Luger, Friedrich - Der Brief des Jakobus - Sechsundzwanzigste Betrachtung.

Das Werk der rettenden Sünderliebe.

Über Jak. 5, 19. 20.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesu Christo! Amen.

Jak. 5,19.20:
Liebe Brüder! So Jemand unter euch irren würde von der Wahrheit, und Jemand bekehrte ihn, der soll wissen, dass, wer den Sünder bekehrt hat von dem Irrtum seines Weges, der hat einer Seele vom Tode geholfen, und wird bedecken die Menge der Sünden.

In dem Herrn Geliebte! Wir stehen mit diesen Worten am Schlusse dieses herrlichen Briefes und damit auch unserer Betrachtungen desselben. Beherzigenswerte Worte, mit welchen dieser Knecht Gottes und des Herrn Jesu Christi seine Ermahnungen an seine Brüder in der Zerstreuung beschließt! Von der Fürbitte und Fürsorge für die leiblich Kranken, welche er seinen Lesern an das Herz gelegt hatte, wendet er sich zu der Fürsorge für diejenigen, die schlimmer daran sind, als die leiblich Kranken, zu den geistlich Kranken, den Verirrten, und mahnt seine Leser an das Werk der rettenden Sünderliebe.

Wir folgen seinen Worten, indem wir

  1. das Arbeitsfeld überblicken, auf welches es uns hinweist,
  2. die Arbeit uns vergegenwärtigen, welche es von uns fordert, sowie
  3. den Lohn der Arbeit, welchen es uns verheißt, und endlich
  4. uns selbst prüfen, ob wir zur Mitarbeit an solchem Werke bereit und geschickt sind.

Gott der Gnade aber sei bei uns unter dieser Betrachtung mit seinem Geiste und mit seinem Segen! Amen.

1.

Es könnte ja scheinen, in dem Herrn Geliebte! als wäre es nur ein enger Kreis ihres Wirkens, ein beschränktes Arbeitsfeld, auf welches Jakobus seine Leser hinweist, indem er schreibt: „Liebe Brüder! So Jemand unter euch irren würde von der Wahrheit“. „So Jemand!“ schreibt er, als redete er nur von Diesem oder Jenem, der etwa von der Wahrheit irrte. Und: „unter euch, liebe Brüder!“ sagt er; er denkt also nicht an die Alle, die das Wort der Wahrheit noch gar nicht gehört, oder doch noch nicht angenommen haben, seien es Juden oder Heiden; sondern er beschränkt seine Rede ausdrücklich auf „die Brüder“, die an das Wort der Wahrheit bereits gläubig, die schon Christen geworden sind, die aber von der Wahrheit wieder abirrten. Unter diesen meint er dann freilich nicht bloß, ja nicht einmal zunächst Solche, die in der Erkenntnis der Wahrheit, in der Lehre, irren, sondern Solche, die in ihrem Leben und Wandel auf Irrwege geraten sind. Denn er nennt sie „Sünder“, und redet von einem „Irrtum ihres Weges“; er fordert auch nicht etwa nur, dass sie eines Besseren belehrt, sondern dass sie von „dem Irrtum ihres Weges bekehrt“ würden. Es ist wohl ein wehmütiger und herzergreifender Gedanke, dass es solcher Irrenden und Verirrten schon in den ersten Christengemeinden nicht Wenige gab. Der ganze Brief des Jakobus hat seinen Ursprung in dem Bemühen, von der Wahrheit abgeirrte Brüder von dem Irrtum ihres Weges zu bekehren, und zu der Wahrheit zurückzuführen. Und welchen Einblick in die mannigfaltigsten Irrtümer und Verirrungen der ältesten Christengemeinden werden uns durch die Briefe des Apostels Paulus eröffnet!

War aber auch das Arbeitsfeld, auf welches Jakobus seine Leser hinweist, in jenen Tagen noch ein verhältnismäßig beschränktes, Freunde! in welchem Maße hat es sich seitdem erweitert!

Wahrlich, nicht nur hier oder da „Jemand“, welcher der Belehrung über seinen Irrtum, oder der Bekehrung von seinem Irrwege bedarf, sondern der ganze Acker des Reiches Gottes voll Unkraut unter dem Weizen, und dieser in Gefahr, von Dornen und Disteln überwuchert und erstickt zu werden! Wie groß ist bei so Vielen die Unwissenheit in den Heilstatsachen und Grundwahrheiten des Evangeliums! Wie Viele, die Christen heißen, und nur noch durch Taufe und Konfirmation, ja kaum noch durch diese, mit der christlichen Kirche verbunden sind! Was Wunder, wenn da Sittenlosigkeit und Verderben überhand nehmen, und Rohheit und Verwilderung in einer zuchtlosen Jugend immer mehr um sich greifen, also dass die Zahl auch der jugendlichen Verbrecher in Schrecken erregendem Maße anwächst! Wer mag es christlichen Eltern verdenken, wenn sie ihre Kinder nicht ohne Grauen und bange Sorge in diese Welt der Versuchung und Verführung hinaussenden? Und wie manches Kind, das schon zu Hause der elterlichen Zucht und Liebe spottet, und in Gefahr ist, zu verderben, wenn nicht die rettende Liebe der Gemeinde den Eltern die hilfreiche Hand bietet, und der verirrten und verlorenen sich annimmt! Wie Mancher, der durch seine Verirrungen bereits dem Arm des menschlichen Gerichts verfiel, und es bedarf, dass die rettende Liebe sich seiner erbarme, den Gefangenen zu besuchen, den aus der Haft Entlassenen wieder aufzunehmen, und vor neuen, vielleicht schwereren, Verirrungen zu bewahren! Wie unermesslich viel größer aber noch ist die Menge derer, die, bürgerlich unbescholten, und vor der Welt untadelig und ehrbar wandelnd, doch dem Christenglauben entfremdet, und mit allen Gedanken und Sinnen in die hohle Weisheit der Welt oder in die Sorgen dieses Lebens und den Betrug des Reichtums verstrickt sind! Wie Viele, die das: „Tue recht; scheue Niemand!“ zum Wahlspruch ihres Lebens machen, aber das: „Fürchte Gott!“ vor demselben gestrichen haben! Wird doch der Unglaube an Gott und die Verachtung seines Wortes schier von den Dächern, in Wort und Schrift, gepredigt, und Tausende und aber Tausende, die mit offenen Ohren auf die verführerische Predigt lauschen, und gierigen Herzens das Gift der losen Lehre in sich einsaugen! Was Wunder, wenn neben solchem Unglauben der Aberglaube (und nicht in der römischen Kirche allein!) üppig aufwuchert! Sind sie doch Zwillingsbrüder, der Unglaube und der Aberglaube, die mit einander in einem Hause groß werden; und von der Macht des Aberglaubens erlöst uns nimmer der Unglaube, sondern allein der Glaube, der Glaube an den lebendigen Gott im Himmel und sein wahrhaftiges Wort!

2.

Wahrlich, ein weites, unabsehbares Arbeitsfeld, auf welches das Werk der rettenden Sünderliebe uns hinweist; und wie Mancher, der schon im Blick auf diese umfassende Arbeit und die Schwierigkeit der Aufgabe, welche es zu lösen gilt, entmutigt zurückschreckte!

Vielleicht im Feuer der ersten Liebe nicht, im brennenden Dank der Liebe für die rettende Sünderliebe und Barmherzigkeit, welche er selbst erfahren durfte, da er durch die Gnade Gottes und den Dienst der helfenden Bruderliebe von dem Irrtum seines Weges bekehrt, und wie ein Brand aus dem Feuer gerettet, und zu dem Herrn geführt ward, dem Heilande, welcher die Sünder annimmt! Nein, damals nicht! Wie trieb es ihn da im Eifer dankbarer Liebe hinaus, nun auch das Verlorene zu suchen, der irrenden und verirrten Brüder sich anzunehmen, und zu tun nach den Worten des frommen Sängers:

„O, geht hinaus auf allen Wegen,
Und ruft die Irrenden herein,
Streckt Allen eure Hand entgegen,
Und ladet selbst sie zu uns ein!“

Ach, aber wie bald, und die erste Liebe erkaltete, und der Eifer nicht selten vielleicht ein Eifer mit Unverstand -, mit welchem wir die Irrenden und Verirrten von dem Irrtum ihres Weges zu bekehren suchten, erlahmte, und Mutlosigkeit und Kälte traten an die Stelle der eifrigen und eifernden Liebe! Ist es doch wirklich oft leichter, den Heiden, welcher den Weg der Wahrheit noch nie gekannt hat, zu dem Herrn zu führen, als Christen, die von dem Wege der Wahrheit wussten, aber sich wieder von demselben verirrten, zu ihm zurückzuführen. Und doch will auch dies Schwere in dem Namen des Herrn versucht sein. Sind doch auch wir es nicht, die das Werk ausführen sollen, sondern nur Werkzeuge sind wir des Herrn, der es tun muss, und dem wir die Seelen zuführen sollen, damit er sein Gnadenwerk an ihnen ausrichte. Wir können keinem verirrten Sünder seine Sünden vergeben; aber wir können ihm den Weg zeigen zur Vergebung derselben, und ihn betend hintragen zu den Füßen des Sünderheilands, dass er seine Friedenshand auf die verwundete Seele lege, und über ihr spreche: „Sei getrost; dir sind deine Sünden vergeben!“ Wir können dann den begnadigten Sünder mit brüderlicher Geduld und Liebe tragen, ihn durch unseren Zuspruch stärken, und ihn hüten und halten, dass sein Fuß nicht wieder strauchle, und sich von dem Wege der Wahrheit verirre. Aber das sollen wir auch tun, und uns durch keine Größe und Schwierigkeit der Arbeit schrecken und entmutigen lassen; und traurig, wenn es uns an dem rechten Ernst und Eifer dieser rettenden Liebe fehlt!

Weist uns doch das Wort des Jakobus auch gar nicht in die Weite und Breite mit unserer Arbeit, sondern ist zufrieden, wenn du nur bei dem Ersten und Nächsten, vielleicht in deinem eigenen Hause und in deiner unmittelbaren Umgebung, anfängst. Und wenn die Einsicht, die Kraft, das Geschick des Einzelnen nicht ausreicht, Freunde! wir leben ja in einer Zeit, welche auf den verschiedensten Gebieten des Lebens den Wert der Genossenschaft und der Gemeinsamkeit der Arbeit zu schätzen vermag, und wissen es, dass vereinte Kraft stark macht; wohlan, so gilt es ja auch hier, auch in dem Werke der rettenden Sünderliebe, davon Zeugnis zu geben, und in opferwilliger Liebe mit Hand anzulegen an allen diesen Werken der vereinten Fürsorge für die früh Verwahrlosten und Verwilderten, die Gefallenen und Gefangenen, diesen köstlichen Zeugnissen eines in Mitten der wachsenden Verwilderung und Entfremdung von dem Wege der Wahrheit wieder erwachten und neugekräftigten Glaubenslebens! Die ihr aber zu solchem Eifer der rettenden Liebe scheel seht, und, statt freudig die Hand mit anzulegen, splitterrichtend den Kopf schüttelt, seht wohl zu, dass euch das strafende Wort des Herrn nicht treffe: „Was ihr nicht getan habt Einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan!“ (Matth. 25,45.)

3.

Oder wolltest du sagen: „Was nützt solche Arbeit der rettenden Liebe? Ist ihr Erfolg nicht wie ein Tropfen im Meer gegenüber dieser immer weiter um sich greifenden schrecklichen Verwilderung?“ Wie dürfte doch ein Christ so sprechen, der es weiß, dass jede einzelne Menschenseele gleich einer Welt ist in den Augen der ewigen, barmherzigen Gottesliebe, und dass wir in den Dienst eines Herrn berufen sind, welcher sich selbst dem Hirten vergleicht, der die neunundneunzig Schafe lässt, um dem einen verirrten nachzugehen, und es zu suchen, und der das gefundene mit Freuden auf seine Achsel nimmt, und es zu seiner Heerde zurückbringt! Ist doch das Wort: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ das Wort des ersten Brudermörders gewesen auf Erden. (1 Mos. 4,9.) Und wenn wir den preisen, der freudig sein Leben wagt, um das leibliche Leben des Nächsten zu retten, sollten wir es für einen geringeren Preis achten, der Retter einer Seele zu sein? „So Jemand unter euch“, schreibt Jakobus, „irren würde von der Wahrheit, und Jemand bekehrte ihn, der soll wissen, dass, wer den Sünder bekehrt hat von dem Irrtum seines Weges, der hat einer Seele vom Tode geholfen, und wird bedecken die Menge der Sünden!“ Jakobus meint die Menge der Sünden, deren der Bruder, welchen er, im Dienste des Herrn und als Werkzeug seiner rettenden Liebe, von dem Irrtum seines Weges bekehrte, vor seiner Bekehrung sich schuldig machte, und die nun dem bekehrten, bußfertigen und gläubigen, Sünder durch Gottes Gnade vergeben werden. O, seht da den Lohn, welchen dieser Knecht Gottes und des Herrn Jesu Christi der Arbeit der rettenden Sünderliebe verheißt! Freunde, ist das Werk schwer: Einen Irrenden zu bekehren von dem Irrtum seines Weges! welch ein seliger Lohn ist es: Einer Seele vom Tode zu helfen, ihr ein Gehilfe zu werden der Vergebung ihrer Sünden und ihrer ewigen Seligkeit! Und auch darum, was macht ihr, dass ihr träg zuseht, und über die vielleicht ungeschickten oder misslungenen Versuche zur Rettung eines Bruders mitleidig oder gar spöttisch die Achsel zuckt, statt in freudigem Eifer helfender Liebe mit zuzugreifen, und, wo es nötig sein sollte, es, so viel an euch ist, besser zu machen!

4.

Freilich, wollen wir mit Hand anlegen an das Werk der rettenden Sünderliebe, dann gilt es, dass wir mit ganzem Ernste uns prüfen, ob wir zu der Mitarbeit an diesem heiligen, schweren Werke auch recht bereit und geschickt sind? Wie können und wollen wir Andere von dem Irrtum ihres Weges bekehren, wenn wir selbst den Weg der Wahrheit noch nicht recht kennen, oder von ihm wieder verirrt sind? Wehe, wer dem Bruder, statt ihm ein Retter vom Tode zu sein und ein Führer auf den Weg des Lebens, zum Mörder seiner Seele wird und zum Verführer auf den Weg des Verderbens! Nur so weit wir selbst die Wahrheit erkannt haben, und auf dem Wege der Wahrheit wandeln, sind wir geschickt, als Mitarbeiter miteinzutreten in die Arbeit der rettenden Liebe. Sind wir aber selbst wahrhaft bekehrt von dem Irrtum unserer Wege, und ist die Liebe Christi ausgegossen in unsere Herzen, dann fragen wir auch nicht mehr nach dem Lohn und Erfolg unserer Arbeit; dann schrecken wir nicht mehr zurück vor der Schwierigkeit des Werkes; dann kümmert es uns nicht, ob es sich auch hier immer wieder erfüllt, dass der Eine sät, aber der Andere erntet. Wir achten es Gnade genug, nur irgendwie und irgendwo mithelfen zu dürfen bei diesem seligen Werke der rettenden Sünderliebe, und stellen den Erfolg und Segen unserer Arbeit in die Hand des Herrn.

Darum in Summa: Nur hin zu ihm, in dem Herrn Geliebte! Nur hin zu ihm, des wir sind, und zu dessen Dienst wir berufen sind, dass er uns das Auge des Glaubens öffne, dass er unsere Herzen mit dem Feuer seiner Liebe entzünde, und unsere Füße durch seine Kraft stärke, und fest behalte auf dem Wege der Wahrheit; und dann in seinem Namen hinaus in die Welt und unter unsere Brüder, um in seinem Dienste zu wirken, so lange es noch Tag für uns ist, ehe die Nacht kommt, da Niemand wirken kann!

Amen, das hilf uns, gnadenreicher Herr, unser Heiland, und also behalte Du selbst uns in Deiner seligen Gemeinschaft und in der Nachfolge Deiner Liebe; der Du bist der Weg und die Wahrheit und das Leben; der Anfang und das Ende; „Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit!“ (Hebr. 13, 8.) Amen.

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