Schlatter, Adolf - Der erste Brief des Johannes - Kap. 2, 7-11. Die Liebe gegen den Bruder.
Wir haben durch den Apostel ein Gebot erhalten, das unsern ganzen Lebenslauf umspannt: Jesu Gebote zu halten, sein Wort zu bewahren und auf seinen Wandel zu achten. Damit hat er aber die Gemeinde nicht überrascht und ihnen nichts Neues gesagt. Das ist das alte Gebot, welches sie von Anfang an hatten, V. 7. Als das Evangelium zum ersten mal zu ihnen kam, und Jesus ihnen bekannt machte, damals schon empfingen sie dasselbe Gebot, um deswillen Johannes jetzt aufs neue an sie schreibt. Immer ist ihnen Jesus als ihr Herr verkündigt worden, dem sie sich in redlichem Gehorsam untergeben sollen, und immer ist ihnen sein Wandel dazu erzählt worden, damit sie ihm nachfolgen. Eine andre Gnade ist ihnen nie verkündigt worden als eine heiligende. Verschiedene Apostel und Evangelisten mögen ihnen das Evangelium gebracht haben: immer hörten sie dasselbe Gebot, durch welches sie zum Gehorsam gegen Jesus berufen worden sind. An dieses alte Gebot sollen sie allen Fleiß wenden, denn dieses erhält sie bei Christus und macht Gottes Liebe in ihnen vollkommen.
Wer sich am alten Gebot träg und widerwillig verkündigt hat, bekommt Neigung, das alte gegen ein neues zu vertauschen und es mit diesem zu versuchen, als hätte ihm das alte Heilmittel nicht genügt, so dass er ein neues bedürfe. Und doch bedarf nicht die Christenregel, wie sie uns die Apostel gegeben haben und Jesus sie uns vorgelebt hat, sondern ich, der Christ, der Besserung, weil jene mir nicht helfen kann, wenn ich sie nicht halte. Schon damals wurden der Gemeinde neue Wege zu Gott, neue Mittel zur Heiligung, neue Ratschläge für ihren Christenlauf angepriesen, wobei Jesu Gebot und Wort gering geschätzt wurde. Deswegen stärkt sie Johannes zu festem Stand an dem Ort, auf den sie durch das Evangelium hingesetzt worden ist. Sie kennt Gottes Willen. Nötig ist nur das eine, dass sie an das alte Gebot einen ernsten Willen setze, es zu tun. Darum bezeugt er ihr: das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Dabei bleibt's. Johannes stellt sich damit unter Jesus, wie's dem Boten gegenüber dem, der ihn sendet, ziemt. Jesus hat sein Gebot, das er seinen Jüngern beim Abschied gab, ein neues Gebot genannt. Seine Sache war es, ihnen den Willen Gottes in neuer Weise zu zeigen, und ein neues Ziel in ihr Leben zu pflanzen und ihnen einen Beruf zu geben, den sie erst durch ihn empfingen. Aber des Apostels Sache ist es nicht, neue Gebote zu schreiben, sondern die Gemeinde zu erhalten und zu stärken im alten Gebot.
Wiederum hat auch er ihnen etwas Neues zu schreiben, und dieses Neue ist auch ein Gebot; denn es beruft sie zu einer neuen Pflicht und spannt ihre Kraft zu neuem Fleiß. Weil sie aber beim neuen Gebot mit Grund fragen, ob dasselbe auch wahr sei und keine Täuschung, da es ihnen bisher noch nicht verkündigt worden ist, darum fügt er bei: welches wahr ist in ihm und in euch. Sein neues Gebot leitet sie nicht irre, denn es hat seine Wahrheit in Christo. Er macht es gültig und richtig. Es hat sie aber auch an ihnen, denn es bewährt sich an ihrer eigenen Person und findet an ihnen selbst seine Bestätigung. Das neue Gebot lautet: dass die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Licht schon scheint.
Johannes macht es wie ein Wächter, der auf den Anbruch des Tages harrt, und wartet, bis die Dunkelheit weicht und das Licht aufgeht. Er wartet nicht vergeblich, sondern sieht, wie der Nacht das Ende naht, und das Licht seinen Schein ausgehen lässt. Und nun verkündigt er's der Gemeinde und sagt ihr die gute Botschaft an, und diese Botschaft ist ein neues Gebot. Denn wenn die Nacht weicht und das Licht anbricht, so bekommen wir damit einen neuen Beruf, eine neue Pflicht, eine neue Arbeit, eben die, im Licht zu wandeln, als am Tage, wie Paulus sagt, und hinter uns zu lassen, was der Dunkelheit zugehört. In dem neuen Gebot des Apostels liegt die selige Hoffnung, die auf die Verklärung der Welt und der Gemeinde schaut. Wie Nacht und Tag stellt es sich gegen einander, was wir jetzt sind, und was wir einst, wenn wir am Ziele stehen, geworden sind. Die Sonne, die den Tag bringt, ist Christus. Wenn er bei uns ist und wir ihn sehn und in seinem Reiche stehen und seine Herrlichkeit um uns und an uns offenbar wird, dann ist es heller, lichter Tag, und es wird uns sein, als träten wir aus einer dichten drückenden Finsternis heraus, in der man nichts sehen und fassen, sich nicht regen und bewegen, nicht wachsen und gedeihen kann.
Schon scheint das wahrhaftige Licht. Die Nacht ist noch nicht vergangen; aber sie weicht. Die Dunkelheit umfängt uns noch; aber sie zieht ab, und die ersten Strahlen des Lichts erglänzen schon. Wir sehen es, und wissen, es kommt bald, und es kommt mit der siegreichen Macht, vor der die Finsternis vollkommen verschwinden muss. Christus ist ja, ob er uns auch noch nicht offenbar ist und noch nicht in seiner königlichen Macht regiert, dennoch nicht müßig und unwirksam. Sein Wort strahlt uns zu, seine Gnade fasst und erquickt uns inwendig, seine Verheißung ist bei uns und verspricht uns, dass er den Sieg behalten wird. Das sind die Strahlen, die jetzt schon vom wahrhaftigen Lichte her uns erreichen. Darum ist es nicht mehr völlig bei uns Nacht. Darum darf die Gemeinde nicht kleinmütig und verzagt werden. Es mag ihr scheinen, es sei noch dunkel in der Welt, dunkel auch im eignen Herzen mit seiner vielfältigen Not. Gewiss, Finsternis hält uns umfangen, aber sie muss weichen. Es ist nicht die ewige Nacht, an deren Schwelle wir stehen, sondern ein heller Tag, dessen erste Strahlen wir schon sehn.
Das gibt den neuen Fleiß und frischen Mut für Jesu Gebot, und es kommt zum alten Gebot ein neues hinzu, dass uns der Tag bereit finde und das Licht wach, dass wir Christo mit fröhlichem Herzen entgegengehen und uns für seine Gegenwart bereit halten, bereit auch, der Finsternis zu widerstehen, wenn sie ihren letzten Kampf um ihre Herrschaft wagt. Nun verstehen wir's auch, warum Johannes auf Christum hinzeigte, als auf den, in welchem das neue Gebot seine Wahrheit hat. Er macht, dass das wahrhaftige Licht scheint. Er allein überwindet die Finsternis und bringt den Tag. Aber auch in der Gemeinde ist das neue Gebot Wahrheit; denn sie erlebt es an sich selbst, dass das Licht schon scheint und die Dunkelheit vertreibt.
Zuerst sah Johannes auf den Anfang der Gemeinde zurück; dort steht das alte Gebot, durch welches sie gegründet ist: Jesu Wort, als ihr Fundament von Anfang an, und die Erinnerung an seinen Wandel, an welcher sie ihren Leitstern hat. Aber sein Blick ist auch vorwärts gerichtet auf das, was kommen wird, dem kommenden Licht entgegen, und daraus schöpft er für das Christenleben einen neuen Antrieb, vertieften Ernst und verstärkte Freudigkeit.
Er lässt uns darüber nicht im Zweifel, worauf sich unser Eifer und Ernst zu richten hat, den wir aus dem Vorblick auf Christi Tag ziehen. Er sagt uns, wie wir uns zu demselben bereiten. Gott hat uns unter viele Brüder gestellt, mit dem Auftrag, dass wir sie lieben. Das ist unser Lebenszweck, das von Christus uns aufgetragene Werk in der Welt, bei dem jeder Eifer und Ernst Raum hat zu kräftiger Regsamkeit und unermüdlicher Tat. Wer aber sagt, er sei im Licht und feinen Bruder hasst, ist immer noch in der Finsternis, V. 9. Immer noch, trotzdem das wahrhaftige Licht schon scheint, und Christus die Nacht vertreibt, und obgleich er sich mit einer Art Glaube daran freut, und sich des seligen Lichtes teilhaft dünkt. Das ist Täuschung, falscher Glaube und Unwahrheit, so lange er noch seinen Bruder hasst.
Den Bruder, sagt Johannes, und leitet dadurch unsern Blick nicht ins weite, sondern bestimmt und klar auf die einzelnen Leute hin, mit denen wir zusammenleben, ob hier einer darunter sei, dem wir übles wünschen, böses gönnen und bereiten, den wir tot haben möchten, weil sein Schaden und Verderben unsre Lust wäre. Ob auch er uns hasst, quält und Unrecht tut, das lässt Johannes ganz aus dem Spiel. Tut er's, so gilt auch ihm das Wort, dass er im Finstern sei. Aber er heißt uns nicht an die andern denken, sondern an uns selbst, ob unser Herz noch hassen kann, ob wir noch als die Verderber und Schädiger der andern handeln, und in unserm Sinn noch auf Kränkung und Übeltat gerichtet sind.
Nur im Finstern kann man hassen, nur dann, wenn man Gott vergessen und verleugnet hat, Christus verachtet, sein Wort verworfen und seinen Wandel sich aus dem Sinn geschlagen hat, nur dann, wenn unser Auge nichts sieht als uns selbst, unsre Ehre und unsre Lust, die andern aber für nichts achtet, nur dann, wenn wir auch für uns selbst völlig verwirrt sind über das, was uns dient und beseligt und erhebt, und unsre Lust in dem suchen, was uns verdirbt, und unsre Ehre in dem, was uns schändet, und unser Leben in dem, was uns um dasselbe bringt. Der aber, dem alles verschwunden ist, Gott und Christus, und die Freude und das Leben, und nichts blieb als er selbst mit seiner auf Schaden und Tod gerichteten Gier, der steht doch wahrhaftig in der Finsternis, und dann erst recht, wenn er zugleich noch sagt: er sei im Licht.
Johannes gibt uns auch hier wieder zu bedenken, dass unsre Sünde doppelt bösartig ist, wenn wir sie mit dem Evangelium zusammen haben, und die Kenntnis Christi sie uns nicht nimmt. So haben wir sie ganz besonders fest mit uns verschmolzen und das Heilmittel, das uns gegen sie gegeben ist, unwirksam gemacht.
Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, V. 10. Nicht aus unsrer Liebe entsteht das Licht. Es kommt von oben, geht uns von Gott her auf, ist in Christo zu uns gekommen und erreicht uns durchs Evangelium; aber wir bleiben in demselben dadurch, dass wir nicht hassen, sondern lieben.
So einfach ist Gottes Weg. Was sollen wir tun? Die Leute lieb haben, uns freuen, wenn es ihnen wohl geht, und unsre Kraft und Arbeit dazu brauchen, damit Schaden und Unheil ihnen erspart, Gabe und Leben ihnen bereitet sei. Das erhält uns im Licht. Denn hiernach strebt Gottes Rat und Tat; dazu ist uns Christus gegeben und dazu sind wir durch ihn erlöst, damit wir einander durch Dienst und Gabe helfen, wozu uns die Liebe das Auge und die Willigkeit verleiht. Und zwar bedürfen nicht nur die andern unsrer Liebe; wir selbst gehen zu Grund und sterben elend ohne sie. Wir bleiben im Licht nur dadurch, dass wir durch Gott lernen, was Liebe ist.
Das alles haben wir auch schon bei Jakobus gelesen, dass Gottes Wort und Werk uns zur Liebe beruft und bereitet, dass sie uns zum Leben hilft und die Verheißung hat, dass wir sie unsrer selbst wegen nötig haben, weil wir ohne sie verderben. Wer in der Liebe gegen den Bruder bleibt, der bleibt im Licht; hier hat auch Johannes dem Werk die Verheißung gegeben, denn die Liebe ist nicht ohne die Hilfe und Gabe für die andern und setzt uns in die Tat. Ganz wie Jakobus hat er Glaube und Werk, Gottes Gnade, die unsern Glauben erhört, und Gottes Gnade, die uns durch unser Werk errettet und beseligt, in eine völlige innige Eintracht gesetzt. Und ein Ärgernis gibt es in ihm nicht. Die Apostel heißen das, woran man zu Fall kommt, Ärgernis. Wenn wir einander ins Böse stoßen und auf falsche Wege verlocken, so bleiben auch wir selbst nicht aufrecht. Ihr Fall wird vollends für uns zum Fall. Darum ist es zuerst für mich ein Unglück und Verderben, wenn in mir ein Ärgernis ist. Deswegen heißt uns Johannes den Bruder lieb haben. Denn durch die Liebe werde ich dem andern zum Führer und Helfer, und nicht zum Verführer und Verderber. Darum bewahrt sie mich vor dem Fall.
Wen aber der Hass treibt, der hat sich inwendig vom Licht abgesperrt. Und doch kann er sich bei den starken Trieben, die ihn bewegen, nicht stille halten, sondern fährt los auf sein Ziel. Er wandelt aber im Finstern und weiß nicht, wo er hingeht. Denn er sieht nicht, was er anrichtet und was er sich selbst bereitet, wie töricht alle seine Rechnungen sind. Und doch hat er Augen. Gott hat auch ihn zum Sehen geschaffen, hat auch ihn befähigt, das Gute zu schätzen und nicht das Böse, die Freude zu suchen und nicht den Schmerz, das Leben zu lieben und nicht den Tod. Aber er hat seine Augen umsonst. Denn die Finsternis hat sie ihm blind gemacht, V. 11.