Gerok, Karl von – Brosamen - 6. Predigt am Christfest (2. Predigt).
Zweite Predigt.
(1879.)
Luk. 2, 1-14.
„Dies ist der Tag den Gott gemacht, Sein werd in aller Welt gedacht!“ So dürfen wir wohl heute singen und sagen, denn es ist der Geburtstag des Größten, der je vom Weibe geboren ward, welchen wir heute mit der Christenheit auf dem ganzen Erdkreis feiern. Auch die Geburtstage hervorragender Menschen, teurer Angehörigen, ja den Tag unserer eigenen Geburt dürfen wir ja wohl auszeichnen vor den andern Tagen des Jahres und mit dankbarer Rührung begehen. Aber welches Menschen Geburt hat eine solche Bedeutung für die Menschheit, hat einen so tiefgehenden, einen so weitreichenden, einen so langdauernden Segen über die Erde gebracht, wie die Geburtsstunde des Kindes, über dem die Himmelsbotschaft erklang: Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren! Da heißt es wohl: Jauchzt Himmel, die ihr ihn erfuhrt, Den Tag der heiligsten Geburt, Und Erde die ihn heute sieht, Sing ihm, dem Herrn, ein neues Lied!
Und doch, wie weit auch das Geburtsfest dieses göttlichen Kindes den Geburtstag jedes Erdensohns überstrahlt: das ist gerade das Schöne an dem heutigen Fest, dass es auch auf unser armes Leben, auch auf unsere bescheidene Geburt einen verklärenden Widerschein wirft. Und je trübseliger unser irdisches Dasein uns oft erscheinen will, je gleichgültiger und undankbarer mancher Erdenpilger seinen Geburtstag von Jahr zu Jahr kommen und gehen sieht, umso mehr ist es am Platz, denselben auch einmal in einem höheren Lichte zu betrachten.
Das Geburtsfest Jesu, o Christ, wirft ein verklärendes Licht auch auf deinen Geburtstag,
indem es dich mahnt:
1) Freue dich, dass du als Menschenkind geboren bist!
2) Sorge dafür, dass du zum Gotteskind wiedergeboren wirst!
Dem lasst uns jetzt noch ein wenig nachdenken.
Ich freue mich, mein Heil, in dir,
Du wirst ein Mensch wie ich,
Dass ich mit Gott sei, Gott mit mir,
Wie sehr beglückst du mich! Amen. 1)
Das Geburtsfest Jesu wirst ein verklärendes Licht auch auf deinen Geburtstag, o Christ, denn wer du auch seiest, es ruft dir zu:
1) Freue dich, dass du als Menschenkind geboren bist!
Haben wir denn in Wahrheit Ursache, uns unsres Eintritts in dieses armselige Dasein, unsrer Ankunft im Jammertal dieser Erde zu freuen? Wenn jener fromme Hiob den Tag seiner Geburt verflucht und spricht: Der Tag müsse verloren sein, darinnen ich geboren bin (Hiob 3, 3); und wenn selbst der glückliche Salomo predigt: Alles ist eitel unter der Sonne und der Tag des Lodes ist besser weder der Tag der Geburt (Pred. 7, 2; 1, 14); wenn dem lebensfrohen und hochgebildeten Volk der alten Griechen einer seiner edelsten Dichter, Sophokles, zuruft: Das größte Glück wäre, nie geboren zu sein, das nächste aber nach dem, wenigstens so bald als möglich wieder zu sterben; und wenn die neueste Weltweisheit unsrer Tage als das ersehnte Ziel, dem der einzelne Mensch, die gesamte Menschheit und die ganze Welt entgegenstrebt, die Vernichtung preist: so steht das freilich schlecht im Einklang mit der Forderung: Freue dich, dass du als ein Menschenkind geboren bist!
Und es ist ja wahr: Geborenwerden heißt hineingeworfen werden in ein leidensvolles Dasein, in eine sündenvolle Welt.
Weinen ist das erste Lebenszeichen, mit dem das neugeborene Kindlein das Licht der Welt begrüßt. Ein hilfloses Würmlein, hilfloser als das Junge des unvernünftigen Tieres, liegt der Säugling in der Mutter Arm. Unter tausend Gefahren, die sein zartes Leben bedrohen, unter tausend Schmerzen, die seine erste Entwicklung mit sich bringt, wächst das Kind heran. Und wozu wächst es heran? Für ein leidensvolles Leben, das, wenns köstlich gewesen ist, Mühe und Arbeit war; für eine sündenvolle Welt, die mit ihrem Gift früher oder später auch die junge Seele ansteckt und von den schönen Anlagen, die sie mit auf die Welt gebracht hat, nur wenige unverkümmert sich entfalten lässt. Kann ich denn da noch dankbar sein für mein Dasein auf Erden? Kann ich da noch meines Geburtstags mich freuen, wenn nicht etwa in dem Sinn, dass jeder wiederkehrende Jahrestag meiner Geburt mich dem Ende meines Daseins näher bringt?
Aber wie anders sieht der Christ sein Erdendasein an! Welch liebliches, köstliches, hoffnungsvolles Licht fällt von der Krippe Jesu auf die Wiegen unsrer Kinder, auf den ganzen Erdenpfad eines Menschen!
Dort in jener Krippe liegt auch ein neugeborenes Menschenkind. Sein Eintritt ins Leben ist hilfloser und armseliger als die Geburtsstunde auch des Geringsten unter uns. Sein Gang durchs Leben ist mühevoller und schmerzensreicher als der Lebenslauf auch des Geplagtesten in unsern Reihen. Und doch - welche Fülle der edelsten Kräfte, der reinsten Tugenden, der gesegnetsten Wirkungen hat in diesem Kindlein sich entfaltet; welcher unerschöpfliche Strom von geistlichen Segnungen hat von jenem kurzen, dreiunddreißigjährigen Erdenleben, das dort im dunklen Stall zu Bethlehem in nächtlicher Stunde seinen Anfang nahm, über die Menschheit sich ergossen bis auf diesen Tag! Es ist ja wohl kein gewöhnliches Menschenkind, das dort in der Krippe liegt, er heißt der eingeborne Sohn Gottes, den wir in jenem Kindlein anbeten. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, sagt die Schrift von ihm. Der Sohn des Allerhöchsten entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden.
Aber dass der Sohn Gottes unser Bruder ward, dass ein so reines, heiliges, segensreiches Leben in den Schranken der menschlichen Natur sich entfaltete, das ist ja doch ein Beweis: Diese menschliche Natur ist ein Gefäß, in welches der Himmel seine schönsten Gaben niederlegen kann. Und in diesem Menschenkind ohne Gleichen, in diesem holdseligen Mariensohn ist der anerschaffene Adel der menschlichen Natur erneuert, ist es zum ersten Mal seit Menschenkinder auf Erden geboren werden, ans Licht getreten, was ein Mensch sein kann und soll: ein Ebenbild des großen Gottes im Kleinen. Hinfort ist es keine Schande und kein Unglück, sondern ein Glück und eine Ehre, ein Mensch zu heißen und jeder der Geborenen erfreu sich Mensch zu sein!
Und dass der Sohn Gottes unter uns wohnte ein Menschenalter lang, dass er alle Mühen und Leiden dieses Erdendaseins auf sich nahm von seinem ersten Weinen bis zu seinem letzten Todesseufzer, und dass er in dieser kurzen Spanne Zeit zwischen Geburt und Grab so Schönes und Großes, so Segensreiches und Unvergängliches gewirkt hat, das ist doch ein Zeugnis: das Leben ist keine Last, die man nur seufzend tragen kann, kein wertloses Geschenk, das man verächtlich wegwerfen darf, sondern es ist eine kostbare Gabe der ewigen Liebe, es ist ein anvertrautes Pfund, das ich verwerten soll zur Ehre meines Schöpfers und zum Wohl meiner Brüder und zum Heil meiner eigenen Seele. Und indem dieser himmlische Gast eingetreten ist in alle menschlichen Verhältnisse, indem er uns seine leuchtenden Fußstapfen zurückgelassen hat auf allen Erdenwegen, von der Wiege bis zum Grabe, hat er durch den Einfluss seines Worts, durch das Vorbild seines Wandels, durch die Wirkungen seines Geistes das ganze Menschenleben veredelt und die ganze Menschheit gehoben und so muss uns durch ihn diese Erde mit all ihren Leiden wieder lieb und das Dasein mit all seinen Lasten wieder wert werden und ist es ein echt christlicher wie echt menschlicher Gedanke: das Leben ist doch schön; und selbst in dieser harten unbarmherzigen Winterzeit dürfen wir uns dran erinnern:
O wunderschön ist Gottes Erde
Und wert darauf vergnügt zu sein,
Drum will ich bis ich Asche werde,
Mich dieser schönen Erde freun! 2)
Also nicht mit Unlust und Wehmut wollen wir uns abwenden von einem neugeborenen Menschenkind, als wäre ihm besser geschehen, wenn es ausgeblieben wäre. Nein, um die Wiege jedes Neugeborenen schweben segnende Engel und dürfen glückwünschende Menschen sich sammeln; von der Krippe des göttlichen Kindes fällt ein verklärendes Licht auch auf unsere Kinder und mahnt uns: Freuet euch dieser Kleinen, habt sie lieb und haltet sie wert, und achtet sie hoch, denn auch der Sohn Gottes ist ein Kindlein gewesen. Also auch nicht mit Unlust und Undank wollen wir zurückdenken an den Tag unsrer eigenen Geburt; dankbar wollen wir uns des Daseins freuen, in welches uns der allmächtige Schöpfer wahrlich nicht im Zorn, sondern aus Liebe gerufen hat. Dankbar wollen wir jede Wiederkehr unsres Geburtstags hienieden begrüßen die uns mahnt: Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht was er dir Gutes getan hat, und nütze deine Erdenzeit, die dir hienieden noch vergönnt ist, zum Heil deiner unsterblichen Seele;
2) indem du sorgst, dass du zum Gotteskind wiedergeboren werdest.
Darüber nur noch ein Wort ehe wir auseinandergehen.
Es ist ja wohl ein Kind, einzig in seiner Art, um dessen Geburtsstätte wir heut im Geist versammelt sind. Einzig nach seiner Herkunft als der Sohn, der aus des Vaters Schoß kam; einzig nach seiner Begabung als der Gesalbte des Herrn, auf welchem der Geist Gottes ruhte ohne Maß; einzig nach seiner Bestimmung als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trug; einzig nach seinem Wandel als der Heilige, an welchem der Vater Wohlgefallen hat; einzig nach seiner Würde als der Hochgelobte, in dessen Namen sich beugen sollen alle Knie im Himmel und auf Erden und unter der Erde.
Aber wenn der Engel über seiner Krippe predigt: Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird, denn Euch ist heute der Heiland geboren: was heißt dieses „Euch geboren“ anders als: Euch zum Heil, Euch zum Eigentum, Euch zur Aneignung, dass ihr ihn aufnehmt in eurer Mitte, aufnehmt in euern Herzen in Glauben, Liebe und Gehorsam?
Und wenn die himmlischen Herrscharen lobsingen in der Heiligen Nacht: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, liegt darin nicht die Mahnung an die Menschheit: Weil sich der ewige Gott so gnädig deiner angenommen hat, so werde wieder ein Volk Gottes, auf dass Friede auf Erden wohne und der heilige Gott mit Wohlgefallen auf seine Menschenkinder herniederblicken könne!
Und wenn wir am Geburtsfest unsres Erlösers dem göttlichen Kind in sein Antlitz schauen und uns all des Segens erinnern, den er durch seine Geburt und seinen Erdenwandel, durch sein Wort und seinen Geist, durch sein Leben und sein Sterben der Menschheit gebracht hat, sollten wir uns da nicht erinnern: auch für uns ist das geschehen; dazu ist der Sohn Gottes ein Menschenkind geworden, dass wir Menschenkinder Gotteskinder würden!
Ein Gotteskind aber wird man nur durch die Wiedergeburt, durch die Erneuerung des Herzens und Lebens nach dem Vorbild Jesu Christi, so dass er gleichsam in uns geboren wird und wächst und eine Gestalt in uns gewinnt durch unser Denken, Wollen und Handeln.
Auf diese Wiedergeburt zielen all unsere leiblichen Geburtstage, die Gottes Gnade uns schenkt, vom ersten bis zum letzten; darauf zielt auch jedes Geburtsfest unsres Heilands, das wir feiern dürfen von kindauf bis ins Alter, wie es in einem Sinnspruch heißt:
Wär' Christus hundertmal in Bethlehem geboren
Und wirds nicht auch in dir - so bleibst du doch verloren!
Diese Wiedergeburt ist freilich nicht das Werk einer Stunde, sie ist die Arbeit eines Lebens. Aber nach all den Geburtstagen, die wir durch Gottes Gnade schon erlebt, nach allen den Christtagen, die wir mit der Gemeinde des Herrn schon gefeiert: in wie vielen unter uns ist denn dies Werk - ich will nicht sagen vollendet, aber doch wirklich im Gang, doch nur ernstlich angefangen? O möchte auch diese heilige Festzeit uns aufs neue mahnen: Sorge dafür, dass du zum Gotteskind wiedergeboren wirst, ehe dein letzter Erdentag erscheint. Dann hast du nicht vergeblich hienieden gelebt, dann wird dein Todestag dein seligster Geburtstag, der Geburtstag zum ewigen Leben, dann gilt es dir im schönsten Sinn: Der Tag des Todes ist besser weder der Tag der Geburt.
Und du, Herr Jesu, der du unsertwillen ein armes Menschenkind geworden bist, hilf uns, dass wir in deiner Nachfolge selige Gotteskinder werden, dann sind wir nicht vergebens hereingeboren in diese Welt, dann wird auch der Ausgang aus dieser Welt uns einst eine selige Neugeburt ins himmlische Licht, ins ewige Leben. du dem jetzt die Menge
Der Engel und Verklärten singt,
Vernimm die Lobgesänge
Die dir dein Volk im Staube bringt;
Auch du warst einst auf Erden
Was deine Brüder sind,
Ein Dulder der Beschwerden,
Ein schwaches Menschenkind,
O lass auch uns auf Erden
Dir gleichgesinnet sein,
Bis wir einst himmlisch werden
und dein uns ewig freun. 3)
Amen.