Schopf, Otto - Was wir erstreben und was wir erleben in den Freien evangelischen Gemeinden Westdeutschlands

Schopf, Otto - Was wir erstreben und was wir erleben in den Freien evangelischen Gemeinden Westdeutschlands

Dieses Thema ist angeregt von einem Mitschüler. Es hat eine doppelte Schattenseite für mich: Einmal hat es etwas Unangenehmes, pro domo (für die eigene Sache) zu reden, wenn man manches Günstige berichten zu können meint, und dann vor einer Zuhörerschaft, die zum größten Teil prinzipiell oder doch praktisch anders steht und leicht sich angegriffen fühlen könnte, auch wo man nur objektiv referieren will. Aber die Sache hat auch eine doppelte Lichtseite: einmal die, in Ruhe und Zusammenhang darlegen dürfen, worin man strebt und lebt, und dann ist es für mich noch besonders köstlich, hier hierüber reden zu dürfen: Es war mir nämlich schon in meiner Predigerschulzeit ein Herzensanliegen, mir meine Ideale nie knicken zu lassen, und nun darf ich gerade hier im Württembergerhof, wo ich vor 16 Jahren Herrn Direktor sagte, daß ich mich durch die Schrift gebunden fühle, den Weg zu gehen, den ich gegangen bin, - mit Beugung und großer Freude dankbar bekennen, daß mir meine Ideale im Sturm des Lebens, in der rauhen Wirklichkeit nicht geknickt worden sind, nein, daß meine Hoffnungen und Erwartungen, die ich aus der Schrift schöpfte, weit übertroffen sind.

Die Freien evangelischen Gemeinden Westdeutschlands, über deren Streben und Leben ich hier in Kürze referieren darf, sind nicht, wie die meisten andern freikirchlichen Gemeindekreise, von Ausländern und mit ausländischen Mitteln gegründet und erhalten worden. Der Wuppertaler Fabrikant Heinrich Hermann Grafe, gest. 1869, Vater des Bonner Professors, ein Westfale von Geburt, hat die erste Freie evangelische Gemeinde Elberfeld-Barmen mit einigen andern gleichgesinnten Männern 1855 gegründet. Eine Anregung dazu hatte er allerdings im Ausland bekommen, und zwar in Lyon, in der Gemeinde Adolf Monods. Doch der Boden in Westdeutschland war durch die freiheitliche Geistesrichtung der Rheinländer und Westfalen, wie durch eine jahrhundertlange kirchengeschichtliche Entwicklung, z.B. Täufer, Tersteegensche Kreise, für solche Gemeindebildungen vorbereitet.

Es gibt heute (1911), vorwiegend in Rheinland, Westfalen und Hessen-Nassau, ca. 60 Freie evangelische Gemeinden mit ca. 200 Predigtplätzen, ca. 6000 Mitgliedern, ca. 60 am Werke dienenden Brüdern und 60 Diakonissen und vielleicht je 6 Missionaren auf dem ostafrikanischen Missionsfeld der Neukirchener Mission und auf dem Feld der deutschen China-Allianz-Mission. Dies sind nur ungefähre Zahlen. Es sind noch viele gleiche und ähnliche Kreise vorhanden oder in der Bildung begriffen, die dem Bunde der Freien evangelischen Gemeinden nicht angeschlossen sind, und die auch in andern Gegenden als den genannten arbeiten. Und nun einiges darüber:

Was wir erstreben

Freiheit

Wir wünschen Gemeinden zu sein:

  1. frei vom Staat, von seiner besonderen Unterstützung, seinem besonderen Schutz und seiner Einmischung; wohl aber wollen wir als christliche Bürger vor anderm untertan sein der Obrigkeit nach der Schrift und für sie beten.
  2. frei von der Kirche, ihrer Organisation und Bevormundung, ihrem Imponierenden und ihren Widersprüchen, ohne daß wir einen Druck auf unsere Glieder ausüben, formell aus der Kirche auszutreten, und, bei allem Protest und aller gewissenhaften Opposition gegen die Kirche, ohne fanatische Kirchenstürmer zu sein, oder gar Lästerer dessen, was andern heilig ist und was Gott in diesen uns schriftwidrig erscheinenden Organisationen gewirkt hat.
  3. frei von jedem Kirchenregiment, jeder Kirchenverfassung und kirchlichen Zusammenfassung der Gemeinden, vielmehr Freiheit der Einzelgemeinde, die in einem unmittelbaren Verhältnis und in unmiittelbarer Verantwortlichkeit Christo, dem Haupt der Gemeinde, gegenübersteht (cf. Off. 2 und 3), aber nicht so, daß wir nicht auch wie die ersten Gemeinden (Apg. 15) uns sagen ließen, was nach der Erkenntnis leitender Brüder dem Heiligen Geist und ihnen gefiel, und was zu tun, wir gut tun. Auch zu gemeinsamer Liebestätigkeit wie 2. Kor. 8 usw. wollen wir uns vereinigen und Vertreter entsenden.
  4. frei von festformulierten Bekenntnissen, bei Unterordnung unter die göttliche Autorität der Schrift und Forderung des persönlichen, heilsgewissen Glaubens an den im Fleische gekommenen Sohn Gottes;
  5. frei von Sektiererei, d.h. von einer Gewissenserziehung, die es von vornherein unmöglich macht, mit Brüdern, die in Lehrfragen, z.B. Taufe und Abendmahl, verschieden stehen, in einer Gemeinde und am Tisch des Herrn zusammen zu sein. Respekt für die Gewissensüberzeugung anderer, Blick aufs Ganze der Gemeinde, Blick aufs Wesen und aufs Wesentliche in Lehre und Leben.
  6. frei in der Lehrdarbietung, d.h. Vermeidung von Treiberei und Schablone in der Evangelisation wie in der Heiligung, Entwickelung der gottgegebenen Individualitäten im Denken, Tun, Reden und Sein.
  7. frei vom Sakramentalismus und Formalismus, der auf der vollzogenen Kinder- oder Großtaufe, auf der Gemeindezugehörigkeit, auf den Besitz eines Amtes usw. für den Heilsstand baut, der überhaupt die Form auf Kosten des Wesens und Lebens beachtet und betont.

Doch solche Freiheit würde etwas Negatives sein, würde der Wurzeln und Grundlagen und Grenzen, ja des Wertes und Inhaltes entbehren ohne das im Namen unserer Gemeinden angedeutete positive Element, ohne die seligen Schranken des Evangeliums, ohne das Gebundensein an Gott. Das zweite unauflösliche, mit dem ersten verbundene Moment in unseren Bestrebungen ist also

das evangelische

Wir erstreben in Lehre und Erkenntnis eine starke Betonung dessen, was Gott geplant zum Heile seiner Gemeinde, also einen milden Calvinismus und Antinomismus. In der Darbietung des Evangeliums sollen in den Vordergrund treten die Darlegung des Heilsplanes, die Lehre von der Sünde und der allgemeinen Verderbtheit der Menschen, die Verkündigung der Rechtfertigung auf Grund einer auf Sühne ruhenden Versöhnung; kurz, all dessen, was Gott getan hat zur Wiedergeburt des Sünders, was er tut zu unserer Heiligung und tun wird zu unserer Vollendung (lebhaftere Pflege des Interesses für die Eschatologie, d.h. Lehre von den letzten Dingen).

Wir erstreben immer mehr, es uns klar zu machen, a) daß die in unseren Grundsätzen betonte Freiheit nur möglich ist in engster Gebundenheit in Gott, b) daß wir die von unseren Grundsätzen geforderte Elastizität, Vertiefung in das Wesen der Schriftwahrheiten, Vertiefung in die Eigenart der Persönlichkeiten, die nötige Tragfähigkeit und Selbstverleugnung nur in dem Maße besitzen, als wir in der selbstlosen Liebe Gottes und Jesu Christi stehen. Wir erstreben die Sterbenswilligkeit, die nötig ist, um unseren für die Selbstsucht lebensgefährlichen Grundsätzen zu folgen.

Das Freiheitsmoment, wie die Herrlichkeit des Evangeliums, wird auch in der Einzelpersönlichkeit zur vollen Entfaltung nicht kommen, wenn wir als Einspänner leben, wenn wir uns mit Gläubigen und Ungläubigen in einer Kirche oder Gemeinde verbinden, oder wenn wir uns mit Surrogaten, wie Vereine oder Gemeinschaften, begnügen, wir bedürfen dazu vielmehr noch eines dritten in unserem Namen angedeuteten Moments, nämlich

der Gemeinde

  • Wir sind deshalb bestrebt, Gemeinden von Gläubigen, von Wiedergeborenen zu bilden. Einzige, aber auch unerläßliche Bedingung der Gemeindezugehörigkeit soll deshalb der lebendige, heilsgewisse Glaube sein. Wir glauben, daß es göttliche Regel ist, daß die Gläubigen von den Ungläubigen an ihren Früchten erkannt werden, erwarten aber nicht eine vollkommene Gemeinde, in der keine Ananias und Sapphira sich einschleichen können. Doch glauben wir, daß Selbstbetrug und Heuchelei auf dem Boden einer prinzipiell gläubigen Gemeinde im allgemeinen bald offenbar werden. Wir erstreben eine Gemeinde der Gläubigen, aber nicht nur der Gereiften, nicht nur der gläubig Getauften, nicht nur der Reformierten; gerade für die Jüngsten und Schwächsten, mit denen man nicht Staat machen kann, soll sie das sein. Neviandt, der erste Prediger der ersten Freien evangelischen Gemeinde, formulierte es etwa so: „Weit genug für jedes Kind Gottes, aber zu eng für jeden Ungläubigen und Heuchler.“
  • Wir betonen das anderwärts vielfach zurückgesetzte, durch Paulus geoffenbarte Geheimnis von der Gesamtgemeinde und dessen Bedeutung für die Einzelgemeinde.
  • Wir erstreben das Durchdringen der Erkenntnis, daß die Pflege der Individualität (Eigenart) des Einzelnen eine Hauptaufgabe der Einzelgemeinde, ein Hauptfaktor des Ausgestaltung der Gesamtgemeinde ist.
  • Wir erstreben besonders zur Ergänzung der Heiligungsbewegung die Betonung der von ihr fast ganz übersehenen Wahrheit, daß das biblische Gemeindeleben ein Hauptfaktor in der Heiligung ist.
  • Bezüglich der Gemeindeorganisation erstreben wir Weckung und Benützung der für die Gesamt- und Einzelgemeinden verliehenen geistlichen Gaben der Lehre und Leitung, der äußern Dienstleistung und geistlichen Speisung. Wir erbitten Evangelisten, Lehrer, Hirten, Älteste, Diakonen für die Einzelgemeinden, die durch Wahl ihre Anerkennung finden. Es soll Freiheit gelassen werden, ob die an der Gemeinde dienenden Brüder ein Fixum oder ein unbestimmtes und nur ihnen bekanntes Einkommen aus freiwilligen, festgesetzten oder variierenden, regelmäßigen oder unregelmäßigen Liebesgaben der Gemeindeglieder bekommen.
  • In Versammlungen entweder der Vorsteher oder aller Brüder oder auch aller Gemeindeglieder (der männlichen und der weiblichen) sollen je nach Art und Wichtigkeit der Dinge die Angelegenheiten der Gemeinde besprochen und über dieselben Beschluß gefaßt werden.
  • Das Wort Gottes soll in öffentlichen Versammlungen teilos evangelistisch für die Unbekehrten gepredigt werden, teils belehrend und erbaulich für die Gläubigen, in erster Linie von Predigern, dann aber auch von anderen lehrbegabten Brüdern erklärt, und von allen dazu befähigten Brüdern bezeugt werden.
  • In Gebetsversammlungen sollen die großen Angelegenheiten des Reiches Gottes, der verbundenen Gemeinden, wie die er Einzelgemeinden, und bis zu einem gewissen Grade auch der Einzelpersönlichkeit dem Herrn dargebracht werden.
  • Die Einzelseelsorge soll von Predigern, von Eltern und allen Geschwistern je nach ihrer Begabung geübt werden.
  • Die Liebestätigkeit, beginnend im eigenen Hause und der eigenen Gemeinde, soll von Glaubensgenossen im engern und weitern Sinn, durch Unterstützung der eigenen Spezialarbeiten (z.B. Diakonissensache, Evangelisationskomitee), aber auch weitherzige Unterstützung der Arbeiten anderer Kreise unterstützt werden.
  • Die Kinder der Gemeindeglieder sollen erst dann in die Gemeinde als Glieder aufgenommen werden, wenn sie ein durch ihren Wandel nicht widerlegtes Bekenntnis ihres heilsgewissen Glaubens ablegen. Aber sie sind auch vorher Gegenstand des Interesses der ganzen Einzelgemeinde. Ihre Unterweisung ist zunächst Pflicht ihrer gläubigen Eltern; dieselbe wird aber durch Sonntagsschulen und Kinderunterricht, der älteren durch irgend einen Lehrer oder Bruder ergänzt. Mit dem Austritt aus der Schule treten sie auch aus dem Kinderunterricht aus, meist nachdem sie von der Gemeinde über ihre religiösen Kenntnisse geprüft und in gemeinsamen Gebet dem Herrn befohlen sind.
  • Gemeindezucht soll nach der Schrift geübt werden, als Fortsetzung oder Ergänzung mangelhafter Selbstzucht oder nicht beachteter Zucht des Wortes und Geistes
    1. durch Fürbitte und Ermahnung im Geiste Christi in verschiedenen Stufen,
    2. durch Sich-entziehen von dem unordentlich Wandelnden, indem wir das Mahl des Herrn nicht mit ihm essen,
    3. durch Hinaustun dessen, „der böse ist“, indem er „als Heide und Zöllner“ gehalten wird, aber eben damit Missionsobjekt ist.
  • Für die Gemeindezucht wird die Auffassung angestrebt, die in jedem Akt der Gemeindezucht nicht nur eine Zucht an dem einzelnen fehlenden Gemeindeglied, sondern eine Selbstzucht an der ganzen meist mehr oder weniger mitschuldigen Gemeinde sieht. Als unerläßlich wird betont, daß die Zucht nicht in buchstäblichem, herzlosen Formalismus, sondern im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung geübt wird.
  • Durch solche Gemeindesätze und Gemeindepraxis erstreben wir, der ganzen Gemeinde Christi zu dienen
    1. indem wir zeigen, daß diese Grundsätze durchführbar, ihre Durchführung gesegnet und nötig ist, und
    2. indem wir jede unbiblische Lehre und Praxis und ihre Folgen im Geiste Christi liebevoll, maßvoll und kraftvoll zu bekämpfen suchen;
    3. indem wir bestrebt sind,
      1. uns die Gaben, Erkenntnisse und Geistesfrucht nicht zu unsern Gemeinden gehöriger Brüder und Gemeinden zu nutze zu machen, durch Studium und Nachahmung;
      2. auch aus ihren Fehlern zu lernen;
      3. indem wir durch Pflege brüderlichen Privatverkehrs, möglichst weitgehender Allianz und Arbeitsgemeinschaft mit ihnen hinanwachsen zu Christo.
  • Endlich suchen wir die Welt zu beeinflussen durch die Darstellung des Evangeliums in der Privat- und Gemeindeevangelisation, im Wandel und Gemeindeleben daheim und durch Unterstützung der Heidenmission.

Was wir erleben

Schattenseiten

  1. Wie wir bei den biblischen Gemeinden des Neuen Testaments allerlei noch nicht überwundene Sünden und Mängel finden, so auch in diesen Gemeinden, wo (weil man in kleineren Kreisen näher beisammen ist, mehr bekämpft wird als in namenschristlichen Kreisen) die Schattenseiten mehr, stärker und störender empfunden werden.
    1. Schattenseiten, Mängel und Gefahren, die wir mit allen, auch kirchlichen Gemeinschaften von Gläubigen, gemeinsam haben: a) daß das scheinbar vorhandene Gute mehr oder weniger Gesetzeswerk, Mode und Produkt der Rücksicht auf die Meinung der andern ist,
    2. die Zeitgefahren der Oberflächlichkeit, Vielgeschäftigkeit, Weltförmigkeit und Neigung, der Welt mit fleischlichen Mitteln zu imponieren,
    3. Einzelsünden: mangelnder Gebetsgeist, Empfindlichkeit, Herrschsucht, Geiz, je und dann auch andere sittliche Verfehlungen, wo im Geist Begonnenes im Fleisch endigt.
  2. Die spezifischen Mängel separatistischer Gemeinschaften:
    1. Kleinlichkeit, kleinliche Kritik, kleiner Interessenkreis, mangelhaftes Vermögen oder Bestreben, andere zu verstehen, oder ihnen gerecht zu werden, Unduldsamkeit, lauter Dinge, die auf unserem Boden schwerer wiegen, weil im diametralen Gegensatz zu unseren Grundsätzen.
    2. Die Gefahr, daß einzelne eine unverhältnismäßige Bedeutung gewinnen, während andere sich nicht genug entfalten.
    3. Mit manchen, die sich irrtümlich für besonders gut reformiert halten, die Gefahr zu scharfer Ablehnung der Heiligungsbewegung und Oberflächlichkeit in der Sakramentslehre.
    4. Unverhältnismäßig starke Betonung der Taufe der Gläubigen, und dabei Mangel an Vertiefung der Lehre von der Taufe.
  3. Independentische Spezialfehler oder Schattenseiten, die aus mangelhaftem Erfassen unserer Grundsätze herrühren,
    1. daß der Individualismus zu Subjektivismus wird,
    2. der Antiformalismus zum Anarchismus,
    3. der Antinomismus zum Indifferentismus,
    4. Einspännerei statt gemeinsamer Arbeit,
    5. zu geringer Arbeitseifer,
    6. zu geringes Verantwortlichkeitsgefühl,
    7. Reibungen zwischen verschieden gerichteten Gemeindegliedern.

Ob gewisse Schwierigkeiten in der Evangelisation (Furcht, Abneigung und Zurückhaltung im Besuch unserer Versammlungen und im Verkehr mit uns seitens vieler Namenschristen), ferner die bald brutale, bald listige Gegnerschaft der Orthodoxie und auch mancher kirchlicher Brüder, endlich die Opposition radikaler unkirchlicher und radikalerer außerkirchlicher Kreise unter die „Schattenseiten“ zu rechnen sind, bin ich nicht sicher.

Nachdem ich so möglichst gewissenhaft und vollständig die da und dort sich zeigenden Schattenseiten des Gemeindelebens registriert habe, darf ich noch einiges anführen, was wir erleben von

Lichtseiten

Auch hier wieder zunächst

  1. mit allen Gemeinschaften Gläubiger gemeinsam:
    1. warm pulsierendes Leben, Bruderliebe, Mitleid mit den Verlorenen, Bereitwilligkeit, Schmach und Verfolgung zu leiden,
    2. Arbeitseifer in der Evangelisation, leichtes Aufbringen von Mitteln, Abnahme von Unreinlichkeit, Unordnung, Ungastlichkeit, von Putzsucht und Unversöhnlichkeit,
    3. Verschwinden von Trunksucht und Unehrlichkeit gegenüber dem Besitz des Nächsten und Abnahme anderer grober Sündenfälle.
  2. Lichtseiten mit den außerkirchlichen Kreisen Gläubiger gemeinsam:
    1. wenig Eingang liberaler, sektiererischer, perfektionistischer und eschatologischer Irrlehren,
    2. engeres Verbundensein der Gemeindeglieder,
    3. der Beweis der Möglichkeit der Existenz und der Fortdauer von Gemeinden Gläubiger, ohne daß die Nachkommen der Gründer einfach in die Gemeinden hineingeboren werden, und andererseits leichtere Möglichkeit des Aufhörens der Gemeinde, wenn das innere Leben aufhört,
    4. mehr Durchschlagkraft in der Bezeugung des Evangeliums, weil die lähmende Wirkung ungläubiger Massen und gewisser Inkonsequenzen in Mischgemeinden wegfällt, wir eine kleinere Angriffsfläche haben und vielfach durch ihre Geschichte fürs Evangelium präparierte Zuhörer,
    5. in Großstädten beginnt auch gerade das nichtoffizielle und Nichtkirchliche der außerkirchlichen Arbeit zu imponieren und ebenso der konsequente Biblizismus,
    6. die Kontrolle und Förderung der einzelnen Gläubigen ist in kleinen Kreisen leichter, darum teilt man prinzipiell die größer werdenden Gemeinden, wo man nicht durch Errichtung von imponieren sollenden Kirchen oder durch große Gehaltsansprüche der Prediger große Gemeinden zu haben gezwungen ist (das kommt in unseren Gemeinden bis jetzt kaum vor),
    7. die ganze Gemeinde ist leichter zu leiten und zu beeinflussen,
    8. die Anregung kirchlicher und freikirchlicher Parallelarbeiten (das ich nicht sage „Konkurrenz“).

Spezielle Lichtseiten unserer Gemeinden

  1. der durch Jahrzehnte hindurch geführte Beweis der Existenzmöglichkeit solcher Gemeinden mit so wenig straffer Organisation und solchen Verschiedenheiten in Lehre und Praxis bei den einzelnen Gemeinden und Mitgliedern,
  2. das eichbaummäßige langsame Wachstum der Einzelnen und der Gemeinden auf dem Boden der Freiheit,
  3. das verhältnismäßig gute Verhältnis zu allen anderen Kreisen von Kindern Gottes, die meist finden, daß wir ihnen am nächsten stehen, weil wir weder in Bezug auf Taufe und Abendmahl, noch in Bezug auf die Gemeindeämter exklusiv oder extrem sind,
  4. ein namhafter, schlichter Predigerstand, dessen Glieder man durchweg achten kann, bei bescheidenem Einkommen im Glauben geübt, mit den Nöten der Kleinen vertraut, als Brüder unter Brüdern keine Hierarchien, und doch meist mit Achtung und Takt und Liebe von den Gemeinden behandelt. Keine theologisch-liberalen Neigungen bei Kenntnis der theologischen Hauptfragen. Keine Übertritte der Prediger zu anderen Kreisen mit Ausnahme einiger, die schon vorher Sorgenkinder und andersartig waren;
  5. Erfreuliche Entwicklung der Einzelarbeiten, vier Blätter und Buchverlag (hier ist das materielle Ergebnis nicht befriedigend, wohl aber das ideelle. Die Blätter haben eine Gesamt-Abonnentenzahl von über 30.000, natürlich ist der Leserkreis größer. Der Buchumsatz beträgt zehntausende). Das Diakonisseenwerk begann vor 15 Jahren mit drei Schwestern. Heute sind 5 Krankenhäuser und Kliniken, 6 Gemeindepflegen und 1 Kinderschule besetzt, und eine Anzahl Schwestern stehen in der Privatpflege. Diese durften viele Hohe und Niedrige zu Jesu weisen. Aufnahmebedingung: Lebendiger Glaube, Gesundheit, guter Ruf und Begabung und Überzeugung der Berufung. Näheres durch Inspektor R. Kaiser, Wetter a.d.Ruhr. Gemeindewohlverein, auf dessen Namen ca. 30 Versammlungshäuser eingetragen sind und der beim Bau von solchen Versammlungshäusern berät und finanziell hilft. Erholungsheim Lippspringe für Lungenkranke, seit drei Jahren sehr gut besucht, durch Hausandachten und öffentliche Versammlungen besonders günstige und gesegnete Evangelisationsarbeit. Soldatenmission in Verbindung mit Brüdern anderer Kreise, versieht viele Armeekorps mit Schriften, korrespondiert mit Soldaten und eröffnet kleine Familienheime. Gesegnetes Evangelisationswerk und Hilfe für junge Leute. Für alle diese Arbeiten, für Prediger, Gemeindebedürfnisse, Unterstützung der äußeren und inneren Mission und Privatwohlfahrt werden wohl mehrere Hunderttausende von den meist wenig bemittelten Gliedern aufgebracht.
  6. der „Feminismus“ (d.h. die Hervordrängung des weiblichen Elements) wird prinzipiell und praktisch durch Entwicklung praktischer Mannhaftigkeit und Weiblichkeit abgehalten.
  7. Wenig Spaltungen wegen der Elastizität der Prinzipien und Verfassung.
  8. Zurücktreten des Parteigeistes und Entwicklung eines weitherzigen, allgemeinen Reichsgottesinteresses und Noblesse in Gesinnung und Praxis.
  9. Entwicklung einer ungekünstelten Natürlichkeit und Unbefangenheit in Urteil, Rede und Wandel.
  10. Schlichtheit, Abneigung gegen Reklame und Sensation.
  11. Sinn für das Wesentliche und das Wesen der Dinge und Lehren, und darum Freude am Verwandten auch in fremder Form und Ablehnung des Fremden auch in imponierender oder verlockender Hülle.
  12. Christozentrische und theozentrische Richtung der Interessen und Sinn fürs Pneumatische.

Nicht ohne Widerstreben und oft nur andeutungsweise habe ich Zeugnis abgelegt, um dem mir gestellten Thema gerecht zu werden. Daß ich nach solchen Kreisen suchte, in solchen Kreisen mich wohl fühlte, verdanke ich zum großen Teil dem Biblizismus und der weitherzig freien Erziehung unserer Schule, die in diesen Kreisen fortgesetzt und in Praxis umgesetzt wird. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich Gott nicht danke, daß ich in diese Kreise gekommen bin. Ich würde mich unwahr entwickelt haben, wenn ich nicht in diese Atmosphäre gekommen wäre.

Nur noch kurz etwas über drei Punkte: Einmal, man hält oft biblische Gemeindezucht für unausführbar oder gefährlich, den Richtgeist fördernd. Wir haben viel Segen dadurch gehabt, weil die Zucht auch in ihren ersten Stadien vielen dient und dann, weil vielleicht nichts so zur Selbstprüfung, Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung nötigt und wenigstens so fragen lehrt: was ist nach Christi Sinn? als das Mitwirken bei Zuchtakten.

Dann das Bedenken: Man erreicht nur wenige in solchen Kreisen. Darauf erwidere ich: soweit meine Beobachtungen reichen, werden dadurch, daß man in den Kirchen, in Gottesdienst und Seelsorge zu mehr Leuten freien Zugang hat, durchaus nicht immer mehr Leute wirklich mit dem Evangelium erreicht, und dann haben evangelistisch freistehende Brüder unserer Richtung, soweit sie die nötige Begabung und Ausbildung haben, weit über den Kreis der eigenen Gemeinde und Gemeinden hinaus ein Feld der Wirksamkeit, das habe ich selbst erfahren und viele andere.

Endlich, für uns sind nicht Zweckmäßigkeitsgründe, oder Bequemlichkeitsgründe, oder gar Oppositionslust und geistliche Genußsucht maßgebend dafür gewesen, daß wir in solchen Gemeinden stehen, sondern wir können nicht anders auf Grund unserer Schrifterkenntnis und Gewissensüberzeugung.

Zum Schluß bitte ich herzlich und nachdrücklich auch meine Mitschüler, das Gesagte und unsere Gemeinden nicht nur als eine mehr oder weniger interessante Erscheinung zu betrachten, sondern ernsthaft darüber nachzudenken, ob wohl auch ihnen das alles etwas zu sagen hat.

Anm. Br. Schopf hielt dieses Referat 1911 auf einer Konferenz alter Predigerschüler in Basel, also vor einem Kreise theologisch geschulter Leute, die größtenteils nicht auf unserm Boden stehen. Das gerade macht die Arbeit interessant.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1913

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/s/schopf/schopf-was_wir_erstreben_und_was_wir_erleben_in_den_freien_evangelischen_gemeinden_westdeutschlan.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain