Wessel, Johann - Von der wahren Wissenschaft

Wessel, Johann - Von der wahren Wissenschaft

Das Wissen ist nicht der höchste Zweck, denn wer bloß weiß, um zu wissen, ist ein Thor ,weil er keinen Geschmack hat an der Frucht der Wissenschaft, und auch sein Wissen nicht mit Weisheit zu ordnen weiß. Die Erkenntniß der Wahrheit hat eine herrliche Frucht in sich, vorausgesetzt, daß sie einen weisen Pfleger findet; denn durch sie kann er mit klarem Bewußtsein zu Gott kommen und ein Freund Gottes werden, wenn er durch das Erkennen sich mit Gott verbindet, wenn er, darin fortschreitend, schmeckt, wie freundlich der Herr ist, und durch dieses Schmecken noch begieriger wird, und in der Begierde entbrennt, und in dieser Glut Gott liebt und ihm lebt, bis er mit Gott im Geiste eins wird. Dieß ist die wahre, reine, ernste Frucht der ernsten Wissenschaft, welche in Wahrheit alle Menschen von Natur mehr zu besitzen verlangen, als die bloße Erinnerung oder das Wissen an und für sich. Denn wie das schwankende Meinen eitel ist ohne die Wissenschaft, so ist die Wissenschaft unfruchtbar ohne Liebe, Ja, daß wir auch nach den beiden andern Dingen streben, fließt aus derselben Quelle des Verlangens. Denn wir sehen und sind gewiß, daß nichts so sehr von allen Menschen geliebt werde als Seligkeit; wir wissen außerdem, daß nichts so liebenswürdig sei als die Liebe; wir wissen endlich, daß nichts so sehr geliebt werden müsse als Gott. Wenn diese drei Sätze wahr sind - sie sind es aber vollkommen, und alles Wahre stimmt unter sich überein - so folgt nothwendig, daß unser Gott für uns beseligende Liebe sei, und daß wir nach ihm allein von Natur streben und uns sehnen, weil er unserer Vollendung Gränze und Ziel, unserer Bildung wahre und einzige Frucht ist, so daß, wer nicht zu ihm gelangt, ein schlechter Geistespfleger ist, wie der, der sich bloß erinnert, um sich zu erinnern, ein Thor ist… Da wir nun Gott, als das höchste Ziel des Lebens anerkannt haben, so sind Alle, die sich sonst etwas als Frucht und Ziel wählen, wenn auch die Menschen milder von ihnen denken möchten, Götzendiener. Denn die, welche nur wissen, um zu wissen (selbst wenn Gott der Gegenstand des Wissens wäre) erheben die Wissenschaft über Gott; die ferner, welche nur wissen, damit man von ihnen wisse, leiden an noch schmählicherer Thorheit, weil sie in das fremde Urtheil ihren Gott gesetzt haben, freilich einen sehr schwankenden und treulosen Gott, wie ihre Thorheit ihn bildete; und diese sind dann nicht ferne von einem noch tieferen Grade, derer nämlich, die wissen wollen, um für etwas Großes gehalten zu werden; der vierte und letzte Grad endlich besteht aus Solchen, die als Wissende bloß erscheinen wollen; sie sind Genossen desjenigen, der da herrscht über alle Söhne des Hochmuths, der nichts achtet als sich selbst und in öder Einsamkeit wohnt.

Literar-historisches Lesebuch Dr. Georg Weber Zweiter Theil Die Literatur des Mittelalters Leipzig Verlag von Wilhelm Engelmann 1851

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