Werner, Karl - Predigt am Neujahrsfeste

Werner, Karl - Predigt am Neujahrsfeste

Karl Werner, Pfarrer in Fellbach.

Text: 2 Cor. 13, 13.
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

In dem Herrn Geliebte!

Wir mögen einander bei dem Antritt dieses neuen Jahres wünschen, was wir wollen, so können wir nichts Köstlicheres nennen, als das, was der Apostel in dem so eben gelesenen Segenswunsch zusammengefaßt hat, mit dem er seinen zweiten Brief an die Korinther schließt; denn diese Worte haben einen ganz eigenthümlichen Reichthum. So unzählige Male sie auch schon seit achtzehn Jahrhunderten zur Begrüßung christlicher Gemeinden gebraucht worden sind, so haben sie doch nichts von ihrer Kraft verloren. Sie sind und bleiben so lieblich, daß man sie immer wieder gerne hört, und ihr Inhalt ist so reich, daß wir ihn nie genug erwägen und uns aneignen können. Nehmet es daher freundlich auf, wenn ich auch in diesem Jahre diesen apostolischen Wunsch meinen ersten Gruß an euch sein lasse, und bei der Betrachtung seines herrlichen Inhalts für dießmal verweile.

Wir haben ein ungemein wichtiges Jahr hinter uns, das bis an seinen Schluß voll war von ungewöhnlichen Gerichten und Segnungen unseres hochgelebten Gottes. Wir erkennen auch leicht, daß die Hand Gottes noch über uns ausgereckt ist und schauen daher großentheils mit trüben Blicken in die Zukunft. Denn so sind wir: statt zu danken für das viele Gute, das wir erlebt haben und noch fortgenießen, sorgen wir schon um das, was kommen wird und plagen uns selbst und Andere mit schweren Gedanken. Zudem gibt es allerlei Wünsche, große und kleine, ausgesprochene und verborgene, nöthige und unnöthige. Denn die Bedürfnisse vermehren sich mit jedem Jahre in unserer verwöhnten Zeit und führen manche schwere Last mit sich, manche Frage, wie man sich helfen, wie man das Mangelnde auftreiben und das vermeintlich Nöthige beischaffen soll. Da liegt gar manche düstere Wolke auf der Stirne und es Löstet viele Mühe, sich aller der wechselnden Fragen und Gedanken zu erwehren, welche doch meistens nur leibliche oder doch zeitliche Bedürfnisse betreffen. Aber wie geht es? So lange wir diesen Sorgen nachhängen, lassen wir unsere höchsten Bedürfnisse außer Acht. Entweder sie bleiben uns völlig verdeckt oder wir widmen ihnen wenigstens nicht diejenige Aufmerksamkeit, die sie billig verdienten.

In dieses Gewirre von Gedanken, wie sie sich bei einem Jahreswechsel aufdrängen, treten wir nun mit dem Wunsche hinein: „Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sei mit Euch!“ Wir bitten euch, nehmet diesen Wunsch mit seiner ganzen, vollen Bedeutung zu Herzen. Gesetzt, alle unsere Bekümmernisse um zeitliche Dinge würden uns auf einmal abgenommen und alle unsere irdischen Wünsche noch dazu gewährt; gesetzt, wir würden auf einmal in eine so günstige Lage versetzt, wie wir es kaum jemals träumten, und nun riefe uns plötzlich eine Stimme aus der Höhe zu: „Der Zorn Gottes liegt auf Dir!“ - was hätten wir gewonnen? Das ist aber in Wahrheit der Zustand vieler Menschen, welche von Andern um ihr vermeintliches Glück sehr beneidet werden. Einige derselben ahnen etwas davon und sind daher in einer beständigen Unruhe. Andere aber (und diese sind die Allerunglücklichsten) haben auch nicht die entfernteste Vermuthung, daß sie unter dem Zorne Gottes stehen, ja sie glauben nicht einmal, daß es einen Zorn Gottes gebe und laufen zu gleicher Zeit immer tiefer in denselben hinein. Was dünket Euch, lieben Freunde, ist es nicht vor Allem nöthig, daß wir uns und Andern die Gnade Jesu wünschen und sie von ganzem Herzen suchen? - Denn wer möchte sterben unter dem Zorne Gottes oder auch nur in der Ungewißheit, ob er ein Kind des Zornes oder ein Mit genösse der Gnade sei? Das wäre ja peinlich und man hätte überdieß immer mehr Pein zu gewarten. Vielleicht es hat Eines Gnade gehabt und wieder verloren unter den weltlichen Umtrieben, unter den Lüsten und Zerstreuungen oder unter den Sorgen dieses Lebens. Soll sie verloren bleiben oder wild sie sich schnell wieder finden lassen im entscheidenden Augenblick? Mit Nichten. Darum lasse ein Jedes die allerwichtigste Sorge, Gnade zu haben und zu bewahren, sogleich die Oberhand gewinnen: sehe ein Jedes, das wankend geworden ist, daß es alsbald wieder befestigt werde in der Gnade Jesu. Sie ist das Eine, was Noth thut.

Die Weltereignisse, die uns so oft viel beschäftigen, gehen ihren Gang ohne uns fort und nehmen oft eine ganz unerwartete Wendung, zum Beweise dafür, daß unsere Mitberathungen ganz überflüssig waren. Wir mögen ihretwegen ruhig und unbesorgt sein; der Herr sitzt im Regimente und macht Alles wohl. Aber wenn wir mit Ihm nicht gut stünden, wenn Er mit uns zürnen müßte, dann sähe es bedenklich aus. Daß es aber wirklich bei Manchem so bedenklich steht, darauf deuten allerlei Zeichen hin, die wir jetzt nicht nennen wollen. Der Herr wolle ein Jedes in seinem Theile darauf hinweisen, wie Er denn nach Seiner großen Treue gerne thut.

Gnade wünschen wir einander vor allem Andern; darin liegt die Erinnerung, daß wir diese vor Allem bedürfen um der Sündennoth willen, in welcher wir stecken. Denn wir sind Alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden: da ist nicht der Gutes thue, auch nicht Einer. Das ist nun freilich eine alte Wahrheit und eine allgemeine: aber unsere Uebertretungen sind neu und die Schuld, die wir zu tragen haben, ist unsere eigene besondere, sie lastet auf uns so, als ob nur wir sie hätten. Ist Jemand hier, der sich aufs Rechten mit Gott einlassen möchte? Er würde Nichts gewinnen, wohl aber verlieren, weil die Gnade nur der erlangt, der seine eigene Gerechtigkeit nicht aufrichten will. Die Sünde aber muß Jedem dargelegt werden, wie sie ist, „auf daß Aller Mund verstopfet werde, und alle Welt Gott schuldig sei.“

Wir wünschen euch aber die Gnade Jesu: nicht die Gnade Gottes im Allgemeinen, sondern die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, und das hat seinen Grund. Die Gnade Gottes erweist sich in Seiner ganzen Weltregierung: Gnade ist es, daß Er die arge Welt noch fortbestehen läßt, daß Er Seine Sonne über Böse und Gute aufgehen, daß Er regnen läßt über Gerechte und Ungerechte. Er hätte ja das volle Recht, ganz anders zu handeln: aber Er will nicht aus schonender Geduld und großer Güte. Diese Verschonung kommt auch dem Gottlosen zu gut: denn Gott trägt auch die Gefäße des Zornes mit großer Geduld. Aber diese Schonung muß einmal ein Ende nehmen. Was die Gottlosen von der Gnade oder richtiger von der Langmuth und Geduld Gottes erfahren, das ist nur ein Aufschub der verdienten Strafe und wird beim letzten Gericht dazu dienen, das Recht Gottes bei ihrer Verdammniß desto klarer ins Licht zu stellen. Aber, was wir unseren geliebten Brüdern wünschen - die Gnade des Herrn Jesu Christi - das ist etwas ganz Anderes - es ist die rettende Gnade Gottes, die den Sünder nicht bloß trägt, sondern bekehrt, nicht bloß verschont, sondern erlöst, nicht bloß mit irdischen Wohlthaten erfreut, sondern ihm seine Sünden vergibt, die Gnade, welche ihn nicht läßt, wie er ist, sondern aus einem Kinde des Zornes einen Erben der Seligkeit, aus einem Sünder einen Gerechten macht. Da wird der Zorn nicht aufgehoben, sondern er nimmt ein Ende, er wird abgethan. Der Erwählte wird in einen unaufhörlichen Gnadenstand versetzt, bei welchem es aus einer Seligkeit in die andere geht. Römer 6, 23.

Der Genuß dieser Gnade ist von der Person Jesu unzertrennlich. Er ist der einzige Mensch, an dem Gott um Seiner selbst willen Wohlgefallen hat, sowohl darum, weil er Sein eingeborner lieber Sohn ist, der in Ihm Mensch geworden ist, als auch darum, weil Er allein einen vollkommenen Gehorsam bewiesen und dazu der ganzen Welt Sünde als das Lamm Gottes auf sich genommen hat und für die Uebelthäter gebeten. Seit Er, der Menschensohn, der andere Adam, in die Welt gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, hat Gott erst wieder ein Wohlgefallen an den Menschen, wie die Engel bei Seiner Geburt verkündigten und seit Er den Tod für Alle geschmecket und durch den Tod Dem, der des Todes Gewalt hatte, die Macht genommen und eine ewige Erlösung erfunden hat - seitdem ist nun erst die rechte Gnade Gottes erschienen und wird uns angeboten durch die Offenbarung Jesu Christi. Denn „so an Eines Sünde Viele gestorben sind, so ist vielmehr Gottes Gnade und Gabe Vielen reichlich wiederfahren durch die Gnade des einigen Menschen Jesu Christi.“

Diese Gnade wünschen wir Allen, die sie bisher noch nicht geschmecket oder nicht in ihrer unvergleichlichen Süßigkeit genossen haben. Wie köstlich ist sie! Wie ein erfrischender Thau auf ein dürres Feld, wie ein lieblicher Sonnenschein auf ein bleiches Angesicht, wie kühlende Tropfen auf ausgetrocknete Lippen, so belebend wirkt sie auf das Her; des armen Sünders, der die Größe seiner Schuld fühlt und die Schrecken des Gewissens, die Peinigungen des alten Verklägers empfindet und sich flüchtet unter das Kreuz Jesu, zu seiner vollkommenen Gerechtigkeit, zu seinem ewig gültigen Opfer.

Eher ist gewiß keinem Menschen geholfen, als bis er diese Gnade Jesu im Glauben ergreift. Aber dann, wenn er sie hat, dann ist ihm auch Alles zu Theil geworden, was er bedarf. Hört es, die ihr schon lange von dieser Gnade ergriffen seid. Meinet ihr, ihr kennet und habet sie ganz? Ihr irret. Die Ersten, welche sie ergriff, sagen selbst: „Aus Seiner Fülle haben wir genommen Gnade um Gnade; sie wünschen ihren Brüdern dieselbe Gnade immer auf's Neue, denn sie haben sie erkannt als ein unerschöpfliches Meer, das Wasser des Lebens genug hat für die ganze gefallene Sünderwelt und für jedes einzelne, dürstende Herz. O warum schöpfen wir so sparsam, so selten daraus? Wir können uns nicht verbergen, daß noch Vieles in uns ist, was sich bis in dieses Jahr herein der vergebenden, reinigenden Gnade Jesu entzogen und verborgen hat. Wollen wir uns nicht noch mehr vergeben und abwaschen lassen, als bisher? Die Gnade Jesu ist ja nicht bloß für Dieses oder Jenes da, was wir zuerst für Sünde erkannten. Alles unser eigenes Werk muß in ihrem Lichte als unrein erkannt, unser ganzes Wesen muß durch sie gereinigt und geheiligt werden. Die Gnade Jesu müssen wir mit ganzem Herzen fassen und außer ihr Nichts mehr haben, dann haben wir Frieden. Das Geringste, was von uns neben ihr noch stehen bleiben soll, das entstellt und verderbt Gottes Werk. In diesem Sinne wünschen wir euch die Gnade des Herrn Jesu Christi, so nämlich, daß Er mit Seiner Gnade allein Alles gelten soll, daß wir ganz in derselben ruhen und außer ihr alle Hoffnung aufgeben, daß wir Nichts mehr thun wollen ohne sie, aber Alles thun und leiden, wozu uns durch dieselbe Kraft und Antrieb gegeben wird.

Die Welt dringt auf Recht; wir wollen nur Gnade. Je nachdrücklicher sie ihre vermeintlichen Rechte verfolgt, desto unglücklicher und unzufriedener wird sie; je tiefer wir uns dagegen in die Gnade unseres Heilandes versenken, desto seliger werden wir, desto mehr Frieden haben wir zu genießen. Denn Gnade und Frieden das sind zwei Dinge, die unzertrennlich sind.

Dieß führt uns auf die beiden andern kostbaren Dinge, die in dem apostolischen Wunsche enthalten sind. Mit der Gnade Jesu wünscht er uns die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, und dieß sind eben auch Dinge, die wir einander zum Anfang dieses neuen Jahres von Herzensgrund wünschen wollen. Sie liegen dem nahe, der die Gnade in Jesu gefunden hat: denn es sind wesentliche Gnadengüter, deren Genuß mit der Gnade geschenkt und aufgeschlossen wird. Wenn wir einmal durch den Glauben an Jesum zum Gnadenstande gelangt sind, dann ist, wie der Apostel sagt: die Liebe Gottes ausgegossen in unseren Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist. Was sind wir doch für thörichte Menschen so wenig sind wir auf unser wahres Wohl bedacht! Wie vielen eitlen Wünschen, wie vielen vergänglichen Gütern und Freuden jagen wir nach, und wie gering achten wir dagegen die wesentlichen und wahrhaftigen Güter! oder ist es nicht so? Meinen wir nicht alsbald, wir kommen zu kurz, wenn man uns statt des weltlichen Besitzes und der zeitlichen Freuden auf diese Güter verweist? Unser Mund redet vielleicht gar fromm und bekennt, wenn von der Liebe Gottes die Rede ist: „ja das ist das Beste!“ Aber wie lautet es im Herzen? Das wird offenbar, wenn uns die Wahl gelassen wird. Hundert Mal ziehen wir das Irdische dem Himmlischen, das Nichtige dem Wesentlichen vor. Da geht es, wie Jona sagt: „die da halten über dem Nichtigen, verlassen ihre Gnade.“ Ist dann die Gnade vergeudet und es kommt ein unvorhergesehenes Unglück, dann können wir auch die Liebe nicht mehr glauben, wir können nicht rühmen in der Trübsal, sondern wir zittern und zagen. Sollte uns nicht auch auf den Trübsalen des verflossenen Jahres eine solche Zaghaftigkeit erinnerlich sein, die uns darum befiel, weil wir über dem Nichtigen die Gnade verlassen hatten und darum auch die Liebe Gottes nicht mehr recht zu glauben im Stande waren?

Theure Brüder! Die Liebe Gottes sei mit euch, so wie sie durch die Gnade Jesu im Herzen verklärt und demselben angeeignet wird! Lasset uns diese Gnade recht fassen und halten, so muß Alles aus uns weichen, was die Liebe Gottes vor unseren Augen verdunkelt. Vor Allem das unzufriedene, mißmuthige und begehrliche Wesen, bei' welchem wir meinen, es sei uns allzu wenig Gutes vergönnt und allzu viel Schweres auferlegt. Dieses finstere Wesen muß weg, denn es kommt aus der Selbstgerechtigkeit und aus dem Hochmuthe her, welche mit der Gnade Jesu ganz unverträglich sind. Ein Gnadenkind fühlt es tief, daß Gott nicht nach feinen Sünden mit ihm handelt und ihm nicht vergilt nach seinen Missethaten. - Fragt man: wie geht es dir? so antwortet es: es geht mir besser, als ich's verdiene. So ist es ja auch und das macht die Gnade Jesu und die Liebe Gottes. In diesem Sinne der Zufriedenheit, Genügsamkeit und Dankbarkeit werden wir immer mehr befestiget, wenn wir die Gnade nicht vergeblich empfangen, sondern dazu anwenden, wozu sie uns gegeben ist, nämlich die Gebote Jesu zu halten. Denn: wer Sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen! Daran erkennen wir, daß wir in Ihm sind. Und wiederum sagt der Herr selbst: „Wer Meine Gebote hat und hält sie, der ist es, der Mich liebet. Wer Mich aber liebet, der wir von Meinem Vater geliebt werden und Ich werde ihn lieben und Mich ihm offenbaren.“

O theure Genossen der Gnade! Lassen wir doch der Welt ihren Lauf und beneiden wir sie nicht: sie jagt dem Schatten nach und gewinnt nichts als Verderben. Scheiden wir uns doch auch von denen, welche den Weltgewinn und die Gottseligkeit zu vereinigen trachten und also an einem doppelten Joche ziehen und zwei Herren dienen wollen. welches ein ganz verderbliches Bemühen ist und nur Unfrieden und Pein bereitet. Trachten wir vielmehr darnach, in dieser Zeit des Abfalls fest bei den Worten des Heilandes zu bleiben und durch Gehorsam gegen dieselben in Seiner Gnade recht befestigt zu werden. Das ist Gewinn. Denn diesen Fleiß hält Er sehr werth, wie wir aus Seiner eben angeführten Verheißung erkennen mögen. Er erkennt darin eine Liebe gegen Ihn, eine Dankbarkeit für das, was Er an uns gethan hat. Zur Erwiderung unserer schwachen und unvollkommenen Liebe soll uns etwas gar Großes und Ueberschwengliches zu Theil werden, nämlich des Vaters Liebe und Jesu Liebe und daß Er sich uns offenbart. Was für köstliche Dinge sind das!

„Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal, oder Angst, oder Verfolgung, oder Hunger, oder Blöße, oder Fährlichkeit oder Schwert!“ Das Alles könnte uns ja treffen, weil der Gewinn des Feindes gegen die Jünger Jesu immer heftiger wird. Es hat Manche unter uns auch schon etwas davon getroffen und das erst neulich in den letzten Monaten; und Manchen droht es in der nächsten Zukunft. Es wird unter dem Wüthen des Antichrists gerade so gehen, wie geschrieben stehet: „Um deinetwillen werden wir getödtet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.“ Aber nur fest an Jesu Gnade geblieben! Dann werden wir „in dem Allem weit überwinden um Deß willen, der uns geliebet hat.“ Denn mit dem Apostel sind wir dann gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstenthum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Creatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn!

Wir sind mit diesen Sprüchen freilich schon lange bekannt, wir haben sie von Jugend auf kennen gelernt und wohl im Gedächtniß behalten, aber wie steht es mit den Sachen, von welchen sie reden? Wenn wir denn wirklich in eine solche Lage kämen, wie die Apostel sie erfuhren, eingeengt durch Verfolgungen, preisgegeben dem Schwert oder den Bajonetten wüthender Feinde der Wahrheit, wenn wir Tage lang hungern, oder Frost leiden müßten um der Wahrheit willen, oder jeden Augenblick die Todesnoth zu gewärtigen hätten, oder wenn wir, wie es hie und da Einem widerfährt, von finstern Mächten mit inneren Anfechtungen oder körperlichen Schmerzen geplagt und gepeinigt würden, dann würde sich's offenbaren, ob die Liebe Gottes wirklich in uns ausgegossen ist durch den heiligen Geist, ob wir Stand halten könnten, dem Bekenntnisse treu, ungebeugt, nicht maßleidig oder verdrossen, unerschrocken, mit demüthigem, geduldigem und sanftmüthigem Geist, zum Vergeben bereit und zufrieden damit, daß wir Jesum Christum, Seine Gnade und die Liebe Gottes noch haben. Fühlen wir aber jetzt schon, daß wir nicht so tief in die Liebe Gottes versenkt sind, so müssen wir tiefere Wurzel fassen in der Gnade und uns fleißiger üben im täglichen Aufnehmen des Kreuzes, damit wir die rechte Spur nicht verlieren, wenn vielleicht bald die ungewohnte Aufgabe an uns kommt.

O Brüder, die ihr euch darauf rüstet und schon innerlich bereit dazu seid, die Liebe Gottes sei mit euch und zuletzt noch die Gemeinschaft des Heiligen Geistes!

Man hat schon oft, wenn von den vielen Uneinigkeiten und Streitigkeiten unter den Christen die Rede war, die richtige Vorhersagung vernommen: „Die Noth wird sie schon zusammentreiben.“ Und das ist glaublich. Die Noth, welche allererst angefangen hat und immer weiter um sich greift, das Leiden um der Wahrheit willen in Christo Jesu, das uns in vollem Maße bevorsteht, wird so viel wirken, daß die Leute, die jetzt gar viel an einander auszusetzen haben, sehr froh sein werden an einander. Aber die Noth kann doch nur solche Leute vereinigen, welche schon vorher in einem Geiste standen. Wie sollten diejenigen den Weg zusammen finden, denen die Bruderliebe eine unbekannte Sache ist, die den Geist Christi nicht haben? Und solche gibt es bekanntlich unter den Christen dieser Zeit in Menge. So viel fremdartiger Geist ist in die Christenheit eingedrungen, daß es viele Mühe kostet, die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind. Und diese Verwirrung wird sorglich nicht abnehmen, sondern wachsen. Darum wo wir Seelen finden, die den Geist Christi wirklich haben, wenn gleich in geringem Maße, da wollen wir uns ihrer freuen. Es gibt doch Gottlob noch immer eine Gemeinschaft der Heiligen, welche in einem Geiste Zugang haben zum Vater. Wir stehen nicht allein in der Welt, wir haben viele Brüder und diese verdanken wir der Gnade unseres Herrn Jesu, der sie und uns erweckt und geheiligt hat und gerne „der Erstgeborne unter vielen Brüdern“ sein will. Er hat uns diese Brüder geschenkt und uns das neue Gebot gegeben, daß wir uns unter einander lieben.

Weil Er uns denn gewürdiget hat, uns durch den Geist der Heiligung mit sich selbst, dem hochgelobten Haupte, und mit allen Gliedern der unsichtbaren und der sichtbaren Gemeinde Gottes in Eines zu verbinden, so sollen wir das ja für eine große Ehre achten und schon jetzt, ehe die Noth uns näher zusammentreibt, fleißig sein, zu halten die Einigkeit im Geiste durch das Band des Friedens. Wir sehen ja bereits, wie viele herrliche Früchte das Zusammenhalten der Gläubigen hervorgebracht hat in so vielen christlichen Vereinen und Gesellschaften, durch welche die Sache des Herrn auf Erden befördert wird. Darum lasset uns die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sorgfältig bewahren und Alles vermeiden, was uns aus derselben verrücken könnte; lasset uns ablegen allen Haß und Hader, alle Bitterkeit, Grimm, Neid, Verläumdung. Denn wie könnte das mit der Gemeinschaft des Heiligen Geistes verträglich sein? Lasset uns aber anziehen, als die Auserwählten Gottes, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld und vertrage Einer den Andern und vergebet euch unter einander, so Jemand Klage hat wider den Andern, gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. Ueber Alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit; und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seid in Einem Leibe und seid dankbar. Bei einem solchen Sinne werden unsere Herzen erweitert sein, auch die aufzunehmen, an welchen wir viel Mangelhaftes finden; wir werden froh sein, wenn man uns mit ankommen läßt, wir werden uns gerne hinunterstellen unter die Brüder; die Liebe wird auch das Widrige überwinden, wenn etwa die natürliche Art eines Andern nicht nach unserem Geschmacke ist oder wenn ein störender Vorfall die Herzen entzweit und einander entfremdet hat. Der Herr selbst wolle uns aus aller Kälte, Gleichgültigkeit, Selbstsucht und Selbstgenügsamkeit erwecken und uns zu fühlen geben, wie widerlich es Ihm ist, wenn ein Christ seine Wege allein gehen und für sich bleiben will, statt die Liebe zu beweisen und Liebe anzunehmen von den Brüdern. Er lasse uns also den Segen der Gemeinschaft des Heiligen Geistes erfahren und schließe die Seinigen so an einander an, daß sie neue Kraft bekommen zum Widerstande gegen alle bösen und falschen Verbrüderungen dieser Zeit. Wie groß die Macht und List des Feindes ist und wie mächtig sie in diesen Tagen sich ausläßt, das wissen wir ja. Er kann von Niemand überwunden werden, als von Denen, die in der Gnade Jesu, in der Liebe Gottes und in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes zu stehen, zu bleiben und zu wachsen bemüht sind. Gott gebe, daß wir Alle zu dieser seligen Schaar der Ueberwinder gehören mögen! Amen.

Quelle: Standenmeyer - Predigten über freie Texte

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/w/werner_karl/werner_neujahr.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain