Schopf, Otto - Etwas Geheimnisvolles.

Schopf, Otto - Etwas Geheimnisvolles.

Nicht um mit seinen Lesern Verstecken zu spielen hat der Schreiber dieser Zeilen obige Ueberschrift gewählt, sondern weil er fürchtete, daß mancher einfache Leser und manche Leserin erschrecken würde, wenn sie das Wort an der Spitze seines Aufsatzes sehen würden, das ursprünglich drüber stand. Es wäre ein Fremdwort gewesen, und manche Leute sind aus guten Gründen den Fremdwörtern feind, eben weil ihre Bedeutung oft ein unenthülltes Geheimnis ist und weil sie zudem manchmal so unaussprechlich sind, wie das böse Wort “Influenza”, das so vielen nicht nur in kranken, sondern auch in gesunden Tagen große Mühe macht. Nun schreibt man nicht gerne Artikel, die von vornherein niemand liest, weil jeder fürchtet, es folge auf die unverständliche Ueberschrift ein ebenso unverständlicher und darum langweiliger Artikel; und damit man nun nicht gleich am Anfang dieses Artikels denken möge, er sei langweilig, sondern höchstens erst, wenn man ein Stück davon gelesen hat, deshalb läßt der Verfasser seine lieben Leser etwas im Unklaren darüber, worüber er eigentlich zu schreiben gedenkt.

Aber nun muß es doch heraus. Ich dachte etwas zu schreiben über “Individualität und Individualisieren”. Was bedeuten diese beiden Wörter und was für einen Wert hat es für uns Jünger Jesu, über dieselben nachzudenken? Beide Worte stammen aus der lateinischen Sprache und zwar von dem Wort individuum. Individuum heißt wörtlich ein unteilbares Ding und bedeutet ein Einzelding, welches von allen andern dadurch verschieden ist, daß es gewisse ursprüngliche Eigentümlichkeiten hat, die nicht zufällig sind, sondern in seinem Wesen liegen. Und das Wort Individualität bedeutet für uns den Inbegriff der von Gott in der Natur des einzelnen Menschen angelegten Eigentümlichkeiten, durch welche dieser Mensch sich von andern Menschen unterscheidet. Im weiteren Sinn gebrauchen wir dann das Wort Individualität nicht nur für die ursprünglich in dem einzelnen Menschen angelegte Eigenart, sondern auch für die mehr zufälligen Eigentümlichkeiten, die dem Menschen durch seine Geschichte und Gesellschaft, durch Ort und Zeit, in der er lebt, anhaften. Wollten wir das Wort Individualität kurz verdeutschen, so wüßten wir nichts besseres als das Wort “Eigenart” dafür zu setzen; nur haftet leicht diesem Wort ein böser Beigeschmack an, indem man dabei an Eigensinn und Sonderbarkeit denkt. Das andere Wort “individualisieren” hieße dann, die Eigenart eines Menschen berücksichtigen und jeden Menschen nach seiner Eigenart behandeln.

Jeder Vater und jede Mutter weiß, was für ein geheimnisvolles Ding es um die Eigenart ihrer Kinder ist. Man mag zwei oder zehn haben, alle sind sie gleich erzogen und gleich geliebt, und doch wie verschieden sind sie und wie verschieden wollen sie behandelt sein, d.h. wie muß man bei jedem einzelnen individualisieren. Und was jedem auffällt in der kleinen Welt des Hauses, das fällt einem noch mehr auf, wenn man hineinsieht in das bewegte Leben und Treiben der großen Welt draußen. Wie müssen die Menschen es immer wieder erfahren und beachten, daß jeder ihrer Mitmenschen seine Individualität hat. Will der Richter gerecht richten, muß er wissen, wen er zur Beurteilung und Verurteilung vor sich hat, muß seinen Charakter und seine Geschichte und alle Umstände berücksichtigen, die für die gerechte Beurteilung des gerade vorliegenden besonderen Falles ihm ein Licht geben. Kein Arzt kann all seinen Kranken dasselbe Mittel in derselben Stärke geben, auch wenn sie dieselbe Krankheit haben. Der Kaufmann und Händler muß jeden seiner Dienstboten besonders behandeln, und wie sehr der Prediger und überhaupt jeder Christ die Individualität jedes einzelnen seiner Mitmenschen berücksichtigen muß, wenn er recht und gerecht, erfolgreich und liebreich, kurz, wenn er Jesus ähnlich die Leute behandeln will, davon wollen wir später sehr eingehend reden. Für den Anfang genügt es uns, festzustellen: Es ist ein wichtig Ding um die Individualität jedes einzelnen Menschen und um ihre Beachtung. Aber es ist auch etwas Geheimnisvolles, diese Eigenart, die in jedes Menschen Busen von Gott gelegt ist, und es ist ein Geheimnis gottgelehrter Erzieherweisheit, hinter die geheimnisvolle Eigenart jedes Menschen zu kommen und sie recht zu behandeln. Und so durften wir, nicht bloß weil die Worte Individualität und individualisieren geheimnisvoll sind, sondern noch viel mehr, weil es die Sache ist, unsern Aufsatz überschreiben “Etwas Geheimnisvolles!” Und wenn der geneigte Leser nun dem Schreiber folgen will, so wollen wir miteinander davon reden

a) wie die Welt voll von Individualitäten ist und auf die Bildung von Individualitäten angelegt ist;

b) vom Recht und den Schranken der Individualität.

Manche Kinder Gottes haben leider noch wenig Sinn für die herrliche Schöpfung ihres Vaters. Sie wundern sich, daß ein Lied, wie das: “Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht” im Gesangbuch steht. Und obwohl die Schrift immer wieder die Wunder der Schöpfung preist, können sie kaum von Herzen mit einstimmen in die Worte des Psalmisten: Herr, wie sind deine Werke so groß und viel. Wie köstlich sind vor mir, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihrer eine so große Summe! Und doch, wie reißt es jeden empfänglichen Beobachter hin, wenn er mit offenem, einfältigem Auge hineinschaut in die reiche, herrliche Gotteswelt, wenn er liest und hört von all den wunderbaren Geschöpfen und Gebilden, die unsere Erde trägt; wenn er sieht, wie in diesem einen großen Ganzen unserer Erde alles so einheitlich geordnet ist, so daß dieselben kraftvollen, guten und heiligen Gesetze durch alle Reiche der Natur und des Geistes hindurchgehen, so daß alles zweckmäßig ineinandergreift. Und wie entzückt uns nun bei dieser großartigen Einheitlichkeit und Gesetzmäßigkeit die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, die Verschiedenheit der Entwickelung und die Freiheit der Bewegung. Wie staunen wir über den Reichtum der Formen und Farben in jeder Klasse und Familie des Tier-, Pflanzen- und Steinreiches. Und bei aller Regelmäßigkeit und Gleichartigkeit ist selbst innerhalb der kleinsten Unterabteilung dieser Reiche nicht ein Geschöpf dem anderen völlig gleich, nicht ein Baum, ja nicht ein Blatt wie das andere; jedes Ding hat seine Eigenart. Und je höher eine Klasse steht, desto feiner ausgebildet ist die Eigenart, desto größer ist die Unabhängigkeit jedes Einzelwesens in seiner Entwickelung und Gestaltung. Unser Gott ist eben ein Schöpfer, kein Fabrikant. Deshalb hat er nicht ein großes Fabriklager von Einerleiheiten, sondern eine Welt voll Individualitäten geschaffen. Und die Welt ist nicht nur voll von Individualitäten, sondern sie ist geradezu auf Bildung von Individualitäten angelegt. Denn nicht umsonst steht auf dem ersten Blatt der Bibel wieder und wieder: “ein jegliches nach seiner Art.” Gilt dies schon von Pflanzen und Tieren, so noch viel mehr in Bezug auf den Menschen.

Für jede Kreatur ist der Ort, wo sie sich befindet, mit seiner Temperatur und Bodenbeschaffenheit von größter Bedeutung. Ob wir im Süden oder im Norden aufwachsen, ob in den Bergen oder in Tälern, im Wald oder in der Heide, am Fluß und Meer, oder fern vom Verkehrsleben, auf einer Insel oder auf dem Festlande, wie viel trägt das zur Bildung unserer Individualität bei. Wie bedeutungsvoll ist die Zugehörigkeit zu irgend einem der Völker, denen Grenzen gesetzt sind, wie lange und wie weit sie wohnen sollen und deren Individualität damit gegeben ist.

Wie bildet nicht nur der Ort, sondern auch die Zeit und die Geschichte Individualitäten! Wie ganz andere Charaktere sind die Leute aus der schweren Zeit zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als die, welche ein paar Jahrzehnte nach ihnen lebten, wie ganz anders die Leute vor 1848 und die am Ende des 19. Jahrhunderts. Und wenn es von Bedeutung für die Gestaltung der Individualität eines Menschen ist, welche Stunde die Uhr der Weltgeschichte bei seiner Geburt zeigte, so trägt noch mehr die eigene Lebensgeschichte dazu bei, seiner Individualität ihr Gepräge zu geben. Ob nach Gottes Rat eines irdischen Vaters Auge unsere Erziehung überwachte, ob einer irdischen Mutter Liebe uns ein weites Stück ins Leben hinein begleitete oder nicht, welcher Art unsere Genossen und Freude waren, ob wir ein Leben voll Genuß und Freude oder eines reich an Kämpfen und Entbehrungen hatten, alle diese und noch viele andere, außerhalb unseres Wesens liegende Umstände werden unsere Eigenart nicht nur entwickeln und entfalten, sondern sie recht eigentlich gestalten.

So ist nun die Welt nicht nur voll Individualitäten, sondern sie ist auf Gestaltung von Individualitäten eingerichtet und, daß wir's nochmal ausdrücklich aussprechen, sie ist von Gott darauf eingerichtet. Weil er die Individualität ist, der “Ich bin, der ich bin”, so trägt auch jedes Wesen einen Individualitätsstempel, und am meisten dasjenige Wesen, das er als ein Bild, das ihm gleich sei, erschaffen, der Mensch!

Ist aber der Ursprung aller Individualität in Gott, so ist damit das Recht und die Würde aller Individualität auch schon gegeben und bewiesen. Sie hat damit ihren göttlichen Freiheits- und Schutzbrief auf den Weg bekommen, sie ist als die, die sie ist, zu respektieren, und es ist ihr freie Bahn zu gewähren, wohin immer sie, ihrem Wesen treu, sich wendet. Keine Instanz, als die, der sie ihr Dasein verdankt, d.h. als Gott, - niemand als Gott, der sie völlig kennt und allein völlig richtig beurteilt, kann sie endgültig richten, keine Instanz, als Gott, kann mit absolutem Anspruch auf Autorität und Gehorsam ihr in den Weg treten. Gott selbst respektiert sie und erkennt sie an in ihrer Selbständigkeit, indem er einen Bund mit ihr eingeht in ihrer Eigenart, indem er sie derselben entsprechend behandelt und ihre Entwickelung fördert. Darum sehen wir am Ende aller Entwickelungen die Verheißung, daß jeder einzelne einen neuen Namen erhält, der nur ihm und dem Herrn bekannt ist, und der eben die vollkommene Bezeichnung und Anerkennung der vollendeten Individualität ist. Diese von Gott selbst geübte Anerkennung und Berücksichtigung der Individualität in der Beurteilung und in der Behandlung, die man ihr widerfahren läßt, nennt man individualisieren.

Gott selbst hat die Welt so angelegt, daß Individualitäten entstehen, ja Gott selbst hat jedem einzelnen seine Eigenart gegeben; aus diesen Wahrheiten haben wir hergeleitet, daß jede Individualität das Recht hat, zu bestehen. Aber wir hätten das Recht der Individualität nicht völlig bestimmt, wenn wir nicht auch von den Grenzen und Schranken redeten, die der Individualität gesetzt sind. Wie ihr Recht, so ergeben sich auch ihre Schranken aus ihrem göttlichen Ursprung. Jede Individualität hat dem Gott, der sie schuf, der sie berücksichtigt, der ihr ihre Lebenskraft mitteilt, Dank und Gehorsam zu erzeigen. Sie hat den andern Individualitäten, die neben ihr und mit ihr leben, ebensogut Rücksicht zu beweisen, wie sie Rücksicht von den andern verlangt. Sie hat sich zu erinnern, daß sie nicht allein in der Welt ist und daß sie auch nicht nur für sich in der welt ist, sondern auch für die größeren Organismen, denen sie angehört, für die Familie und Gemeinde, für ihr Volk, ja für die Welt. Vor allem aber ist sie da für ihren Gott, der ihr ihre Aufgabe gegeben und ihr Ziel gesteckt hat.

Keine Individualität ist also vollkommen unabhängig Gott und den Menschen gegenüber. Will sie wahr bleiben, will sie ihren Gehalt nicht verlieren, will sie sich vielmehr zu ihrer höchsten Vollkommenheit entwickeln, so kann sie das nur in Verbindung mit Gott. Nur wenn sie ist, was sie durch Gottes Willen ist, - d.h. wenn sie wahr ist; nur wenn sie bleibt, wozu sie Gott gemacht hat, d.h. wenn sie treu ist; wenn sie in der ihr von Gott angewiesenen Sphäre bleibt, d.h. wenn sie demütig ist; wenn sie das ihr von Gott gesteckte Ziel im Auge behält, d.h. wenn sie gehorsam ist; kurz, nur in allseitiger und allzeitiger Verbindung mit Gott kommt sie zu gesunder und befriedigender, für sie und andere gesegneter Entfaltung. Wo sie sich von Gottes Wort und Geist nicht leiten läßt, verliert sie eben durch ihren Eigensinn und Eigenwillen ihre Eigenart, oder ihre Eigenart wird zur Unart; statt eines gesunden Wachstums kommt es zu Auswüchsen, ihre Freiheit wird zur Zügellosigkeit und Ungebundenheit, und aller Gebrauch ihrer gottgegebenen Fähigkeiten wird Mißbrauch und Verbrauch derselben und die Folge davon ist Hohlheit und Leere – Tod.

Ebensowenig wie die Abhängigkeit von Gott und die Rücksichtnahme auf Gott die Entfaltung unserer Individualität hemmt, ebensowenig ist der organische Zusammenhang mit anderen Individualitäten und die Rücksichtnahme auf diese anderen ein Hemmnis für die Entwicklung unserer Eigenart. Indem Gott uns für eine Welt von Individualitäten geschaffen hat, in der jede für das eine Ziel der Verherrlichung Gottes geschaffen ist, ist für jede einzelne Individualität ihre besondere Straße gesichert, so daß sie das ruhige Zutrauen haben darf, daß es allezeit einen Weg für sie gibt, den sie gehen kann, ohne daß sie sich selbst untreu wird.

Aber das Zusammengestelltsein mit anderen Individualitäten ist für die einzelne nicht nur kein Hemmnis, sondern eine wesentliche Bedingung für ihre Existenz und Entwickelung. Schon die Heiden und dann manche Stellen der Schrift weisen zum Beweis hierfür auf die einleuchtende Parallele hin, die Gott uns an die Hand gab in dem wunderbaren Gebilde des Leibes.

Wie jedes Glied des Leibes losgelöst vom Leib nicht bestehen kann, sondern nur im Zusammenhang mit dem Leib, wie das Glied aber andererseits nur unter Beibehaltung seiner Eigenart dem Leibe voll dienen kann und jede wesentliche Verkümmerung seiner Eigenart und Freiheit eine Krankheit für den ganzen Leib zur Folge hat, so bedarf in den Organismen der Menschheit und der Gemeinde Jesu der einzelne das Ganze, und das Ganze bedarf den einzelnen und zwar den einzelnen in seiner Eigenart, und dieser Eigenart muß die Möglichkeit einer gesunden Entfaltung eingeräumt werden.

Ein Blick auf die Welt- und Kirchengeschichte könnte uns zeigen, wie die Beachtung und Nichtbeachtung der Individualität von den weittragendsten Folgen für den Staat und die christlichen Gemeinden waren; ferner würde ein solcher geschichtlicher Rückblick uns zeigen, wie bei einem größeren Maße von Wahrheitsgehalt in einem Staatswesen oder Religionssystem auch der Bedeutung der Individualität größere Beachtung geschenkt wurde; drittens würden wir die Feinde eines gesunden Individualismus näher kennen lernen, den Subjektivismus und Monadismus, die den einzelnen aus dem Zusammenhang mit dem Ganzen herausnehmen und ihn entweder als absoluten Gesetzgeber über das Ganze stellen oder ihn zu einer kleinen egoistischen Einzelwelt machen, die gleichgültig und fremd den übrigen sich gegenüberstellt. Wir würden dann sehen, wie im Gefolge dieser Feinde der verallgemeinernde, verflachende und schablonisierende Sozialismus und der zersplitternde und alles vernichtende Anarchismus und Nihilismus sich einstellen.

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