Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (4)

Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (4)

Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört auch in kirchlicher Beziehung die Dämpfung des Parteigeistes, der sonst die verschiedenen Konfessionen oft heftig entzweite. Sogar die römische Kirche, die übrigens sich selbst nicht verleugnen kann, ist duldsamer geworden, mag sie auch widerstreben. Besonders haben sich die Zweige der protestantischen Kirche einander freundlich genähert. Freilich kommt es vielfach aus trüber Quelle. Man macht sich im ganzen wenig aus Religion und noch weniger aus einer besonderen Konfession. Man bemüht sich nicht, Kenntnis zu nehmen von den eigentlichen christlichen Lehren, will geschweigen von der besonderen, abweichenden Ansicht, die die eine Konfession von der andern unterscheidet, wo ich mir sonst erlauben würde, Euch ein ehrwürdiges, neulich herausgekommenes Büchlein zu empfehlen, welches die Bekenntnisse der schweizerischen Kirche aus dem Anfang der Reformation mitteilt und den Titel führt: Sammlung symbolischer Bücher der reformierten Kirche. Übrigens haben die Missions-Gesellschaften auch ein bedeutendes zur gegenseitigen Annäherung der verschiedenen kirchlichen Parteien beigetragen und tun es noch. Freilich gibt es von England aus noch Missions-Gesellschaften der hohen oder bischöflichen Kirche, der Presbyterianer, Methodisten, Mennoniten und Quäker, aber sie vereinigen sich doch, wie in Deutschland die Missionen der evangelischen und der Brüder-Kirche zu einem Zweck und fördern und begünstigen sich gegenseitig. Bei den Bibelgesellschaften fällt jener Unterschied fast gar nicht in die Augen.

Und wahrlich werden uns auf jeden Fall die Namen reformiert, lutherisch und sogar christlich nichts nutzen noch helfen. Aber so wahr und unwidersprechlich dies auch ist, so wird doch jeder wahre Christ mit seinem Herzen und seinem Bezeigen derjenigen Gemeinschaft, habe sie eine größere oder kleinere Ausdehnung, sie wird aber nur eine kleine haben, anhangen, wo die Ehre Gottes und die Nichtigkeit der Kreatur am lautersten gehandhabt wird und zwar darum, weil sein Herz also gesinnet ist. Es hat aber alles Fleisch seinen Weg verderbet.

Laßt uns aber jetzt einige Züge aus dem Bilde eines echt evangelischen Christen erwägen, damit wir angespornt werden mögen, das Original in uns selbst zu suchen.

So lasset uns hinzugehen mit wahrhaftigen Herzen, in völligem Glauben, besprenget in unserm Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leibe mit reinem Wasser.
Hebr. 10,22

Mit dieser Betrachtung wollte ich die Beantwortung der Frage: Was heißt evangelisch? die uns eine Zeitlang beschäftigt hat beschließen, und nur noch über zwei Stücke mit Euch nachdenken. Das erste ist, was für Eigenschaften hat ein wahrhaft und im vollen Sinne des Wortes evangelischer Christ? Zweitens, wem soll Gesetz, wem Evangelium gepredigt werden? Letzteres versparen wir jedoch bis zum Nächsten.

I.

Unser Text enthält einige Hauptzüge aus dem Bilde eines echt evangelischen Christen. Alle wahre Christen gehen hinzu, nahen sich dem Gnadenthrone, um daselbst Barmherzigkeit und Gnade zu finden auf die Zeit, wo ihnen Hülfe not sein wird. Aber der Apostel stellt die Ermahnung unseres Textes nicht an Unbekehrte, sondern an Gläubige. Daraus erhellet, daß die Art und Weise des Hinzunahens noch nicht bei ihnen allen die entwickelte Reife hatte, die er hier schildert, und zu welcher sie alle hinanstreben sollten, ob sie's ergreifen möchten. So steht es noch. Echt evangelische Christen gibt es etliche, aber wenige, so daß Paulus 1. Kor. 4 wohl 10,000 Zuchtmeister gegen etliche Väter setzt. Laßt uns aber den schwachen Versuch machen, einige Hauptzüge aus dem Bilde eines echt evangelischen Christen herauszustellen.

I.

Er ist erstens bei dem andern Manne, Christo, und also dem Gesetz getötet und los von demselben, oder wie der Apostel es hier ausdrückt: Los vom bösen Gewissen. Das Gewissen, dieser innere Richterstuhl an Gottes statt, kann in zweifacher Beziehung bös genannt werden. Einmal, in so fern es sein Amt schlecht oder gar nicht verwaltet. Gar nicht tut es sein Amt bei denjenigen unglückseligen Menschen, welche, wie der namentliche Apostel 1. Tim. 4 sagt, Brandmale in ihrem Gewissen haben, das gleichsam abgebrannt und fühllos geworden ist. Solche Menschen begehen heimlich und öffentlich allerlei Ungerechtigkeiten und Verbrechen mit frechem Gemüte, ohne nur einen Augenblick vor der Hölle zu erschrecken. Vielleicht rühmen sie sich ihrer Übeltaten sogar, gesonnen, sich dieselben nicht wehren zu lassen. Das sind rechte Satansknechte, die sich Zorn häufen wie einen Schatz auf den Tag des Zorns. Oftmals rächt sich ihr so lange niedergehaltenes Gewissen schon diesseits der Ewigkeit auf eine furchtbare Weise an ihnen und zündet das Feuer der Hölle schon bei Leibes Leben und im Angesichte ihres sich nahenden Todes also in ihren Gebeinen an, daß sie mit gräßlicher Verzweiflung in die finstere Ewigkeit übergehen, vor welcher sie nun eben so sehr erbeben, als sie dieselbe früher zu verhöhnen scheinen wollten. Als tot zeigt sich auch das Gewissen bei jenen eigengerechten Personen, welche, von groben Verbrechen und Ungerechtigkeiten frei, meinen, sie seien die Leute, welche rechtlich begründete Ansprüche an den Himmel haben, den ihnen Gott nicht versagen könne, ohne eine Ungerechtigkeit zu begehen, die von ihm gar nicht zu erwarten ist. Sie sind dreist genug, sich nicht nur gegen Menschen, wo es an seinem Ort sein kann, sondern selbst gegen Gott und sein Gericht ihres guten Gewissens zu rühmen. Aber indem sie sich weit über die obengenannten erheben, sind sie doch mit ihnen in gleicher Verdammnis inbegriffen. Sie sind wie Saulus in der nämlichen Zeit, der Wahrheit nach, die größten Sünder, wo sie sich für unsträflich nach dem Gesetz achten und stehen um so bedenklicher, je schwerer sie von ihrem Irrtum zu überzeugen sind. Auch hinter diese Kameele wird sich der Zorn der göttlichen Heiligkeit hermachen und ihnen zeigen, welch' ein unflätig Kleid alle ihre Gerechtigkeit ist, wird Spinnengewebe wegfegen und ihnen ihre Werke als solche anzeigen, die kein nütze sind. Und wohl ihnen, wenn dies in Gnaden geschieht! Sonst ist's mit solchen verloren. Schlecht verwaltet das Gewissen sein Amt bei denen, wo es zwar zuweilen seinen Mund auftut und ihnen entweder überhaupt vorstellt, es stehe noch nicht gut mit ihnen, und sie könnten so nicht selig werden, oder ihnen auch einzelne Sünden der Begehung oder Unterlassung vorrückt und ihnen dadurch Unruhe macht. Aber wie geht's? Es wird vielleicht ein guter Vorsatz gefaßt, man macht vielleicht einen kleinen und kurzen Stillstand, man denkt alsbald, Gott sei ja sehr zum Vergeben geneigt; die Zerstreuungen und Geschäfte leiten wieder auf andere Gedanken, und so geht's ihnen wie denen, die des Nachts einmal erwachen, aber bald und gern wieder einschlummern und nun noch fester schlafen wie vorhin, bis sie mit ihrem Lager verbrennen. Das ist dann mit Recht ein böses, schlechtes Gewissen zu nennen. Aber man kann es auch mit Absicht auf Personen so nennen, bei denen es sein Amt so tut, daß die toten Werke in demselben, daß seine Geschwüre und Eiterbeulen fühlbar werden. Mit dem Gewissen ist in der Tat nicht zu scherzen. Es ist ein wunderliches und bedenkliches und gefährliches Ding im Menschen, das seinem Willen gar nicht unterworfen ist. Es hat einen fürchterlichen Stachel, dessen Stiche äußerst schmerzhaft und gefährlich werden können. Es hat eine Peitsche und wenn es damit peitscht und hauet, so dringt jeder Hieb bis auf die Knochen und ins Mark. Es ist ein Wurm, dessen Nagen so empfindlich ist, daß Judas lieber den Strick erwählte, als es länger erlitt, obschon er auf diesem erschrecklichen Wege rettungslos verloren ging. Das ist denn wohl in Absicht auf den Menschen selbst ein böses Gewissen, das ihm auf der einen Seite seine Sünde, auf der andern den Richterstuhl Gottes vorhält und das strenge, unbarmherzige Gericht, das über ihn ergehen soll. Dieses böse Gewissen liegt in jedem natürlichen Menschen, wenn es gleich bei den meisten schläft, aber doch zu jeder Stunde erwachen und eben dadurch die Hölle in seinem Innern entzünden kann. Desselben los zu werden, ist eine sehr wichtige Sache. Des Menschen eigene Kraft und Fleiß reichen dazu gar nicht hin. Es war dazu nichts geringeres erforderlich, als daß Christus sein Blut vergoß, diese einzige Arznei, die das Gewissen von den toten Werken reinigt, und es ist dazu nichts Geringeres nötig, als daß wir mit diesem Blute durch den heiligen Geist an unserm Herzen besprengt werden, daß wir's gleichsam auf eine geheimnisvolle Weise trinken und so aufs innigste damit vereinigt werden. Es ist ein großer Schatz und ein beständiges Wohlleben, auf diesem Wege ein gutes Gewissen erlangt zu haben. Ein echt evangelischer Christ nun hat es erlangt. Er ist los vom bösen Gewissen und mit dem reinen Wasser des Blutes und Geistes Jesu Christi abgewaschen. Er kann nun auf die rechte Weise Hiob nachsagen: „Mein Gewissen beißt mich nicht meines ganzen Lebens halber“ und die apostolische Vorschrift in Ausübung bringen: Freuet euch allewege! sind wir denn nun solche evangelische Christen? Sind wir's durch die Zuneigung des Blutes Christi geworden? Sollten wir's nicht allzumal werden wollen, und suchen wir das?

II.

Ein echt evangelischer Christ tritt zweitens mit aller Freimütigkeit zum Gnadenthron. Wie sollte er das nicht? Er hat den Geist der Kindschaft, durch welchen er ruft: Abba, lieber Vater, und der mit seinem Geiste zeuget, er sei ein Kind Gottes. Er erblickt Gott in Christo, also nicht als einen beleidigten Richter, sondern als einen versöhnten, gnädigen Vater, nicht als auf einem Richter- sondern auf einem Gnadenthron, und wenn ja auf einem Richterstuhl, doch nur von demselben herab Urteile über bußfertige Sünder zu fällen, wie sie der Fürbitte des Mittlers gemäß sind, wo er sagt: Laß ihn nicht hinunterfahren ins Verderben, denn ich habe eine Versöhnung gefunden. Was sollte ihn zurückschrecken? Die Gerechtigkeit Gottes? Ihr ist genug geschehen; das Gesetz? Es ist erfüllet; dessen Fluch? Er ist erlitten; seine Missetat? Sie ist versöhnt; seine Sünde? Sie ist zugesiegelt; sein anklebendes Verderben? Es ist bedecket; seine Armut? Er ist reich genug ihn mit Gütern zu füllen; die Art seiner Bedürfnisse und Anliegen? Er hat's ja mit seinem Freund und Vater zu tun. O selige, o wohlbegründete Freimütigkeit, womit der evangelische Christ zum Vater tritt, um sich alles auszubitten, wozu er sich in dem Gnadentestament verbindlich gemacht hat!

Du hast es mir verliehen,
Daß ich fröhlich darf erscheinen,
Denn in deinen offnen Wunden
Hab ich freien Zutritt funden.

Schreckt dich aber noch manches zurück, so beweiset dies, daß du noch kein recht evangelischer Christ bist.

III.

Ein echt evangelischer Christ ist drittens mit erleuchteten Augen des Verstandes begabt. Es geht ihm nicht mehr wie jenem, zwar sehend gewordenen Blinden, der aber doch noch Menschen wie Bäume wandeln sah und erst dann die Gegenstände recht zu unterscheiden wußte, als Jesus ihm zum zweitenmal die Hände aufgelegt hatte, sondern er ist gelangt zu allem Reichtum des gewissen Verstandes, zu erkennen das Geheimnis Gottes und des Vaters und Christi. Er hat, wie Paulus die Kolosser rühmt, erkannt die Gnade Gottes in der Wahrheit und ist erfüllet mit Erkenntnis seines Willens in aller geistlichen Weisheit und Verstand, wie der Apostel ihnen erbittet. (Kol. 1). Er weiß es gar wohl, was er von sich selbst und dem Menschen überhaupt, von seinem natürlichen Zustande und aller seiner Kraft, Weisheit und Gerechtigkeit zu halten hat; er versteht gar wohl, was die Gnade sei. Er ist einer von dem Häuflein, von welchem Christus sagt: Ich bin bekannt den Meinen. Er versteht die Kraft und das Verdienst der Leiden, die Wirkung seines Blutes, die Kraft seiner Erhöhung, die Vollkommenheit und Fülle seiner Genugtuung und Versöhnung. Aufgeschlossen ist ihm das große Geheimnis der Gottseligkeit, aufgedeckt die Pracht der Rechtfertigung und das Wunder der Heiligung, denn das Geheimnis des Herrn ist bei denen, die ihn fürchten, und seinen Bund lässet er sie wissen. Er weiß den Weg, wie Christus zu seinen Jüngern sagt, und den Ort, wo er mit seinen Anliegen bleiben soll. Seine Augen sind erleuchtet, denn Gott hat einen hellen Schein in sein Herz gegeben. Er weiß, an wen er glaubt. Ja, evangelische Christen sind von Gott gelehrt, sind erleuchtet und aufgeklärt und bedürfen nicht, daß jemand sie lehre. Ja, erleuchte meine Augen, daß ich sehe die Wunder in deinem Gesetz! Sende dein Licht und deine Wahrheit, daß sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berge und zu deiner Wohnung (Ps. 43)!

IV.

Ein echt evangelischer Christ ist viertens seiner Seligkeit gewiß. Er ist dies nicht durch Rückerinnerung an dasjenige, was vor Zeiten in seinem Herzen vorgegangen ist, und was der Seele oft nur eine schwache Stütze gewährt; er ist es nicht durch die Kennzeichen, denn wie sehr können die verdeckt und verdunkelt werden! Wer ist immer zu diesen Reflexionen aufgelegt, und wer kann dadurch nicht eben so leicht verwirrt, als beruhigt werden? Er ist es nicht durch ausnehmende Tröstungen und Erquickungen, die nicht an einem fort währen können noch sollen. Viel weniger aber ist er's durch ein eigenmächtiges Verfahren, wo er sich selbst ohne Buße und ohne Glauben der Seligkeit versichert, weil ja Gott barmherzig und Christus für uns gestorben sei, welches in einem solchen Munde und aus solchem Herzen eine grobe Unwahrheit und Lüge ist, sondern der echt evangelische Christ ist sich seiner Seligkeit gewiß, weil er das Pfand des Geistes hat, womit er versiegelt ist auf den Tag der Erlösung. Dieser Geist versichert ihn des ewigen Lebens, wie er ihn von Herzen willig und bereit macht, dem zu leben und zu sterben, der für ihn gestorben ist und nun lebet, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er wirkt in seinem Herzen die Empfindung des Anfangs des ewigen Lebens und die Gewißheit, daß nichts ihn scheiden kann noch wird von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu. Dieses Zeugnis ist kräftig durchdringend und verscheucht alle Zweifel, die dagegen gar nicht empor kommen können, oder wenn sie sich melden, besiegt werden. O seliger Stand eines echt evangelischen Christen! O großer Reichtum! O Friedensborn! Wer denn will, der komme, und wenn da dürstet, der nehme das Wasser des Lebens umsonst!

V.

Der echt evangelische Christ ist fünftens völlig im Glauben. Es ist ein schwacher Glaube, ähnlich einem zerstoßenen Rohr und einem glimmenden Docht. Es gibt aber auch einen starken Glauben, vergleichbar Eichenbäumen der Gerechtigkeit, Strebepfeilern im Hause Gottes. Jener kann als stark erscheinen, wenn die Umstände ihn begünstigen, wie ein leichter Nachen bei gutem Wetter sich weit in die See wagt, während ein starkes Schiff im Sturm Not leidet. Ein schwacher Mensch kann wohl ein Kind zu Boden werfen, muß aber des Riesen nicht spotten, der mit einem Riesen ringt und ihn nicht an die Erde bringen kann. Wie stark erscheinen die lieben Jünger, wenn sie ausrufen; Herr, die Teufel selbst sind uns untertan! Wie stark erscheint Petrus, da er auf des Herrn Wort den sichern Nachen verläßt und das unsichere Meer furchtlos betritt! Aber er sieht einen Wind kommen, sein Glaube schwindet, und er sinkt. Ist jemand voll Trost, voll angenehmer Empfindungen, voll Geistes, ist er in Sicherheit, ohne Mangel, ohne Anfechtungen, sind die Anstöße aus seinem Wege weggeräumt und Bahn gemacht, haben sich die Feinde heimlich vor ihm verborgen, ist sein Himmel ohne Wolken, und seine Erde im Wonnemond, dann ist's kein Wunder, wenn der Schwächste ist wie David. Bei dem allen ist der Glaube an sich noch wohl sehr schwach und macht nicht so sehr die nackte Verheißung, als vielmehr das, was er in sich selbst findet zum Grunde seines Mutes. Sie schreien: Nimmermehr werde ich darniederliegen! Aber was wird's werden, wenn er sein Angesicht verbirgt? Ein völliger Glaube weiß auch im größten Gedränge, was er an seinem Gott und Vater in Christo hat. Möchte ihm Leib und Seele verschmachten, dennoch bleibt er an ihm. Ist in ihm keine Kraft gegen den Haufen der wider ihn kommt, seine Augen sehen doch unverwandt auf den Herrn. Josua in unreinen Kleidern, den Widersacher, den Satan zu seiner Rechten, steht vor dem Bundesengel. Der Schächer begehrt von dem, in tiefster Armut, Schmach und Erniedrigung, als ein Fluch am Kreuz hangenden Könige Israels, die Seligkeit; Jakob, von dem, die Nacht hindurch mit ihm ringenden Gottesengel, unabweislich den Segen; Abraham glaubt wider Hoffnung. Ein völliger Glaube folgt der Wolkensäule getrost durch die Kreuz- und Quergänge der Wüste, Kanaans gewiß an der Grenze wie am äußersten Meer. Ein solcher völliger Glaube gibt Ansprüche an den Namen eines Evangelischen.

VI.

Ein solcher ist sechstens völlig in der Liebe. Johannes bedient sich dieses Ausdrucks in seiner 1. Epistel 4, V. 17,18 dreimal, jedoch meint er damit nicht so sehr die Gesinnung des Christen, sondern vielmehr die Gesinnung Gottes gegen uns, die Liebe, die er gegen uns hat, wie er Vers 16 redet. Und da ist das Völligsein in der Liebe das nämliche, was der heilige Apostel und Liebling Jesu das Erkennen und Glauben derselben nennt, jedoch so, daß der Christ, stark am inwendigen Menschen durch Christi Geist mit allen Heiligen begreift die Höhe, Tiefe, Länge und Breite der Liebe Christi, welchen allen Verstand übersteigt. Alsdann ist dem aufgeklärten Glaubensauge, wie dieser hohe Apostel eins hatte, in Gott weiter keine Furcht erregender Zorn, keine Forderungen machende Gerechtigkeit, keine zurückscheuchende Heiligkeit, keine Wolke des Mißfallens, sondern er ist ganz versöhnt, ganz in Christo, ganz im Gnadenthron, ganz Majestät und Liebe; dann ist die Seele fähig, das erstaunliche, das große Wort auszusprechen: Gott ist die Liebe und sich darin zu versenken. Er ist völlig darin, und so ist nichts imstande, ihn auf andere Gedanken zu bringen, denn er hat sie erkannt und geglaubt. Die empfindlichsten Züchtigungen und Demütigungen, die über ihn ergehen, die dunkelsten Wege, die er gehen muß, sind ihm eben so wohl Beweise der göttlichen Liebe, wenn gleich einer brennenden, verwundenden, läuternden Liebe, als die lieblichsten Tröstungen und Erquickungen. Diese Liebe ist ihm durch die allerhöchsten Beweisen, durch die Dahingabe des eingebornen Sohnes und durch seinen Tod so durchaus über alle Bedenklichkeiten und Zweifel erhaben, daß alle Einwendungen daran scheitern. Darum hat er auch Freudigkeit auf den Tag des Gerichts. Das ist also etwas gar Erhabenes und Vortreffliches, völlig zu sein in der Liebe. Wer sich noch fürchtet, wer noch zweifelt, ist nicht völlig in derselben. Daran reiht sich auch die Liebe Gottes und des Nächsten. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, und wer Gott liebet, der liebet auch den, der aus Gott geboren ist und gibt damit einen Beweis, daß er vom Tode zum Leben durchgedrungen sei. Die Liebe ist aus Gott, und wer in der Liebe bleibt, der bleibet in Gott, und Gott in ihm.

VII.

Ein recht evangelischer Christ steht siebentens in einem genauen und vertraulichen Umgang mit Gott durch ein unablässiges Gebet im Geiste. Er steht in einer gründlichen Demut, er lebt in tiefer Armut des Geistes. Er maßt sich selbst nichts an und weiß, daß nichts als Jammer und Elend auf seine Rechnung gehört. Er lebt deswegen in einer beständigen Abhängigkeit von dem Herrn, in einem steten Aufsehen auf ihn, um von ihm alles geschenkt zu bekommen bis zu guten Gedanken hin. Christus und seine Gnade ist gleichsam die Luft worin er atmet, der Weg worauf er geht, das Wasser, was er trinkt, der Stab, worauf er sich stützt, die Waffe, womit er streitet, das Lager, worauf er ruht. Christum braucht er zu allem und übt deswegen einen beständigen Umgang mit ihm und betet mehr, als er selbst weiß.

VIII.

Ein recht evangelischer Christ steht achtens in einer großen Verleugnung der Welt und seiner selbst. Er hat den wandelbaren Mond der Eitelkeiten unter seinen Füßen. Er hält sein Fleisch gekreuzigt samt den Lüsten und Begierden. irdische Dinge sind der Magnet nicht mehr, der sein Inneres anzieht, sind die Feder nicht, welche das Triebwerk seines Herzens in Bewegung setzt. Sein Wandel ist im Himmel, von dannen er auch wartet des Heilandes Jesu Christi des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe. Es ist wahr, er ist nicht ohne Gebrechen, und er hat neben dem neuen auch noch einen alten Menschen, und wenn jemand, so erkennt er die tiefe Verderbnis der menschlichen Natur, wenn er gleich nicht mehr dadurch beunruhigt wird. Es ist wahr, sein Streit ist noch nicht zu Ende, wiewohl er die Regeln desselben besser versteht als sonst, und sein Kampf ein guter Kampf des Glaubens geworden ist. Wenn jemand, so hat er den rechten Begriff von der gänzlichen Untauglichkeit des Sünders zu einigem Guten und seiner Neigung zu allem Bösen, den rechten Begriff von den unergründlichen Tücken des menschlichen Herzens bei sich selbst und bei andern. Das Bauen und Trauen auf dasjenige, was in ihm selbst ist, was selbst durch Gnade in ihm gewirkt ist, ist ihm rein vergangen. Er macht kein großes Geräusch mehr. Er rühmt nichts mehr als bloß die Gnade, die freie Gnade, denn sein Ruhm ist aus. Als ein Armer lebt er vom Geben und obschon er alles hat, hat er doch nichts, kann aber auch hoch sein und niedrig sein, Überfluß haben und Mangel leiden.

II.

Doch genug hiervon. Dies sind einige wenige und matte Züge aus dem schönen Bilde eines recht evangelischen Christen. Sie sollen unsern Hunger und Durst nach Gerechtigkeit reizen und schärfen, daß wir nach den besten Gaben streben, wozu Paulus 1. Kor. 12 mit dem Zusatz ermahnt: Und ich will euch einen noch vollkommneren Weg zeigen. Nicht sollen wir uns dafür halten, als hätten wir's schon ergriffen, oder als wären wir schon vollkommen, sondern vergessen was dahinten ist und uns strecken nach dem, das da vorne ist und nachjagen dem vorgesteckten Ziel, wie Paulus, der nämliche Apostel, Philipper 3 mit dem Zusatz ermahnt: Wie viel nun unserer vollkommen sind, die lasset uns also gesinnet sein! Es würde ein schädliches Sattsein und ein bedenkliches Stillstehen auf dem Lebenswege oder gar beweisen, daß noch nicht einmal ein wirklicher Anfang des neuen Lebens vorhanden sei, wenigstens stände derjenige einem schweren Fall nahe, welcher meinte, er habe es im Christentum so weit gebracht, als man's bringen kann und soll, er habe weiter keine neue Erfahrungen zu machen, keine neue Bußen und Leiden durchzugehen, keine neue und höhere Einsichten und Mitteilungen zu erwarten, er brauche nicht noch demütiger, noch ärmer am Geist, noch abhängig vom Herrn, noch inniger vereint mit ihm zu werden, der Welt und sich selbst noch mehr abzusterben und noch völliger Gott zu leben. Das wäre eine gefährliche Einbildung und Anmaßung. Noch geringer denn also. Wer da meint er sei etwas, da er doch nichts ist, de betrüget sich selbst. Haltet fest an Demut, denn Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.

Ein echt evangelischer Christ ist etwas Großes, ist ein Wunder, ist etwas Übernatürliches. Niemand kann dazu durch die Kräfte seines eigenen freien Willens gelangen, oder durch menschliche Unterredungen und Bemühungen dazu übergeführt werden. Aber mag dies immer sein. Das Evangelium ist eine Kraft und zwar eine Gotteskraft. Es versteht sich schon Bahn zu machen und Eingang zu verschaffen. Viele tausend Siege hat es schon davon getragen, viele tausend Herzen hat es sich schon untertänig gemacht, wie unwahrscheinlich, ja unmöglich es auch zu sein schien. Durch die größten Schwierigkeiten, durch den heftigsten Widerstand hat es sich glücklich durchgearbeitet, und wenn das Schifflein an einem Ende des Sees unterging, so taucht es am andern Ende wieder aus den Wellen empor. Es fährt noch immer fort, seine Siege zu feiern. Ist's eine Weile still, so fängt's doch wieder an zu rumoren. Vor zehn Jahren noch schien es gestorben, und man machte Anstalt zu seinem Begräbnis. Aber wie hat es seitdem wieder Beute gemacht, besonders unter den Gelehrten! Greift es nicht auch auf eine höchst erfreuliche Weise unter uns wieder kräftig um sich, klagt so, daß viele weinen, und pfeift so, daß viele ihm tanzen. Das Evangelium ist eine Gotteskraft und wirkt Wunder der herrlichsten Art. Gott sei Dank, daß es daran auch unter uns nicht fehlt, und daß der Herr seine Gemeine unter uns noch nicht will aussterben lassen!

Es ist nicht zu leugnen, der echt evangelischen Christen sind überall nur wenige. Das vorhin von denselben entworfene Bild strahlt nur aus wenigen hervor. Das vollendete Gewissen, die durchgreifende Erleuchtung, die Freudigkeit im Zutritt zum Gnadenthron, die lebendige Gewißheit, die Völligkeit im Glauben, die Völligkeit in der Liebe, die große Welt- und Selbstverleugnung, der ununterbrochene vertrauliche Umgang mit Gott, die gänzliche Demut und das lautere Gründen auf freie Gnade, alle diese herrlichen Früchte des Verdienstes Christi werden selten in ihrer Reise angetroffen. Die Christen, wir reden hier von wahren und nicht von bloßen Namens-Christen, die Christen sind, wenige Ausnahmen abgerechnet, nicht so selige und heilige, nicht so demütige und fröhliche, nicht so furchtlose und liebevolle Leute, wie sie sein sollten und durch die Kraft des Evangelii sein könnten. Wie kommt das denn? Kommt's sich so wegen der göttlichen Haushaltung, und ist das Alte Testament mit seinem Geist zur Furcht, noch nicht vorüber, und tönt der Donner vom Sinai noch immer durch die Gebirge? Ist diese Frage derjenigen zu vergleichen, wie wenn man fragte: Warum sind die höchsten Tannen in Grönland nur etlichen Spannen hoch? worauf man antworten müßte: Das ungünstige kalte Klima macht's. Ist's nicht unsre eigene Schuld? Liegt nicht die Ursache in der Hartnäckigkeit unsrer Unarten, in der Blindheit und Verderbtheit unseres Herzens?

So laßt uns denn fleißig sein und Buße tun! Laßt uns Leide tragen über uns selbst! So selig könnten wir sein und sind so elend, so heilig und sind so unrein. Ist denn kein Arzt in Gilead, und ist keine Salbe da? Warum ist denn die Tochter meines Volks nicht geheilet? Auf, auf zum Herrn, daß er uns reinige von aller unserer Unreinigkeit und all' unsern Götzen! Heile du uns Herr, so werden wir heilig! Bekehre du uns, so werden wir bekehrt! Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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