Schopf, Otto - Nicht tot, aber blind.

Schopf, Otto - Nicht tot, aber blind.

(Aus einer Ansprache bei Gelegenheit der 16. Evangelisationskonferenz in Wesel, am 3. November 1912.)

Und sie kamen gen Jericho. Und da er aus Jericho ging, er und seine Jünger und ein groß Volk, da saß ein Blinder, Bartimäus, des Timäus Sohn, am Wege und bettelte. Und da er hörte, daß es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und sagen: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Und viele bedräueten ihn, er sollte stille schweigen. Er aber schrie viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich mein! Und Jesus stund stille und ließ ihm rufen. Und sie riefen dem Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, stehe auf, er rufet dir. Und er warf sein Kleid von sich, stund auf und kam zu Jesu. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, daß ich dir tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, daß ich sehend werde. Jesus aber sprach zu ihm. Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und alsbald ward er sehend, und folgete ihm nach auf dem Wege.

Markus 10,46-52.

Liebe Geschwister! Wir heißen euch alle recht herzlich willkommen auf unserer 16. Evangelisationskonferenz! Es ist uns auch eine besondere Freude, daß wir mal in Wesen sein dürfen, einer unserer entlegensten Gemeinden, und wir freuen uns und sind dankbar, daß wir so gastfreundlich aufgenommen wurden. Das Wort, das ich eben las, können wir jetzt nicht erschöpfend behandeln. Nur ein paar Züge! Der blinde Bartimäus am Wege ist mir zunächst ein Bild und Vorbild (wie wir es ja so oft gebraucht haben) des unbekehrten Menschen. Als solcher ist er ein Stück von unserem christlichen, pietistischen und biblischen Sprachgebrauch. Aber “geistlich blind”, das ist nicht nur eine Sprachformel, nicht nur ein Ausdruck, sondern ein schweres, schreckensvolles Wort. Ich denke, wir werden es ein wenig wissen, wie ernst, trauervoll und schrecklich es ist, blind zu sein, geistlich blind zu sein, das helle Licht Gottes nicht zu sehen. O, dieser arme Mann, der nie die Sonne, die Blumen und den Himmel gesehen hat, wie arm war er! Wie mag er gelitten haben in seinem Leben! Wie vielmal hat er sich gestoßen, und wie vielmal hat er Anstoß erregt! So war es mit uns allen, als wir unbekehrt waren. Wie oft sind wir angerannt, wie viele Wunden haben wir davongetragen, wie so sehr müde sind wir oft nach Hause gekommen, in wie so manchen großen Schmutz sind wir gefallen und, ohne es verstehen zu können, bald mit Wehmut, bald mit Schreck, bald mit Unwillen, bald mit Sehnsucht hörten wir von anderen erzählen, daß es ein Licht in der Welt gebe, einen Weg, um vorbei zu kommen an all den Fallen, Gruben, Hindernissen, daß es einen gebahnten Weg, einen einfachen Weg gebe, einen seligen Weg, und wir, wir kannten ihn nicht. Aber nicht bloß das haben wir gehört, sondern wir haben mit schuldigem Gewissen wenigstens etwas von dem Allerschlimmsten und Schrecklichsten gespürt: vom dem Zorne Gottes, den Schrecken des Gerichts. Immer wieder möchte ich seufzen um den Heiligen Geist für mich und die ganze Gemeinde des Herrn, daß uns diese Worte vom Zorne Gottes und von seinem Gericht in ihrem ganzen Ernst vor der Seele stehen; dann fühlten wir noch ganz anders mit einer armen Welt, die dem Verderben entgegengeht. Vielleicht ist die oberflächliche Bekehrung schuld daran, daß manche noch so oberflächlich fühlen mit den Armen, die das Licht noch nicht empfingen. Und denken wir dann an die Millionen unseres Volkes, an die, die den Weg nicht kennen, an die vielen Katholiken und auch Protestanten, die ihn nicht klar verkündigen hörten, so muß es uns klar werden, wie wichtig es ist, hier zu wirken. Wenn wir Sonntags und in der Woche so reichlich den Tisch gedeckt finden in unseren Gemeinden, wenn wir sehen, wie in unseren Gemeinden die Brüder ½ dutzendweise vorhanden sind, die das Wort auszuteilen vermögen, so muß es uns doch sehr ernst zu Mute werden angesichts der Tatsache, daß wir es so gut haben, und Millionen unseres Volkes nichts wissen von dem Wege des Friedens. Ich meine, da können wir nur dann mit Ruhe leben und mit Ruhe arbeiten, wenn wir uns an den Herrn gehängt haben, ihm keine Ruhe lassen, und wenn wir, soweit seine Gnade nur irgend reicht, unsere Personen und Mittel verwenden, daß andere es auch hören, das herrliche Evangelium.

Weiter ist der blinde Bartimäus ein Bild für uns, die Kinder Gottes. Er ist nicht tot, aber blind. Es fehlte ihm am rechten Blick, an Licht für seine Umgebung, an Licht, damit er die Kräfte des Körpers und Geistes hätte ausnutzen können. Und ist es nicht so, daß wir mit Beugung von ganzen Partien unseres Lebens sagen müssen: Wie bin ich so blind vorbeigegangen an der Not meiner Mitmenschen, ja meiner nächsten Nachbarn! Manche Optimisten sind da; sie haben Frieden gefunden, gehen als lächelnde, freundliche Menschen ihren Weg, geben nicht groß Anlaß zum Tadeln, aber unberührt läßt sie die geistige Not ihrer Umgebung. Manche führen ein überaus nettes, sonniges, gemütliches, christliches Familienleben; nichts Unedles, nichts Leichtfertiges kommt da hinein, aber wo ist der Blick für die Brüder nach dem Fleisch? O gewiß, sie sind nicht tot, aber blind nach manchen Seiten hin.

Der Bartimäus war nicht tot, aber arm, und das hin mit seiner Blindheit zusammen. Was für Gelegenheiten mochten da um ihn herum sein, zu erwerben für sich und andere; aber er sah sie nicht und konnte sie nicht ausnutzen. War es bei uns nicht oft auch so? Da und dort waren Arbeitsfelder, gute Gelegenheiten zum Wirken, und ich habe es nicht gesehen. Ach, wie arm wird man, wenn es an dem rechten Blick fehlt! Ja, wie blind waren wir manchmal für die wunderbaren Gelegenheiten, die uns gegeben waren, unsere Kraft und unsere Begabung zu verwerten, unsere Berufs- und Familienverhältnisse auszunutzen im Dienste des Evangeliums. Manche Brüder haben jahrelang geschäftlich gereift, in großen Häusern gewohnt; der Herr hat sie hineingesetzt als Licht, aber haben sie ihren Beruf recht erkannt und erfüllet? Manche Brüder wissen gar nicht, was man mit ein paar “Boten des Friedens” tun kann seinen Brüdern, der Welt und sich selber, und welche Schätze hat der Herr uns doch bereitet! Wo er nur erwarten kann, daß man es weitergibt, da gibt er gerne. Ja, den Törichten gibt er. Wie viele könnten ihre Ferien recht ausnutzen, im Bad ein kleines Trüpplein zusammenbringen und den Samen des Wortes in mannigfacher Weise ausstreuen! Und wenn manche Brüder wüßten was Geld wert ist! Manche, die es sauer verdienen müssen, wissen es nicht, was sie machen könnten mit den sauer verdienten Groschen, wenn sie im Segen säen würden und nicht kärglich. Auch dafür sind manche noch blind. Wie manchmal denke ich bei den großen Anforderungen unserer Arbeit: Ach, was die Brüder doch tun könnten mit dem ungerechten Mammon! Wir sind oft viel ärmer, als der Heiland haben will. Wir sind geschaffen zu guten Werken. Möchte der gnädige Herr geben können, daß uns die Augen aufgehen für’s Erntefeld, für die Gelegenheiten zur Arbeit und für die Reichtümer, die alle für uns bereit liegen. – Meine Brüder! Wir in unserem Komitee, die der Herr (und ihr) beauftragte, dieser Arbeit zu dienen, wir haben ein wenig durch Gottes geduldige Liebesarbeit zu sehen bekommen, was es an Gelegenheiten gibt, für den Herrn zu arbeiten. Wir fühlen uns aber auch noch manchmal recht blind, arm und ungeschickt. O, wenn wir doch die rechte Weise fänden, um an die Herzen der Brüder zu kommen! Wir leiden oft körperlich, können oft nicht schlafen, wenn wir an all das denken, was noch zu tun ist und so leicht zu tun wäre. Aber wir können noch nicht so recht die Mittel finden, um unsere Brüder in ihrem Tun dauernd in Bewegung zu setzen. Wir sind oft so arm an Kraft, an Mut, an Geschicklichkeit. 15 Brüder sitzen wir oft zusammen und wissen nicht, wie wir’s machen sollen; stoßen auch manchmal an, versuchen hier und da ein Stück vorwärts zu gehen und müssen dann doch manchmal wieder zurück. Aber all dem gegenüber, Gott sei Lob und Dank, brauchen wir nicht zu verzagen; denn es gibt einen, der einem die Augen öffnet, und es gibt einen Weg, an sein Herz zu kommen, und das ist das Schreien. Ach, daß die Blinden schreien dürfen! zu dem, der das Schreien erhört. Wenn wir nicht weiter wissen, wenn uns manche Brüder aus Erz zu sein scheinen, schreien wir immer wieder. Gewöhnlich frühmorgens ist es unseres Sekretärs und meine erste Arbeit, zu schreien, und wir verwenden ordentlich Zeit darauf. Alle Arbeitsgebiete gehen wir durch. Es sind ihrer so viele, daß ihr nicht so leicht durchkommt. – Es gibt auch Leute, die wünschen, wir sollen stille sein; sie sagen, wir seien unbescheiden, aber wir schreien doch und Schreien hilft, das haben wir gesehen; es hilft dem Komitee, es hilft dem einzelnen; es hilft den Erretteten und denen, die noch nicht gerettet sind.

Ach, wie freue ich mich über den Bartimäus! Als er hörte, daß Jesus kam, dachte er nicht mehr an das Geld, nicht an die schöne Gelegenheit, eine schöne Kollekte zu bekommen; alles trat zurück hinter dem einen Wunsch: Ach, daß ich sehen könnte! Ja, nach Jesus hat er geschrien, nicht nach der Kollekte. Ja, daran liegt uns, daß der Herr schenken möge eine Begegnung mit ihm, einen Blick für ihn und seinen Blick in uns hinein. Danach verlangt uns. Es ist doch etwas Herrliches und Schönes, daß auch jetzt wieder der Herr seine Leute fragt: “Was willst du, daß ich dir tun soll?” Wenn er hier stände, uns allen sichtbar, wäre wohl mancher Bruder und manche Schwester, die da sagten, wenn er sie so fragte, mit dem blinden Bartimäus: Ach, daß ich sehen möchte! Ach, daß ich deinen Willen, deine Wege, deine Pläne in allem erkennen möchte! Ach, daß ich dich besser sähe, und daß ich mich auch besser sehen möchte in meiner Kälte, in meinem geringen Interessiertsein, in meiner Kurzsichtigkeit, in meinem ganzen Mangel! Auch die Abgründe, die wir nicht bemerkten, die Gelegenheiten, die wir versäumten, - wir wollen’s ihm sagen: “Ach, daß ich sehen möge!” Dann sagt er: “Dein Glaube hat dir geholfen; dir geschehe, wie du gesagt hast!”

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