Sie waren der Zeitlage entsprechend eine Hilfe für das Menschengeschlecht; denn sie reichten ihm, was damals erforderlich war, und kündigten weissagend an, was einstweilen noch nicht dargereicht werden durfte. Als solche stehen die Patriarchen und Propheten denen vor Augen, die das köstliche und große Geheimnis göttlichen und menschlichen Geschehens nicht kindisch angreifen, sondern fromm und andächtig betrachten.

141. Und wie ich sehe, hüten sich auch im Zeitalter des neuen Volkes die großen, geistlichen Männer der katholischen Kirche sehr vorsichtig davor, ihren Zöglingen öffentlich vorzutragen, was einstweilen nicht vor die Öffentlichkeit gehört. Milchspeisen flößen sie reichlich und immerfort der Mehrheit ein, die aus Lernwilligen, aber noch Schwachen besteht; die kräftigere Kost aber teilen sie mit denjenigen, die schon weise sind; denn Weisheit reden sie unter den Vollkommenen; den fleischlichen und sinnlichen, wennschon erneuerten, aber noch kindlichen Menschen verhüllen sie dagegen manches, ohne jemals zu lügen. Es ist ihnen ja nicht um eigene eitle Ehre und nichtige Lobeserhebungen zu tun, sondern um das Wohl derer, mit denen sie derzeitig in Gemeinschaft zu leben berufen sind.

142. Denn so hat es die göttliche Vorsehung angeordnet, daß niemandem durch Höherstehende zum Verständnis und zur Erlangung der Gnade Gottes verholfen werden soll, der nicht lauteren Gemütes und willig ist, Niedrigerstehenden zu ebenderselben zu verhelfen. Ebenso ist infolge der Sünde, die unsere Natur im sündigen Menschen begangen hat, das Menschengeschlecht zur großen Zier und zum Schmucke des Erdreichs geworden, und so geschickt wird es durch das Walten der göttlichen Vorsehung geleitet, daß die unbegreifliche göttliche Heilkunst selbst scheußliche Laster in eine Art Schönheit umwandelt.

Über die Vernunft und ihre der Wahrnehmung überlegene Urteilskraft [XXIX.52]

143. Nunmehr haben wir über die Wohltätigkeit der Autorität so viel, wie es einstweilen genügen dürfte, vorgebracht und wollen jetzt sehen, wieweit die Vernunft beim Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren und vom Zeitlichen zum Ewigen vordringen kann. Denn nicht umsonst und fruchtlos soll es sein, wenn wir die Schönheit des Himmels anschauen sowie den geordneten Gang der Gestirne, den Glanz des Lichtes, den Wechsel von Tag und Nacht, den monatlichen Lauf des Mondes, die Vierteilung des Jahres, die den vierfachen Elementen entspricht, die große Macht des Samens, der Gestalten und Zahlen hervortreibt, und überhaupt alles, das auf seine Art eigenes Maß und Wesen bewahrt.

144. Bei der Betrachtung dieser Dinge darf aber nicht eitle oder flüchtige Neugierde vorherrschen, sondern sie muß stufenweise zum Unsterblichen und immer Gleichbleibenden hinaufführen. Denn als erstes gilt es, darauf achtzugeben, was es für eine lebendige Kraft ist, die all das wahrnimmt. Da sie es ist, die dem Leibe das Leben gibt, muß sie unweigerlich vornehmer sein als er. Denn körperliche Massen, sie mögen beschaffen sein, wie sie wollen, sie mögen noch so sehr in sichtbarem Lichte hervorleuchten, sind doch, wenn ihnen das Leben fehlt, nicht viel wert. Vielmehr ist jedes lebende Wesen jedem beliebigen Leblosen der Naturordnung gemäß vorzuziehen.

145. Doch da unzweifelhaft auch unvernünftige Geschöpfe leben und empfinden, ist beim beseelten Menschen am vorzüglichsten nicht das sinnliche Wahrnehmungsvermögen, sondern sein Vermögen, über das Sinnfällige zu urteilen. Denn sehr viele Tiere sehen besser und nehmen auch mit den übrigen leiblichen Sinnen die Gegenstände schärfer wahr als die Menschen. Aber über Gegenstände zu urteilen, ist nicht Sache eines nur empfindenden, sondern eines auch vernünftigen Lebewesens. Diese uns auszeichnende Vernunft fehlt den Tieren. Nun ist es ganz leicht, einzusehen, daß ein Urteilender höher steht als der Gegenstand, über welchen geurteilt wird.

146. Aber man muß sich klarmachen, daß die Vernunft nicht nur über sinnfällige Objekte, sondern auch über die Sinne selber urteilt. Denn sie begreift, wie es zugeht, daß das Ruder im Wasser gebrochen. zu sein scheint, obwohl es gerade ist, und warum es die Augen so wahrnehmen müssen. Der Blick der Augen kann ja nur wiedergeben, was er sieht, aber keineswegs urteilen. So ist es offenkundig, daß das empfindende Leben dem bloßen Körper, das vernünftige Leben aber beiden überlegen ist.

Über der vernünftigen aber irrenden Seele steht das unwandelbare Gesetz der Gleichheit, Einheit und Wahrheit [XXX. 54]

147. Wenn das vernünftige Leben seinem vernünftigen Wesen gemäß urteilt, gibt es nichts, was vorzüglicher wäre als es. Doch liegt es zutage, daß es wandelbar ist, denn es erweist sich bald als einsichtig, bald als uneinsichtig. Es urteilt aber um so besser, je einsichtiger es ist, und es ist um so einsichtiger, je mehr es an irgendeiner Kunst, Wissenschaft oder Weisheit Anteil hat. So muß denn nach dem Wesen der Kunst geforscht werden. Ich will jetzt aber nicht die Kunst ins Auge fassen, die man sich durch Erfahrung erwirbt, sondern um die man sich durch vernünftiges Denken bemüht.

148. Denn was weiß schon Bemerkenswertes, wer in Erfahrung gebracht hat, daß die Masse, die aus einer Mischung aus Kalk und Sand besteht, die Steine fester zusammenhält als bloßer Lehm? Oder wer so geschmackvoll baut, daß, wenn es sich um mehrere Bauteile handelt, sie einander gleichen und gegenüberliegen müssen, während ein einzelner die Mitte einzunehmen hat? Immerhin kommt dies Stilgefühl der Vernunft und Wahrheit schon näher.

149. Aber nun muß man fragen, warum es uns beleidigt, wenn von zwei Fenstern, die nicht über-, sondern nebeneinander angebracht sind, das eine größer oder kleiner als das andere ist, obwohl sie gleich sein könnten, während uns die Ungleichheit nicht ebenso beleidigt, wenn sie übereinander liegen und das eine etwa nur halb so groß ist wie das andere. Warum kümmern wir uns nicht viel darum, um wieviel in diesem Falle das eine größer oder kleiner ist, wenn es zwei sind? Bei dreien aber fordert, wie es scheint, der Geschmack, daß sie entweder nicht ungleich sein dürfen, oder daß das mittlere um so viel kleiner als das größte sein muß, wie es selbst größer als das kleinste ist. Also wird zunächst gewissermaßen die Natur befragt, was sie dazu sagt,

150. und es ergibt sich vor allem, daß, was nicht eben mißfällt, wenn man es allein betrachtet, abgelehnt wird, wenn man es mit Besserem vergleicht. So erweist es sich, daß die gewöhnliche Kunst nichts anderes ist als die Erinnerung an gesehene Gegenstände, die einem gefallen haben, verbunden mit einer gewissen körperlichen Übung und Handfertigkeit. Wenn dir die aber fehlt und du dennoch über die Werke urteilen kannst, so ist das bei weitem vortrefflicher, auch wenn du selbst keine Kunstwerke hervorbringen kannst.

151. Nun ist es in allen Künsten die Symmetrie, die gefällt, und nur durch sie ist alles wohlbefindlich und schön. Die Symmetrie ihrerseits aber strebt nach Gleichheit und Einheit, sei es durch Ähnlichkeit gleicher Teile, sei es durch Abstufung der ungleichen. Aber wen gibt es, der die höchste Gleichheit und Ähnlichkeit in der Körperwelt zu finden dächte und bei sorgfältiger Betrachtung zu sagen wagte, daß irgendein Körper wahrhaft und einfach eins sei? Denn alles wandelt sich und geht bald von einer Gestalt zur anderen, bald von einem Ort zum anderen über und besteht aus Teilen, die ihren Platz einnehmen, wodurch sie sich räumlich voneinander sondern.

152. Folglich kann die wahre Gleichheit und Ähnlichkeit, vollends die wahre und ursprüngliche Einheit, nicht mit fleischlichen Augen noch mit irgendeinem anderen Sinne, sondern allein mit dem Geist erkannt und geschaut werden. Denn wie könnte man irgendwelche Gleichheit bei Körpern anstreben oder wie davon überzeugt sein, daß sie weit hinter der vollendeten Gleichheit zurückbleibt, wenn nicht diese im Geiste erblickt würde - falls man das Ungeschaffene überhaupt vollendet nennen darf?

153. Während nun alles sinnlich Schöne im Bereich der Natur und Kunst, seien es Körper, sei es körperliche Bewegung, räumlich und zeitlich schön ist, gilt von jener Gleichheit und Einheit, die nur geistig erkannt und nach welcher unter Vermittlung der Sinne über die körperliche Schönheit geurteilt wird, daß sie weder räumlich aufgebläht noch zeitlich unbeständig ist. Denn man kann doch nicht sagen, daß man nach ihr wohl die Rundung eines Rades, aber nicht die eines Gefäßes, oder zwar nach ihr die Rundung eines Gefäßes, aber nicht die einer Münze beurteilen könne.

154. Ebenso müßte es lächerlich heißen, wollte man, wenn es sich um Zeiten und körperliche Bewegungen handelt, nach ihr zwar gleiche Jahre, aber nicht auch gleiche Monate, oder wohl gleiche Monate, aber nicht auch gleiche Tage beurteilen. Vielmehr, mag sich etwas in diesen Zeiträumen oder auch in Stunden oder noch kürzeren Fristen bewegen, es wird doch von einer und derselben unwandelbaren Gleichheit beurteilt.

155. Wenn man also kleinere oder größere Abmessungen von Figuren und Bewegungen nach demselben Gesetz der Gleichheit oder Ähnlichkeit oder Übereinstimmung beurteilt, so ist das Gesetz selber größer als all das, nämlich größer an Macht. Denn was räumliche oder zeitliche Größe anlangt, ist es weder größer noch kleiner. Denn wäre es größer, könnte man es nicht als Maßstab zur Beurteilung des Kleineren gebrauchen, wäre es aber kleiner, könnte man nach ihm Größeres nicht beurteilen.

156. Da nun aber nach demselben und ganzen Gesetz der Quadratur das quadratische Forum so gut wie der quadratische Stein oder die quadratische Tafel oder Gemme beurteilt wird, da ferner nach dem ganzen Gesetz der Gleichheit die Fußbewegungen der laufenden Ameise und des schreitenden Elefanten als gleichmäßig beurteilt werden, wer kann dann daran zweifeln, daß es an räumlicher und zeitlicher Abmessung weder größer noch kleiner ist und doch alles an Macht übertrifft?

157. Weil nun dies Gesetz aller Künste ganz und gar unwandelbar ist, während der menschliche Geist, dem es vergönnt ist, solches Gesetz zu schauen, die Wandelbarkeit des Irrens erleiden kann, erhellt klar genug, daß das Gesetz, das die Wahrheit heißt, über unsern Geist erhaben ist.

Diese Wahrheit, nach welcher, nicht über welche, der Mensch urteilt, ist göttlich, Gott selbst, Gott-Sohn [XXXI.57]

158. Nun besteht kein Zweifel daran, daß das unwandelbare, die vernünftige Seele überragende Wesen Gott ist, und daß ebenda höchstes Leben und höchstes Sein zu finden sein muß, wo die höchste Weisheit ist. Denn das ist jene unwandelbare Wahrheit, die mit Recht das Gesetz aller Künste und Kunst des allmächtigen Künstlers genannt wird. Wenn also die Seele fühlt, daß sie Gestalt und Bewegung der Körper wohl beurteilen kann, aber nicht nach sich selber, muß sie zugleich zugeben, daß zwar ihr Wesen dem Wesen, das sie beurteilt, überlegen ist, daß jedoch jenes Wesen, nach welchem sie urteilt und über welches sie schlechterdings nicht urteilen kann, ihr selber überlegen ist.

159. Denn ich kann wohl sagen, warum die einander ähnlichen Gliedmaßen jedes Körpers sich beiderseits entsprechen müssen, weil mir die höchste Gleichheit gefällt, die ich nicht mit leiblichen, sondern geistigen Augen schaue, und daß ich deswegen alles mit leiblichen Augen Erblickte für um so edler halte, je mehr es sich seiner Natur nach dem nähert, was ich geistig erkenne. Aber warum auch dieses so ist, wie es ist, kann niemand sagen, und niemand sollte so unklug sein, zu behaupten, es müsse so sein, als wenn es auch anders sein könnte.

160. Weshalb es uns aber gefällt und warum wir es, je verständiger wir sind, um so inbrünstiger lieben, nicht einmal das wird einer zu sagen wagen, wenn er es recht erkennt. Denn wie wir und alle vernünftigen Seelen nach Maßgabe der Wahrheit über die niederen Dinge richtig urteilen, so urteilt über uns, wenn wir ihr anhangen, allein die Wahrheit selbst. Über sie aber urteilt nicht einmal der Vater, denn sie ist nicht geringer als er selbst, vielmehr, was der Vater beurteilt, beurteilt er durch sie.

161. Denn alles, was nach Einheit strebt, hat die Wahrheit zur Regel oder zur Form oder zum Vorbild, oder wie man es sonst wahrheitsgemäß ausdrücken mag. Denn sie allein besitzt die vollkommene Gleichheit mit dem, von dem sie ihr Sein empfing - falls man >empfing< sagen darf, um zum Ausdruck zu bringen, was das Wort >Sohn< besagt, der ja nicht von sich selber ist, sondern von dem ersten und höchsten Ursprung, welcher der >Vater< heißt. Denn „alles was väterlich ist im Himmel und auf Erden, wird nach ihm benannt“ [Epheser 3,17]. „Der Vater aber richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben“ [Joh. 5,22]. Auch „der geistliche Mensch richtet alles, er selbst aber wird von niemand gerichtet“ [1. Kor. 2,15], das ist, von keinem Menschen, sondern allein von dem Gesetze, nach welchem er alles richtet.

162. Denn mit vollster Wahrheit ist auch das gesagt: „Wir müssen alle erscheinen vor dem Richterstuhl Christi“ [2. Kor. 5,10]. Der geistliche Mensch richtet demnach alles, weil er über allem ist, wenn er mit Gott ist. Mit ihm aber ist er, wenn er ganz rein erkennt und von ganzem Herzen das Erkannte liebt. Denn dann wird er, soweit das möglich ist, selbst zum Gesetz, nach welchem er über alles urteilt und über welches niemand urteilen kann. So ist es ja auch mit den zeitlichen Gesetzen, Denn obwohl die Menschen, wenn sie sie aufstellen, über sie urteilen, darf der Richter doch, wenn sie einmal aufgestellt und gültig geworden sind, nicht mehr über sie, sondern nur nach ihnen urteilen.

163. Jedoch befragt der Verfasser zeitlicher Gesetze, wenn er ein guter und weiser Mann ist, jenes ewige Gesetz, über welches keine Menschenseele urteilen darf, um sodann nach dessen unwandelbaren Regeln zu bestimmen, was für die zeitlichen Verhältnisse zu gebieten und zu verbieten ist. Das ewige Gesetz zu erkennen, steht demnach den reinen Gemütern zu, nicht, es zu beurteilen.

164. Der Unterschied aber ist der: Wollen wir etwas erkennen, genügt es, daß wir sehen, es sei so oder nicht so; wollen wir es aber auch beurteilen, geben wir außerdem zu verstehen, es könne auch anders sein, wie wenn wir sagen: >Es muß so sein<, oder >mußte so sein<, oder >wird so sein müssen<. So machen es die Künstler bei ihren Werken.

Alle Körper weisen Spuren der Einheit auf, erreichen sie aber nicht [XXXII.59]

165. Aber viele Menschen kennen als Ziel nur das Vergnügen und wollen nicht nach Höherem trachten, um ein Urteil darüber zu gewinnen, warum das Sichtbare uns gefällt. Wenn ich also einen Baumeister, der einen Rundbogen errichtet hat, frage, warum er auf der gegenüberliegenden Seite einen ebensolchen erstellen will, wird er vermutlich antworten: Damit sich gleiche Glieder des Gebäudes entsprechen. Wenn ich aber weiter in ihn dringe, warum er gerade das beabsichtige, sagt er, so sei es schicklich, so sei es schön und erfreue die Beschauer. Aber mehr zu sagen, kommt ihm nicht in den Sinn. Denn er ist lediglich Augenmensch und begreift nicht, wovon das Schönheitsurteil abhängig ist.

166. Ich aber werde nicht ablassen, einen Mann, der auch inwendige Augen hat und Unsichtbares sehen kann, mit der Frage zu bedrängen, warum das gefällt, bis er es wagt, ein Urteil über den Grund des ästhetischen Wohlgefallens abzugeben. So erhebt er sich darüber und wird nicht von ihm festgehalten. Denn nun urteilt er nicht nach seinem Geschmack, sondern beurteilt ihn selbst. Zuerst werde ich ihn also fragen, ob Gegenstände darum schön sind, weil sie uns erfreuen, oder ob sie uns erfreuen, weil sie schön sind.

167. Darauf wird er mir ohne Zweifel antworten: Sie erfreuen, weil sie schön sind. So fahre ich fort und frage, warum sie schön sind. Wenn er dann mit der Antwort zögert, werde ich ihn darauf aufmerksam machen, ob nicht dies der Grund ist, daß die Teile einander ähneln und durch eine Art Einheitsband zur Symmetrie gebracht werden.

168. Hat er dies eingesehen, werde ich ihn weiter fragen, ob Gegenstände die Einheit, die sie zugestandenermaßen anstreben, auch ganz erreichen, oder ob sie nicht weit dahinter zurückbleiben und sie gewissermaßen nur vorlügen. In der Tat, so ist es. Denn wer sieht nicht, wenn man ihn aufmerksam macht, daß es zwar keine Gestalt, überhaupt keinen Körper gibt, der nicht irgendeine Spur der Einheit an sich trägt, daß aber nicht einmal der denkbar schönste Körper die erstrebte Einheit wirklich erreicht, schon darum nicht, weil er mit seinen Teilen unweigerlich räumlich ausgedehnt ist? Gibt er das zu, werde ich ihn ferner nötigen, die Frage zu beantworten, wo er denn diese Einheit sieht und wie das zugeht.

169. Denn sähe er sie nicht, wie könnte er dann erkennen, was die Gestalt der Körper nachzubilden sucht und doch nie erreicht? Aber nun sagt er zu den Körpern: >Wenn euch nicht eine Einheit zusammenhielte, wäret ihr nichts, und wiederum: Wäret ihr selbst diese Einheit, so wäret ihr keine Körper mehr.< Nun, so sagt man zu ihm mit Recht: >Woher kennst du jene Einheit, nach welcher du die Körper beurteilst? Wenn du sie nicht sähest, könntest du nicht urteilen, daß die Körper sie nicht erreichen. Sähest du sie aber mit leiblichen Augen, so hättest du kein Recht, zu behaupten, daß die Körper zwar Spuren von ihr aufweisen, aber gleichwohl ihr weit nachstehen. Mit körperlichen Augen siehst du ja nur Körper. Also erblicken wir sie mit dem Geiste.<

170. Aber nun sag mir: Wo? Wenn sie an demselben Orte wäre, wo unser Leib sich befindet, würde einer sie nicht sehen, wenn er etwa im Orient über Körper urteilte. Also kann kein Raum sie einschließen, und wenn sie dem Urteilenden, wo er auch sein mag, gegenwärtig ist, so ist sie nirgendwo räumlich ausgedehnt, aber machtvoll überall.

Sinnliche Wahrnehmung und geistiges Schauen [XXXIII.61]

171. Wenn Körper sie vorlügen, darf man den Lügnern nicht glauben, um nicht der Eitelkeit der Eitlen zu verfallen. Da sie uns nun dadurch belügen, daß sie die Einheit anscheinend dem fleischlichen Auge zeigen, obwohl sie doch nur mit reinem Geiste geschaut werden kann, muß man fragen, ob die Körper insofern lügen, als sie ihr ähnlich sind, oder insofern, als sie sie nicht erreichen.

172. Denn wenn sie sie erreichten, käme die Nachahmung ja zur Erfüllung. Wenn aber zur Erfüllung, wären sie ihr vollkommen ähnlich, und wenn vollkommen ähnlich, wäre zwischen der körperlichen Natur und jener geistigen Einheit kein Unterschied mehr. Wäre das der Fall, würden sie die Einheit nicht vorlügen, wären sie doch dasselbe wie diese. Doch dem aufmerksamen Betrachter lügen sie überhaupt nichts vor. Denn wer lügt, will anders scheinen, als er ist. Wer aber gegen seinen Willen für etwas anderes gehalten wird, als er ist, lügt nicht, sondern täuscht nur.

173. Denn der Unterschied zwischen lügen und täuschen ist der: Jeder Lügner will täuschen, auch wenn man ihm nicht glaubt, ein Täuscher aber kann keiner sein, der nicht wirklich täuscht. Also lügt eine körperliche Erscheinung nicht, weil ihr der Wille dazu fehlt, und wenn man nicht glaubt, sie sei etwas, was sie nicht ist, täuscht sie auch nicht.

174. Aber nicht einmal die Augen selber täuschen, denn sie können der Seele nichts anderes als nur ihren Eindruck übermitteln. Und wenn nicht nur sie, sondern auch alle anderen leiblichen Sinne nur ihre Eindrücke übermitteln, wüßte ich nicht, was man mehr von ihnen verlangen darf. So nimm die Eitlen weg, und es wird keine Eitelkeit mehr geben. Wenn jemand meint, das Ruder werde im Wasser gebrochen und wieder heil, wenn man es herausnimmt, hat er keinen schlechten Berichterstatter, sondern ist ein schlechter Beurteiler.

175. Denn das Auge konnte seiner Natur nach nichts anderes im Wasser wahrnehmen, durfte es auch nicht. Da nämlich die Luft anders ist als das Wasser, gehört es sich auch, daß man in Luft und Wasser verschieden wahrnimmt. Demnach ist das Auge in Ordnung, denn es ist nur zum Sehen geschaffen, die Seele dagegen verkehrt, denn die höchste Schönheit zu betrachten, dazu ist ihr nicht das Auge, sondern der Geist verliehen. Sie aber richtet ihren Geist auf die Körper, ihre Augen auf Gott. Denn sie möchte verstehen, was fleischlich, und sehen, was geistig ist. Das aber ist nicht möglich.

Die wahre Einheit und die Einbildungen [XXXIV.63]

176. Diese Verkehrtheit muß beseitigt werden, was oben ist, muß nach unten, und was unten, nach oben kommen. Nur dann ist man zum Himmelreich geschickt. So laßt uns nicht das Höchste im Niedersten suchen und nicht am Niedersten hängen! Nein, wir wollen es richten, um nicht mit ihm gerichtet zu werden, das heißt, ihm nur so viel einräumen, wie seiner äußerlichen Gestalt zukommt, und nicht beim Letzten das Erste suchen. Sonst möchten wir vom Ersten dem Letzten zugewiesen werden, was dem Letzten nichts, aber uns sehr viel schaden würde.

177. Das Walten der göttlichen Vorsehung wird ja nicht dadurch entstellt, daß die Ungerechten gerecht, die Häßlichen schön eingeordnet werden. Und wenn uns die Schönheit der sichtbaren Dinge dadurch täuscht, daß sie wohl durch Einheit begründet wird, aber nicht zur vollen Einheit gelangt, so wollen wir uns bemühen, zu begreifen, daß der Irrtum nicht aus dem stammt, was ist, sondern aus dem, was nicht ist.

178. Denn jeder Körper ist wohl ein wahrer Körper, aber eine falsche Einheit. Denn er ist nicht zuhöchst eins, bildet die Einheit auch nicht in dem Maße ab, daß er sie erreicht. Dennoch wäre auch der Körper nicht er selbst, wäre er nicht irgendwie eins. Irgendwie eins aber könnte er nicht sein, hätte er es nicht von dem, das zuhöchst Eins ist.

179. O ihr halsstarrigen Seelen, zeigt mir doch jemanden, der ohne Vorstellung fleischlicher Gesichte sieht. Zeigt mir jemanden, der sieht, daß der Ursprung alles dessen, was eins ist, einzig und allein jenes Eine ist, von dem alles Eine stammt, mag es jenes Eine erfüllen oder nicht. Zeigt mir jemanden, der wirklich sieht, nicht bloß zankt und so tut, als sähe er, was er doch nicht sieht. Jemanden, der den Sinnen des Fleisches widersteht und den Nöten, die sie der Seele bereiten, der der menschlichen Gewohnheit widersteht und den menschlichen Lobsprüchen, der auf seinem Lager sich kasteit und seinen Geist umbildet, nicht die Eitelkeit draußen liebt und Lügen nachgeht. Der müßte sich doch sagen:

180. >Wenn es nur ein Rom gibt, das ein gewisser Romulus am Tiber erbaut haben soll, so ist dasjenige ein falsches, das ich mir in Gedanken vorstelle. Denn es ist nicht dasselbe, und ich bin jetzt nicht da, sonst müßte ich ja wissen, was jetzt da vorgeht. Wenn es nur eine Sonne gibt, dann ist die, welche ich mir in Gedanken vorstelle, falsch. Denn jene vollendet ihre Umläufe in gewissen Räumen und Zeiten, während ich diese hinstelle, wo und wann ich will. Wenn ich einen bestimmten Freund habe, dann ist der, welchen ich mir in Gedanken vorstelle, falsch. Denn wo jener sich aufhält, weiß ich nicht, diesen stelle ich mir vor, wo ich will. Ich selbst bin sicherlich der eine und fühle, daß mein Leib hier an dieser Stelle steht, dennoch begebe ich mich in meiner gedanklichen Vorstellung, wohin es mir beliebt, und unterhalte mich, mit wem es mir beliebt.

181. Aber das ist eben falsch, und niemand erkennt Falsches. Wenn ich dies also betrachte und ihm Glauben schenke, erkenne ich nicht wirklich, denn was ich erkennend betrachte, muß wahr sein. Sind das nicht vielmehr Phantasiebilder, wie man es nennt? Wie kommt es denn, daß meine Seele von solchen Einbildungen erfüllt ist? Wo ist das Wahre, welches der Geist erblickt?< Dem, der hierüber nachdenkt, kann man antworten: >Wodurch du erkennst, daß das vorhin Erwähnte nicht wahr ist, das ist das wahre Licht. In diesem Lichte siehst du das eine, das dich zum Urteil befähigt, das andere, das du siehst, sei zwar auch eines, aber nicht jenes Eine, weil es wandelbar ist.<

Der Ruf zur Stille [XXXV. 65]

182. Wenn aber das Auge des Geistes vor diesem Anblick zurückschrickt, dann beruhigt euch und streitet nicht, es sei denn wider eure Befangenheit im Körperlichen. Besieget sie, und alles wird besiegt sein. Suchen wir doch das Eine und Einfachste, was es gibt. So laßt es uns in Einfalt des Herzens suchen! „Seid stille“, sagt die Schrift, „und erkennt, daß ich Gott bin.“[Ps. 46,1] Nicht die Stille der Trägheit ist gemeint, sondern die Stille des Nachdenkens, die der Räume und Zeiten ledig ist. Denn die sich aufblähenden und vorüberhuschenden Phantasiegebilde lassen es nicht zum Schauen der standhaften Einheit kommen.

183. Die Räume reichen uns dar, was wir lieben sollen, die Zeiten reißen uns weg, was wir liebgewonnen haben, lassen in der Seele Haufen von Phantasiebildern zurück und jagen damit unsere Begierde von einem zum anderen. So wird unser Herz ruhelos und sorgenvoll und trachtet vergeblich danach, das zu besitzen, von dem es besessen ist. Darum wird es zur Stille gerufen, das heißt nicht länger zu lieben, was man ohne Mühsal lieben kann. Denn dann wird es darüber herrschen und nicht von ihm besessen werden, sondern es besitzen.

184. „Mein Joch ist sanft“ [Matth. 11,30], spricht der Herr. Wer dies Joch auf sich nimmt, hat alles übrige unter sich. Es kann ihm keine Mühe mehr machen, denn was unterworfen ist, leistet keinen Widerstand. Aber die armseligen Freunde dieser Welt, deren Herren sie sein könnten, wenn sie Söhne Gottes sein wollten - denn „er hat ihnen Macht gegeben, Gottes Söhne zu sein“ [Joh. 1, 12] -, die Freunde dieser Welt, sage ich, fürchten so sehr, aus ihren Armen gerissen zu werden, daß ihnen nichts mühseliger erscheint, als ohne Mühsal zu leben.

Wesen und Ursprung von Wahrheit und Falschheit [XXXVI.66]

185. Wer jedoch klar begriffen hat, daß es Falschheit ist, wenn man das, was nicht ist, für seiend hält, der erkennt auch, daß es die Wahrheit ist, die uns zeigt, was ist. Die Körper täuschen insoweit, als sie jenes Eine nicht erreichen, das sie doch, wie feststeht, nachahmen, das Eine, das der Ursprung jeglicher anderen Einheit ist, nach dessen Ähnlichkeit zu streben unsere natürliche Billigung findet, während, was von der Einheit abweicht und zur Unähnlichkeit mit ihr hinführt, auf unsere natürliche Mißbilligung stößt. Wenn man das begreift, kann man auch einsehen, daß es etwas geben muß, das jenem einzig Einen, dem Ursprung alles dessen, was sonst noch irgendwie eins ist, so ähnlich ist, daß es dasselbe gänzlich erfüllt, ja es selber ist.

186. Das aber ist die Wahrheit, das Wort, das im Uranfang war, das Wort, das Gott war bei Gott. [Joh. 1,1] Denn wenn Falschheit da zu finden ist, wo man das Eine nachahmt, und zwar nicht, insofern man es nachahmt, sondern insofern man es nicht erfüllen kann, so ist das die Wahrheit, die es erfüllen und eben dasselbe sein konnte. Sie ist es, die uns das Eine zeigt, wie es ist, weshalb sie auch mit höchstem Recht sein Wort heißt und sein Licht.

187. Die übrigen Dinge kann man jenem Einen ähnlich nennen, insofern sie sind, denn insofern sind sie auch wahr. Sie aber ist die Ähnlichkeit selber und darum auch die Wahrheit. Denn wie alles Wahre wahr ist durch die Wahrheit, so alles Ähnliche durch die Ähnlichkeit. Und wie die Wahrheit die Form des Wahren ist, so auch die Ähnlichkeit die Form alles Ähnlichen. Da also das Wahre insoweit wahr ist, als es ist, und insoweit ist, als es jenem ursprünglichen Einen ähnlich ist, so ist das die Form aller Dinge, die mit dem Ursprung die höchste Ähnlichkeit besitzt. Das aber ist die Wahrheit, in der es keinerlei Unähnlichkeit gibt.

188. Falschheit entsteht also nicht auf die Weise, daß die Dinge selbst trügen, da sie ja dem Wahrnehmenden nichts anderes zeigen als ihre Gestalt, die sie nach dem Range ihrer Schönheit empfangen haben. Sie entsteht auch nicht durch Trug der Sinne, da diese je nach der Beschaffenheit ihres Leibes nichts anderes als die Eindrücke, die sie empfangen, ihrem Vorgesetzten, dem Geiste, übermitteln. Sondern die Sünden sind es, die die Seelen täuschen, wenn diese das Wahre suchen und dabei die Wahrheit verlassen und vernachlässigen.

189. Denn da sie die Werke mehr liebten als den Künstler und die Kunst selbst, werden sie durch den Irrtum gestraft, daß sie den Künstler und die Kunst in den Werken wohl suchen, aber nicht finden können - denn Gott unterliegt nicht den leiblichen Sinnen, sondern überragt sogar den Geist - und darum die Werke selber für den Künstler und die Kunst halten.

Aus: Aurelius Augustinus, De vera religione/ Über die wahre Religion, Lateinisch/Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Wilhelm Thimme

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