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Schlatter, Adolf - Psalter

Schlatter, Adolf - Psalter

Psalm 1

Wohl dem, der Lust hat zum Gesetz des Herrn und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das gerät wohl.
Psalm 1,2+3

Der immer grüne Fruchtbaum im reich bewässerten Boden, das ist ein herrliches Gleichnis für ein gelingendes Leben, ein Baum, der auch im Sturme steht, nicht ein zitterndes Gras oder schwankender Halm, ein immergrüner Baum, nicht ein winterlich kahl gewordener, weil sein Saft vertrocknet und sein Leben stockt, ein fruchtbringender Baum, der nicht nur sich selbst das Wachstum verschafft, damit er mit hochgehobenem Wipfel im Schmuck seiner Blätter prange, sondern der in das Ganze der Natur hineingestellt ist, andere nährend, wie er selber genährt wird, und gebend, wie er selber empfängt. Schwerlich kann man unser menschliches Los schöner darstellen. Wem gilt dieses Gleichnis? Dem, der am Gesetz des Herrn seine Lust hat und es sich ohne Unterbrechung vorsagt, sei es Tag oder Nacht. Wie könnte mein Leben gedeihen, wenn es von Gottes Willen geschieden wäre und wie könnte ich seinen Willen erfahren anders als durch sein Gesetz? Ich weiß, dass an Gottes Gesetz mein Fall und meine Schuld entsteht. Weil Gottes Gesetz zu uns spricht, sind wir Sünder. In meinem Unheil wird aber die Heilsamkeit des Gesetzes offenbar und mir gezeigt, dass ich nur in der Erfüllung des göttlichen Willens mein Heil finden kann. Nur im Gehorsam gegen Gottes Gebot hat mein Werk Wurzeln, die ihm Kraft zuleiten, und nur so bringt es Frucht hervor, die den anderen dienen kann. Darin ist Gottes Gnade offenbar und wirksam bei uns, dass er sein Gebot mit lebendiger Schrift in unseren Willen schreibt und ihn seinem Willen gehorsam macht.
Ich habe Lust, Herr, zu Deinem Gebot. Fülle es mit Kraft, dass es nicht ein Buchstabe für mich bleibe, sondern mich mit schaffender Kraft in Deinen Gehorsam leite. Ich strecke mich nach Deiner Verheißung, die mir Bestand, Gedeihen und Fruchtbarkeit verheißt. Ich darf und will sie von Deinem Gebot nicht trennen. Darum ist mein Gebot: schreibe mir Dein Gebot in mein Innerstes; dann wird aus Deinem Gebot mein Werk nach Deinem Willen. Amen.

Psalm 2

Warum toben die Heiden und die Leute reden so vergeblich? Die Könige im Lande lehnen sich auf und die Herren ratschlagen miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten: Lasst uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile. Aber ich habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berg Zion.
Psalm 2,1–3,6

Schritt um Schritt wurde Gottes Werk sichtbarer. Zuerst gab es ein heiliges Volk, ein Volk, dessen Schöpfer und Beherrscher Gott war. Damals aber hatte das Volk noch kein Land. Dann gab es ein heiliges Land, ein Stück Erde, das dem heiligen Volk zur Heimat ward als von Gott ihm gegeben. Im heiligen Land gab es aber noch keine heilige Stadt und kein heiliges Haus. Das entstand nun dadurch, dass das Volk ein Haupt bekommt, einen König, durch den die Einheit des Volkes ihren gesicherten Bestand erhält. Daher gibt es nun in der heiligen Stadt auch einen Tempel, der dem Volk Gottes Verbundenheit mit ihm sichtbar macht. Und nun tritt das Letzte in das Sehfeld Israels hinein, der kommende König, dem Gott über sein Volk die Herrschaft gibt, der Gesalbte, der in der Sendung Gottes regiert. Von David aus erhebt sich der Blick zu diesem letzten Ziel. Darum ist der Verheißene der Davidssohn. Damit aber wird gleichzeitig deutlich, dass daraus in der Völkerwelt Aufruhr entsteht. Nun wird Jerusalem zur umstrittenen Stadt. Denn sein König hat alle Machthaber der Menschheit gegen sich. Denn ihr Machtwille bäumt sich gegen den auf, der die Herrschaft aus Gottes Hand empfängt, und weigert sich, ihm zu dienen. Aber über dem kommenden König und seiner Stadt steht die Verheißung, die jede Furcht vertreibt: Du bist mein Sohn. Nun mag der Weltkampf toben; Gottes Stadt bleibt im Frieden. Das waren schaffende Worte, die das Kommende nicht nur beschreiben, sondern hervorbringen. Sie stehen über der Geschichte Jesu und seinem Gang ans Kreuz als ihn führendes Licht und behalten für jede Zeit eine nie endende Wirksamkeit, die sich auch in meinem Leben bewähren soll. Dieses Wort stellt mich in den Kampf, der an jeder Arbeit haftet, die um Gottes willen im Dienst Jesu geschieht, und nimmt jede Furcht von ihm weg, verschließt das Ohr für den Lärm der Welt und bereitet Ruhe über alle aus, die im Gehorsam gegen Jesus handeln.
Es gibt Hemmungen, die ich nicht wegheben kann, Türen, die verschlossen sind, Schatten, die nicht weichen. Aber über all dem, Herr Jesus, strahlt Deine Sohnschaft, Deine Dir vom Vater gegebene Königsmacht, durch die wir Dein eigen und zu Deinem Erbe gemacht sind. Behüte die Deinen, stütze die Strauchelnden, verbinde die Entzweiten, gib uns zur Bauarbeit an Gottes Stadt den klaren Blick, die arbeitssame Hand, den gehorsamen Willen. Amen.

Psalm 8

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitest, was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Psalm 8,4+5

Wir staunen über den Himmel. Was umfassen diese Unendlichkeiten? Was sind alle diese leuchtenden Welten? Was ist das Ziel dieser gewaltigen Bewegung, die sie hindurch durch den Weltenraum trägt? Auch der Psalmist staunt über die Himmel und den Mond und die Sterne, und wir staunen umso mehr, je mehr wir vom Himmel wissen. Aber der Psalmist sieht mit staunender Bewunderung auch auf den Menschen und auch dieser Grund zum Erstaunen wird niemals entkräftet. Was dünkt ihn am Menschen wunderbar? Gott denkt an ihn, Gott kümmert sich um ihn, Gott sucht ihn mit seiner Gnade heim. Wenden wir vom weiten Weltenraum den Blick zum Menschen hinüber, so sieht es aus, als sei er nichts. Seine Maße verschwinden neben dem, was uns die Himmel zeigen, auch das Maß seiner Lebenszeit. Neben der langgedehnten Zeit der Himmelskörper ist er ein kurzlebiges Wesen, das nur für einen Augenblick besteht, und auch sein geistiger Besitz reicht bei weitem nicht aus, um das Weltall zu erfassen. Allein nicht das bringt den Psalmisten ins Staunen, dass der Mensch so klein ist. Er erdichtet sich nicht ein anderes Menschenwesen, als er hat. Nun aber geschieht das Erstaunliche: Gott sieht auf ihn, ist für ihn gegenwärtig und hat ihn lieb. Dass sich der Schöpfer des Himmels mit dem Menschen beschäftigt, das ist das erstaunliche Wunder. Soll ich aus dem Staunen den Zweifel machen und sagen: ich mag nicht staunen, sondern will begreifen und lösche, was ich nicht begreifen kann, aus meinem Sehfeld aus? Wer sich dem widersetzt, was sich ihm wirklich zeigt, zerbricht die Grundlagen seines Lebens. Ich weiß, dass Gott an mich denkt; denn ich denke an ihn. Ich könnte nicht an ihn denken, dächte er nicht an mich. Man kann Gott nicht kennen, wenn man nicht von ihm gekannt ist. Ich weiß auch, dass mich Gott mit seiner Gnade heimsucht. Nähme ich es nicht in meinem eigenen Leben wahr, so sehe ich es an Jesus. Daraus entsteht freilich das tiefe Staunen und die Frage: was ist der Mensch? Bekommt einen mächtigen Klang, aber auch die deutliche, voll zureichende Antwort. Was ist der Mensch? Das, was Gottes Gnade aus ihm macht.
Vor Dich trete, Vater, alles, was Fleisch ist, und bete Dich an, Dich allein und keine andere Macht im Himmel und auf Erden. Dich soll jeder, der Mensch ist, anbeten, weil Du an ihm das Wunder tust, das Gott mit dem Menschen vereint. Dich soll jeder anbeten, dem Jesus begegnet ist, der das Wunder vollbrachte, das Gott mit dem Menschen versöhnt. Amen.

Psalm 15

Herr, wer wird wohnen in deiner heiligen Hütte? Wer wird bleiben auf deinem heiligen Berg? Wer ohne Wandel einhergeht und recht tut und redet die Wahrheit von Herzen.
Psalm 15,1+2

Weil es ein Heiligtum bei uns Menschen gibt, müssen wir uns besinnen: Wer hat dort Zutritt? Was gibt mir das Recht, dass ich dorthin gehen kann? So war es in Israel, als das Zelt Gottes bei ihm war. Wer in das Zelt hineingelassen wird, ist verborgen; das Gastrecht schützt ihn und gewährt ihm Anteil am Tisch des Gastfreundes. Als an die Stelle der „Hütte“ der „heilige Berg“ trat mit dem von seinen Mauern umgebenen Gotteshaus, stellte es vor alle Glieder der Gemeinde die Frage: Für wen öffnen sich die Tore? Für wen gibt es eine Stätte an dem für Gott geheiligten Ort? Hätten wir bei uns kein Heiligtum mehr, so wäre diese Frage für uns erledigt. Aber der alte Tempel ist nicht dazu abgebrochen worden, dass es keinen Tempel mehr gebe. Brecht den Tempel ab, sagte Jesus; ich werde ihn neu bauen. Er ist unser Tempel, weil wir bei ihm in Gottes Gegenwart stehen. Darum ist die Frage des Psalms auch unsere Frage, und je herrlicher das Heiligtum und je größer die Gnade ist, die wir dort finden, desto tiefer bewegt uns die Frage: Wer darf auf deinem heiligen Berg bleiben? Und umso seliger ist die Antwort, die uns sagt, dass es einen Zugang zum Heiligtum gibt und eine ebene Bahn uns dorthin führt, die für alle gangbar ist. Wandle redlich, sagt der Psalmist; tue, was gerecht ist, und rede die Wahrheit, indem dein Wort das sagt, was in deinem Herzen ist. Verstellung, Unrecht und Lüge machen dich unwürdig zum Eintritt in das Heiligtum; denn du findest dort den, der die Gerechtigkeit lieb hat und die Wahrheit beschirmt. Ruft nicht Jesus die Sünder? O ja; so war es auch im alten Heiligtum, wo das Feuer des Altars auch für die brannte, die sich versündigt hatten, und ihr Opfer empfing, damit ihnen die Vergebung gewährt werde. Ebenso ist uns Christus dazu gegeben, damit wir die Vergebung empfangen. Die Vergebung macht aber dem Unrechttun ein Ende und führt aus dem Schein und der Lüge heraus in die Wahrheit hinein. An die Redlichkeit unseres Willens ist das Bleiben auf Gottes heiligem Berg gebunden. Wem dieser Wille Gottes nicht gefällt, für den gibt es kein Heiligtum.
Zu Dir rufst Du uns, herrlicher und heiliger Gott, und bereitest uns ein Heiligtum, in dem wir bei Dir sind. Mache Deinen Ruf in uns kräftig, dass er unredliches Wesen und lügenden Schein von uns treibe, damit wir im hochzeitlichen Kleid als Deine festliche Schar in Lauterkeit und Wahrheit Dir dienen. Amen.

Paslm 19

Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.
Psalm 19,2

Gottes Gnade gibt sich uns dadurch, dass er uns sein Wort schenkt. Indem er zu uns spricht, stellt er uns in seine gnädige Gegenwart. Uns das Wort zu bringen, das ist Jesu Gabe, nicht das Werk der Natur. Das ergibt den Unterschied zwischen derjenigen Güte, die uns die Natur zuträgt, und der Gnade Gottes, die wir von Jesus empfangen. Diejenige Güte, an der uns die Natur Anteil gibt, füllt unser Auge, wendet sich aber noch nicht an unser Ohr. Gottes Kraft wird uns hier sichtbar gemacht, aber noch nicht Gottes Wille gesagt. Wir erhalten daher von der Natur, weil sie stumm bleibt, noch nicht die Antwort auf das, was in uns selbst als Frage im Blick auf Gott entsteht und oft genug uns mit drängender Gewalt erschüttert. Ist unsere Seele unruhig geworden, weil die Frage in ihr erwachte, wie Gott sich zu uns selbst verhalte, zu unserem eigenen Leben mit der uns gegebenen Pflicht und der uns bedrängenden Schuld, so können wir die Hilfe nicht bei der Natur suchen, sondern müssen zu Jesus kommen, damit er uns das Wort sage, in dem uns Gottes Gnade besucht. Dennoch spricht der Psalmist mit gutem Grund von der Botschaft, die die Himmel an uns ausrichten, und beschreibt das, was sie uns geben, als eine Verkündigung der göttlichen Herrlichkeit. Denn aus dem Anblick dessen, was uns die Himmel zeigen, entstehen Worte, die das benennen, beschreiben und deuten, was uns dort sichtbar ist, und diese uns gegebenen Worte, die das aussprechen, was wir schauen, lauten: „Herrlichkeit und Ehre“, nicht nur Herrlichkeit der Sterne oder wirkliche Macht der Sonne oder Unendlichkeit der Weltenräume und Wunderbarkeit der Natur, sondern nur dann sprechen wir richtig aus, was unseren Augen gezeigt ist, wenn wir sagen: Gottes Herrlichkeit und Ehre, wirkende Macht seiner Hand, und wir wissen, dass wir, wenn wir das Zeugnis der Natur so deuten, nichts selber erfinden, nicht dichten und träumen, sondern vernommen haben, was die Himmel erzählen, und nur wiederholen, was uns die Natur selber sagt. Entsteht aus dem Zeugnis von Gott, das die Natur uns bringt, unser Gott anbetendes Wort, dann leitet uns die Natur zu Jesus hin, zudem, in dem Gott nicht schweigt, sondern spricht und uns nicht nur das Werk seiner Hände zeigt, sondern uns seinen gnädigen Willen offenbart, der uns die Gemeinschaft seines Geistes schenkt.
Danksagung und Anbetung, Vater, darf ich aus allem empfangen, was die Natur mir zeigt und gibt, wenn ich ihre Rede vernehme, die mir von Dir erzählt, bin ich davor behütet, dass ich in die Natur versinke und nur noch sehe und begehre, was sie mir gibt. Was mir die Himmel nicht kundtun, sagst Du mir, Herr Jesus Christ, in Deinem Kreuzesbild und in Deiner Ostergröße. Nun vernehme ich auch in der Rede der Himmel das seligmachende Wort, das Dich mir offenbart. Amen.

Das Gesetz des Herrn erquickt die Seele. Die Gebote des Herrn erfreuen das Herz.
Psalm 19,8+9

Aus Gottes Hand kommt nichts, was uns quält und lähmt. Spricht sein Gesetz zu mir, dann will ich es mit frohem Jubel begrüßen. Gottes Willen kennen, – ich wäre ja ein gottloser Narr, wenn ich Ihm dafür nicht mit ganzer Seele dankte. Gottes Willen tun, – ich müsste meine eigensüchtige Begehrung zu meinem Willen machen, wenn ich das eine Last hieße, die mich bedrückt. Oder habe ich mich jetzt von Paulus getrennt und seine Warnung vergessen, die mir nicht zulässt, dass ich mich auf das Gesetz stütze und im Gesetz meinen Heiland suche, der mich in Gottes Wohlgefallen bringen soll? Die Übertretung, sagt mir Paulus, entsteht am Gesetz, und ich weiß, dass es so ist. Aber die Sünde entsteht deshalb am Gesetz, weil es Gottes gute Gabe ist. Weil das Gesetz heilig ist und das Gebot heilig und gerecht und gütig ist, darum ist mein Widerspruch gegen das Gebot Schuld. Versündigung entsteht aber nicht nur am Gesetz, sondern an jeder Gabe Gottes, an den natürlichen wie an den geistlichen. Weil Gott mir meinen Leib gegeben hat, kann ich ihn missbrauchen. Weil er mir die Lebensmittel reicht, kann ich mich an meinen Besitz verkaufen. Weil mir die Vergebung geschenkt ist, kann ich Gottes Gnade zuchtlos verderben. Weil wir das Evangelium haben, kann ich aus ihm einen eigensüchtigen Ruhm und boshaften Zank machen. Sind deshalb Gottes Gaben nicht die Erquickung meiner Seele und die Freude meines Herzens? Wie ich das Evangelium nicht schelten darf, weil ich mich an ihm versündige, so darf ich Gottes Gesetz nicht missachten, weil ich ihm widerstrebe. Mich habe ich zu schelten, nicht das Gesetz, mich zu hassen, nicht meine Pflicht. Das tiefe, mich reinigende Leid, das das Gesetz mir bringt, wird mir gerade dann zuteil werden, wenn ich mich auch an ihm freuen kann und es im tiefsten Inneren verspüre: Dein Gesetz erquickt die Seele.
Schmerzen und Bitterkeit entstehen, wenn ich auf mich selber sehe. Erquickung und Freude entspringen an dem, was Du uns gibst. In Deinem Gebot, Herr, Gott, das uns kundtut, wie wir Dir gehorchen, leuchtet Deine göttlich große Gnade. Ich bitte Dich, mache es in mir zum Gesetz des Geistes, das mich mit Kraft dir folgsam macht. Amen.

Psalm 22

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Psalm 22,2.

Auch die Verlassenheit von Gott wird zur Offenbarung Gottes. Darin zeigt er uns seine Herrlichkeit und vollendet seine Gemeinschaft mituns. Der Psalmist macht uns die Verlassenheit von Gott in ihrer ganzen grauenvollen Tiefe erkennbar. Er läßt keiner Hoffnung mehr Raum. Ueber jene Zustände, in der ein Mensch fürchtet, Gott könnte ihn verlassen, und deshalb bittet: verlaß mich nicht, ist der Psalm gänzlich hinausgehoben. Es ist zur unzweifelhaften Tatsache geworden, daß Gott seine Hand abzog, seine Hilfe versagte und seine Gegenwart wegnahm. Damit, daß Gott ihn verlassen hat, ist ihm der Boden unter den Füßen verschwunden und alle Bedingungen des Lebens sind zerschnitten. Es gibt keine Hand mehr, die helfen könnte. Von Seiten der Menschen ist nichts zu erwarten, nicht als der Spott über den, den Gott preisgegeben hat. Und nun tritt das Wunder ein: in der Verlassenheit von Gott vollendet sich Gottes Gemeinschaft mit ihm, auf Gottes Seite, weil er die Verlassenheit in die Erhöhung verwandelt, die den von ihm Verlassenen verklärt, auf der Seite des Beters, weil er, obgleich er von Gott verlassen ist, zu ihm ruft. Sein Blick geht unverwandt zu dem, der sich verborgen hat, und sein Herz kann sich von dem nicht lösen, der heilig ist, dem die Väter trauten und von dem sie die Hilfe empfingen, weil sie ihm trauten, der einst auch sein Gott gewesen ist und es auch jetzt noch ist. Denn es gibt keinen Gott als ihn allein, der ihn jetzt verlassen hat. Warum ist das Gottes Weise? Ist es die Weise des Zornes? Nein. Der Heilige wird hier offenbar, nicht der Zürnende, der Leben Gebende, nicht der Verderbende. Wer ehrt ihn aber, der, der ihn in der Fülle seine Gaben preist, oder der, der in der Verlassenheit zu ihm ruft? „Gott um Gottes willen“, das steht über jedem Verkehr Gottes mit uns und über allem, was uns in die Gemeinschaft mit ihm einführt. Er gibt sie mir nicht um meinetwillen, damit ich geborgen und selig sei, sondern um seinetwillen, damit er in voller Wahrheit allein der sei, den wir ehren. Wie schwer wird es uns aber, auch aus unserem Christenstand die eigensüchtige Verderbnis auszutreiben! Deshalb gehört die Gottverlassenheit zur Offenbarung Gottes und darum steht dieser Psalm in der Schrift, und er stand nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Seele Jesu, als er das Kreuz ergriff.
Reinige mich, damit ich wirklich dir glaube. Gepriesen bist du, Lamm Gottes, das auf das Feuer des Altars gelegt wurde, weil es Gottes Eigentum war. Du bist der Versöhner auch für unser mit Eigensucht beflecktes Christentum. Amen.

Psalm 23

Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln.
Psalm 23,1

Mangelt mir nichts? Ich trage heiße Wünsche in mir und nicht nur solche, die auf meinen eigenen Zustand zielen. Wenn ich auf die Lage unseres Volkes und unserer Christenheit sehe, dann drängen sich die Wünsche in Scharen und mit Gewalt ans Licht. Wäre der Spruch: „Mir mangelt nichts“ das Wort des Satten, der sich sein Glück selber bereitet und dabei bis dahin gelange, dass ihm nichts mehr fehlt, so wäre es die summe der Gottlosigkeit. Warum mangelt mir nichts? Weil der Herr mein Hirt ist. Das ist ein ganz anderes Wort als das jenes Bauern, den eine reiche Ernte beglückte, weshalb ihn Jesus sagen lässt: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre. Habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut.“ Zu solchem Glück gehört mit unfehlbarer Gerechtigkeit der Spruch: Gib deine Seele her; fehlt dir nichts, dann stirb; die Satten machen Platz; dich hat dein Glück zu den Toten gebracht; denn du hast dein Gutes empfangen. Wenn aber der Herr mein Hirte ist, soll ich sagen: Du versorgst mich kärglich; die Aue, auf die du mich führst, ist dürr; du lässest mich dürsten, machst mich todmüde, und wenn ich im Dunkeln wandle, höre ich nichts von dir und du bist nicht bei mir? Soll ich den Hirten beschuldigen? Nein, weil der Herr mein Hirte ist, darum ist das, was mir gegeben ist, völlig das, was ich bedarf. Von oben kommen keine anderen als gute und vollkommene Gaben herab. Ergibt das Selbstbetrug, die Einbildung, die schwarz weiß und Bitteres süß nennt? Das ist Glaube und der Glaube ist das volle Gegenteil des Selbstbetrugs. Der Hirte hat mich an meinen Platz gestellt unter die Hemmungen, die mich drücken, und in die Bitterkeiten, die mich stechen, und deshalb, weil der Herr mein Hirte ist und mich an diesen Ort gestellt hat, darum ist es für mich der rechte Ort und es fehlt mir nichts, wenn ich an meinen Sünden leide, denn er setzt zu meiner Sünde sein Vergeben hinzu, und es mangelt mir nichts, wenn er mich in die Stille setzt und mein Wirken auf unüberwindliche Schranken stößt, weil er nicht mein erfolgreiches Werk zu meiner Gerechtigkeit macht, und es fehlt mir nichts, wenn mein Leben kurz bleibt und rasch zerbricht, weil er mein Leben ist. Der Psalm spricht so, wie der Glaube spricht. Wenn der Psalm uns unerreichbar scheint, so rührt dies daher, dass uns der Glaube unerreichbar ist.
Meine Wünsche sind nicht weise. Du, Herr, bist weise. Meine Maßstäbe taugen nichts. Deine Straße ist die gerade. Ich will mir von Deinem Wort sagen lassen, wie der Glaube von Dir spricht. Vergib mir und der ganzen Christenheit unser Klagen. Amen.

Psalm 25

Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend.
Psalm 25,7

Die Sünden der Jugendzeit, die ersten Erfahrungen des Zwiespalts zwischen unserer Neigung und unserer Pflicht, zwischen der Begehrung und dem göttlichen Gebot, bringen dem Gewissen tiefe Wunden bei. Auch Paulus hat von der Stunde, in der das Gebot seinen Wünschen entgegentrat und er sein Begehren gegen das Gebot festhielt, gesagt, dass er damals gestorben sei, weil damals die Sünde lebendig wurde und es unmöglich ist, dass der Mensch und die Sünde zusammenleben. Später stumpft die Gewöhnung unser Empfinden ab und wir lernen es nur zu gut, das Sündigenmüssen als die unabwendbare Notwendigkeit zu ertragen, in die wir uns zu fügen haben. Die peinliche Not, die die jugendlichen Sünden uns bereiten, hat deshalb starken Grund, weil sie mit folgenreicher Macht den Gang unseres Lebens bestimmen. Diese Zusammenhänge treten bei der rückwärts blickenden Betrachtung unseres Lebens deutlich hervor und nötigen uns immer wieder auch im gereiften Leben zu der Bitte, die für die Sünden der Jugend die Vergebung erfleht. Wenn unsere ganze Geschichte durch sie bestimmt wird, machen sie es uns schwer, an die Vergebung zu glauben. Wie ein Widerspruch stellt es sich uns dar, Vergebung und fortwirkende Macht der Verfehlung. Besteht nicht die Vergebung darin, dass die Folgen des Sündigens getilgt werden und unserem Fall die Macht genommen wird, uns zu verderben? Und doch gibt es manchen, der zeitlebens unter seinen jugendlichen Sünden leiden muss. In der Tat beendet Gottes Vergebung die uns verderbende Macht des Bösen und seine Gnade wandelt unseren Fall in Segen. Dazu benützt seine Gnade aber auch das Leid, das wir uns mit unserem Sündigen bereiten. An ihm zeigt sie uns die Verwerflichkeit unseres verkehrten Handelns und bringt uns dazu, dass wir mit Ernst nach Gott verlangen. Dabei darf uns die Erwägung den Mut stärken, dass sich im jugendlichen Handeln Unwissenheit und Sünde innig durchdringen. Der jugendliche Sünder versteht sich selber nicht; sein Bewusstsein ist noch nicht so hell, dass er es erfasste, was geschieht. Darum dürfen wir in der Erinnerung an das, was in unserer Jugend geschah, an das Wort Jesu denken: „Vergib ihnen; sie wissen nicht, was sie tun.“ Weil sich der Psalmist aber mit redlichem Herzen vor Gott stellt, lehnt er es ab, sich damit zu entschuldigen, dass er damals noch jung gewesen sei. War ihm damals noch verhüllt, was er tat, jetzt weiß er, dass es Sünde war, und er weiß auch, dass es auch für jene Sünden keine andere Heilung gibt als die, die uns Gott dadurch gewährt, dass er uns gnädig verzeiht.
Vor Dir, Herr, Gott, will ich nichts verbergen, nichts entschuldigen. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so bist Du treu und gerecht, dass Du sie uns vergibst. Muss ich unter ihren Folgen leiden, so erkenne ich auch darin Deine Gnade; so ziehst Du mich zu Dir. Amen.

Psalm 29

Bringt her dem Herrn, ihr Gewaltigen, bringt her dem Herrn Ehre und Stärke. Bringt dem Herrn Ehre seines Namens, betet an den Herrn im heiligen Schmuck. Die Stimme des Herrn geht auf den Wasser, der Gott der Ehren donnert.
Psalm 29,1-3

Das Wetter fährt daher und der Psalmist gibt ihm die denkbar größte Stärke. Sturm und Blitz zersplittern die Zedern. Der Felsblock stürzt ins Tal. Das Laub wird von den Bäumen gerissen und die Gazelle erschrickt, wenn der Donner über ihr kracht, so, daß sie ihr Junges von sich wirft. Aber über dem Bereich, in dem das Wetter tobt, steht ein höherer Raum, in dem sich die Himmlischen befinden. Sie wenden ihren Blick nicht von der Erde weg, über die der Sturm dahinfährt; denn es ist Gottes Stimme, die durch das Land hin schallt, und ihr Ruf schafft das Ungewitter. Deshalb sind die Himmlischen seine Zeugen. Sie werden aber von ihm nicht geängstigt, sondern begleiten den Sturm mit ihrer Anbetung und preisen Gottes Stärke und Ruhm. Und Israel? Der Libanon schwankt und die Wüste Kades gerät in wirbelnde Erregung; aber die Mauern Jerusalems fallen nicht. Die Gazelle erschrickt und gebiert, nicht die Töchter Zions. Auch wenn Gottes Sturm über das Land dahinfegt, gibt er seinem Volk Kraft und setzt es in seinen Frieden. Das ist die Unterweisung des Geistes dann, wenn Gottes Gewitter über die Erde ziehen. Es gibt keine Entfaltung seiner Macht, auch wenn er den Pharao verhärtet und in das Meer stürzt und Jerusalem verfinstert, daß es für Jesus das Kreuz errichtet, aus der nicht die Anbetung der Himmlischen entstünde und bei der nicht seine Hand sein Volk deckte und schirmte. Es weiß ja, wem die Stimme gehört, die so mächtig ruft. Was dieser Psalm ausspricht, hat die Weissagung des Johannes im Blick auf den kommenden Sturm, der durch die Völker fahren wird, mit verstärkter Deutlichkeit gesagt.
Mein Auge sieht nicht alles, großer Herr und Gott, was du als deine Welt aufgebaut hast. Die Anbetung der Himmlischen vernehmen wir nicht und sehen nicht hinein in die Stätte deiner Herrlichkeit. Ueber unseren irdischen Boden fahren die Stürme dahin, die die menschliche Größe beugen und die Furcht vor dir erwecken. Sie rufen uns aber auch auf zum Glauben an dich. Deine Macht, die die starke Zeder zerbricht, ist der Fels, auf dem wir glaubend ruhen. Amen.

Psalm 32

Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist.
Psalm 32,1

Schuld, die nicht vergeben ist, ist Pein und fressendes Gift. Alles wird durch sie zerstört. Ich kann nicht glauben, wenn die unvergebene Schuld auf mir liegt. Ich kann nicht beten; denn sie steht zwischen mir und Gott. Ich kann nicht lieben; denn die Schuld sperrt mich in mich selbst hinein und zwingt mich zur Betrachtung meiner eigenen Not. Ich kann nicht arbeiten; wie sollte ich fähig sein, etwas Gutes zu wirken, während ich Sünder bin? Das ganze Leben stockt. Alles wird welk, kalt und zerdrückt unter der Last der unvergebenen Schuld. Darum sage ich mit dem Psalmisten: Wohl dem Menschen, dem die Sünde vergeben ist. Das ist die Hilfe, die alles erneuert, was in mir ist. Wie vergibt mir Gott? Er allein vergibt; ich kann nicht selber mir vergeben und kein Mensch hat dazu die Macht. Allein ich muss nicht fragen und kann nicht zweifeln, wo wir Menschen allzumal die Vergebung finden. Dazu ist Jesus gekommen und dazu ist Er gestorben und dazu auferstanden, damit ich dasjenige Wort Gottes empfange, das zu mir spricht: deine Sünden sind dir vergeben. Er hat alles getan, damit ich dieses Wort glauben kann. Darum stellte Er sich unter Gottes Gericht und trug sein Kreuz, darum vollendete Er seine Gemeinschaft mit uns bis in den Tod, darum gab Er uns auch sein letztes, sein Blut, damit ich weiß: Mein Sündigen hat ihn nicht von mir getrennt. Darum macht er auch seine Gnade in unserem Inneren mächtig und gibt es mir, dass ich an Ihn denke und Ihn nicht vergesse, an Ihn glaube und mich zu Ihm halte und Sein Werk; dann habe ich Lust und Recht, mit dem Psalmisten zu sagen: Wohl dem, dem die Sünde vergeben ist.
An Dir allein, heiliger Gott, habe ich gesündigt. Darum bist Du allein der, Der mir verzeiht, und Du hast uns dadurch vergeben, dass Du Deinen Sohn zu uns gesandt und uns zu Ihm berufen hast. Amen.

Psalm 33

Singet ihm ein neues Lied.
Psalm 33,3

Der Psalmist muß seine Genossen nicht dazu mahnen, daß sie singen; wohl aber ruft er ihnen zu: ein neues Lied singt. Sie sangen ihre alten Lieder, die der Schatz der Gemeinde waren und das aussprachen, was die Väter als göttliche Hilfe erlebt hatten. Ihre alten Lieder waren ihnen unentbehrlich. „Unsere Väter trauten auf dich und du halfst ihnen“; daß es so war, das wußten sie aus dem alten Lied und deshalb trauten auch die Kinder jener Väter auf ihn. Das Gebet der Väter wurde zum Gebet der Kinder und die Danksagung der Alten erweckte die Seele der Jungen zur Danksagung. So ging ein Strom von Erfahrung von Geschlecht zu Geschlecht und gab der Gemeine in ihren wechselnden Geschlechtern dasselbe einheitliche Wort. Aber ebenso unentbehrlich wie das alte Lied ist das neue. Gäbe es kein neues Lied, so gäbe es keine Gegenwart Gottes, keine jetzt uns belebende Gnade, keinen jetzt uns geschenkten Sieg. Kann ich nur von Erinnerung leben? Kann ich Gott nur in dem suchen, was einst vor Zeiten bei den Vätern geschah? Das Lied der Alten hat auch das an sich, was die Eigenart der Alten war und ihrem Leben die Schranken setzte. Ihre Lage ist nicht die meinige, ihr Glaube nicht der meine und das Werk, das sie zu vollbringen hatten, habe nicht auch ich zu tun. Unser Lied kann nicht zeitlos sein; denn es ist die Frucht unseres Lebens, begleitet mit Bitte und Dank unser Handeln und wandelt sich darum mit dem Wechsel der Geschlechter. Der Psalmist hielt aber seine Mahnung, ein neues Lied zu singen, nicht für ein Gebot ohne Kraft, nicht für einen Wunsch ohne Wurzel. Der Stoff zum neuen Lied ist ihm und seinen Genossen gegeben. Denn er selber schaut in seinem eigenen Leben Gottes Werk und dieses darf nicht in Heimlichkeit verschwinden und durch Undank entkräftet werden. Keiner empfängt Gottes Gabe nur für sich selbst; als Glied der Gemeinde erhält er sie für sich und die anderen. Darum entsteht aus dem alten Lied das neue, aus der Stimme der Vorzeit die des lebenden Geschlechts und sie bereitet das Gebet der kommenden vor, deren selige Pflicht es sein wird, an ihrem Ort mit ihrem Wort Gott für das zu preisen, was er ihnen geben wird.
Unser Lied, Herr, Gott, ist schon lange stumm und wir können nur das Lied der Alten singen. Schenke uns ein neues Lied. Nur unsere Undankbarkeit macht uns stumm. Unser starres Herz will nicht singen. Nimm uns das steinerne Herz und mache uns wach, daß wir deinen Namen loben. Amen.

Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht und alles sein Heer durch den Geist seines Mundes. Denn so er spricht, so geschieht es; so er gebietet, so steht es da.
Psalm 33,6+9

Es ist nicht müßiges Spiel, wenn wir fragen, woher die Dinge kommen. Wir sollen in der Welt heimisch werden; sie bliebe uns aber fremd, wenn uns ihr Ursprung nur ein Rätsel wäre. Bliebe uns die Herkunft der Welt dunkel, so wüssten wir auch nicht, woher wir kommen; denn wir sind ein Teil der Natur. Ungefährlich ist aber die Bahn nicht, auf der wir unsere Gedanken dann wandeln lassen, wenn sie uns den Anfang der Dinge deuten sollen. Wie oft war das Ergebnis dieser Wanderung ein phantastisches Gebilde, ein Weltbild, das Gott verbirgt! Es kann nichts anderes entstehen, wenn unser Denken unserer Eigensucht dient, die nach der Macht über die Welt begehrt. Da wir die Dinge dann beherrschen, wenn wir sie begreifen und ihre Entstehung kennen, stellt es sich dem selbstischen Willen als ein lockendes Ziel dar, in den Ursprung der Dinge einzudringen. Ist es nicht der höchste Erweis der menschlichen Größe, wenn wir imstande sind, die Welt von oben herab zu betrachten als die, die wissen, was sie ist und wie sie ward? Ist nicht das das Mittel, durch das wir uns ihrem Druck entziehen? Allein die Welt entstand durch das göttliche Schaffen und dieses ist etwas völlig anderes als das, was wir Menschen können, und bleibt darum unserem Begreifen gänzlich verschlossen. Der Anfang der Welt ist, weil sie Schöpfung ist, ein Wunder und dieses verlangt von uns die Beugung, die uns still macht und unser Denken zügelt. Wird uns deshalb die Welt zum Rätsel, das uns plagt, zur Fremde, in der es uns nicht wohl sein kann? Nein, sagt der Psalmist mit frohlockendem Jubel. Auch er fragt die Welt, woher sie komme, und er fragt nicht umsonst, sondern hat eine Antwort, die einzige, die sich hier geben lässt, die ganz gewisse. Denn er kennt Gott und kennt sein Wort, die unerschöpfliche Fülle der Gedanken, die nicht nur Gedanken bleiben, sondern mit der wirksamen Macht geeinigt sind. Daher weiß er, woher die Dinge kommen, auch die, die in erhabener Höhe über dem Menschen stehen wie das leuchtende Himmelsheer. Nun endet die Furcht und Flucht vor der Natur. Weil sie das Werk des göttlichen Wortes ist, sind wir in ihr daheim; denn jede Berührung mit ihr bringt uns eine Begegnung mit Gott und seinem schaffenden Wort.
Nicht dazu bist Du, mein Schöpfer und Vater, der Wirker Deiner Werke, damit sie Dich mir verbergen, sondern damit ich sehe, wie wunderbar Du bist, und die schaffenden Macht Deines Wortes inne werde. Dasselbe Wort, das so spricht, dass es geschieht, gab mir mein Leben und gibt mir den zu dir emporgerichteten Blick, der Deine Gnade schaut. Ich will meiner Kleinheit bewusst werden im Blick auf Deine Größe und an Deiner Größe messen, was Dein gnädiges Wort mir schenkt. Amen.

Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht und alles sein Heer durch den Geist seines Mundes. Denn so er spricht, so geschieht es; so er gebietet, so steht es da.
Psalm 33,6+9

Vom jüdischen Unglauben, sagte Paulus, er ändere an Gottes Treue nichts. Das sagt er, der für sein ganzes Wirken kein anderes Ziel hatte als den Glauben, weil er den Glauben die Gerechtigkeit des Menschen hieß, die einzige, die vor Gott gilt, weil sie von Gott kommt. Nun sagt er der Judenschaft, die Jesus kreuzigte und sich von seiner Gemeinde gänzlich schied, die sich der Entstehung der Heidenkirche mit allen Mitteln der Gewalt widersetzte und Paulus beständig ins Leiden stieß; einige von euch glauben nicht; was ändert das? Gottes Treue bricht nicht und Gottes Wort verliert seine Geltung nicht. Euch ist Gottes Wort übergeben und das ist euer Vorzug, den kein Unglaube vernichten kann. Sprach Paulus jetzt gläubig vom Glauben? O ja, nicht der spricht vom Glauben gläubig, der die Macht des Glaubens in den Glauben selbst hineinlegt. Eine Macht ist der Glaube deshalb, weil er sich an Gottes Gnade hängt und das sucht und hat, was Gott ihm gibt. Ich hätte ihn zerstört, wenn ich Gott an meinen Glauben bände. Indem Paulus sagt, dass Israel mit seinem Unglauben nicht Meister über Gottes Willen werde, pries er Gottes Gnade und sprach als Glaubender. Ich spüre freilich, dass dieses Wort mir gefährlich werden kann. Trotze, streite, wehre dich, sagt Paulus den Juden, du kannst es nicht ändern, dass du Gottes Wort hast. Wird es nun nicht gleichgültig, wie ich mich verhalte? Verliert nicht vor der unwandelbaren Herrlichkeit der göttlichen Gnade der Glaube jede Wichtigkeit? Zweifellos kann ich mir aus dem vollendeten Glauben des Paulus den Anlass zum Unglauben holen. Es gibt nichts, weder in der Natur noch in der Schrift, womit ich mir nicht schaden kann. Aber die Schuld an einem solchen Missbrauch der Gnade, die aus ihr die Ermächtigung zum Bösen macht, legt Paulus einzig auf den Menschen. Wohin sieht der Glaube? Er sieht empor zu Gott. Was sieht er dort? Den, der die Welt richtet, den Heiligen, der keine Bosheit duldet, den Gnädigen, der dem hilft, der ihm vertraut, nicht aber dem, der auf seinen Glauben pocht, nicht dem, der sich boshaft macht, weil Gott gütig ist. Zu diesem Schluss kann ich nur kommen, wenn ich mir verberge, worin der Glaube seinen Grund und Inhalt hat. Wem gehört mein Glaube? Gott. Wenn ich das nicht vergesse, bin ich vor allem Trotz und Übermut bewahrt.
Dein Wille, Herr, Gott, geschehe an mir und an der ganzen Welt in seiner ganzen Herrlichkeit. Wer steht fest? Du. Wer schwankt nicht? Du, der Du uns zu Dir berufen hast. Wer ist willkommen? Deine Güte, die nicht weicht, wenn wir weichen, sondern gibt, was sie uns verordnet hat. Dein Name sei gelobt. Amen.

Der Herr macht zunichte der Heiden Rat und wendet die Gedanken der Völker; aber der Rat des Herrn bleibt ewiglich, seines Herzens Gedanken für und für.
Psalm 33,10+11

Der Rat der Völker hat größere Macht als der Rat der Regierenden, wenn auch der Rat der Völker nur dadurch zur Tat gelangen kann, dass die, die sie regieren, ihn vertreten. Aber die, die die Macht verwalten, wechseln rasch und machen nach kurzer Dauer ihren Nachfolgern Platz. Der Rat der Völker dagegen bleibt und sie halten ihn oft durch Jahrhunderte hindurch mit zäher Anstrengung fest. Der Psalmist fand bei den fremden Völkern, die er kannte, eine sie beherrschende Politik, Ziele, nach denen ihre Geschlechter in langer Reihe einträchtig strebten und die für alle Glieder des Volkes unanfechtbare Geltung hatten. Der Assyrer strebte nach der Weltherrschaft; der Rat der Tyrier begehrte nach einem weit ausgedehnten kolonialen Reich; der Rat der Ägypter machte aus Ägypten eine eigene Welt für sich und schuf die ägyptische Kultur mit ihren Tempeln und Gräbern. Schaffen die Völker mit ihren nationalen Bestrebungen Bleibendes? In der Gewissheit, die der vom Geist geschenkte Blick auf Gott gewährt, sagt der Psalmist: alle diese Politiken scheitern; der Rat der Völker zerbricht. Warum? Sie kennen den Rat Gottes nicht und dies ist der einzige Rat und Plan, der besteht und geschieht. Gott ließ, sagte Paulus, die Völker ihre eigenen Wege wandeln. Darum suchen sie ihre Ziele im Bereich der Natur. Sie ringen um den Besitz der Erde und um die Ausnützung der von der Natur uns geliehenen Kräfte. Darum sind die Wege der Völker anders als die Wege Gottes. Sein Rat setzt fest, was er uns gibt, wie er uns seine Herrlichkeit zeigt und uns zu Erben seines Reichtums macht. Dieser Rat besteht und nicht der der Völker, wie einst, so auch jetzt. Der Psalmist hat völlig Recht behalten. Alles, was die Völker damals mit großer Macht und scheinbarem Erfolg anstrebten, versank. Dass es aber ein Volk Gottes gab, das blieb und bleibt.

Nicht mein Rat, auch nicht der Rat meines Volkes geschieht, ewiger Gott, sondern der Deine. Auch meine Pläne und Ziele müssen zerfallen, weil sie die meinen sind. Ich bitte nicht, dass Du sie erfüllest, sondern darum bitte ich: es bestehe und geschehe der Rat Deiner Gnade und erfülle sich auch an mir in Zeit und Ewigkeit. Amen.

Psalm 34

Der Herr ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.
Psalm 34,19

Was bleibt dem Menschen, wenn sein Herz zerbrochen und sein Geist zerschlagen wurde? Mag die Sonne ihren Lichtstrom auf die Erde schütten, für ihn scheint sie nicht mehr. Wir brauchen, damit die Natur uns diene und erfreue, ein unverletztes Herz. Sein Besitz mag unversehrt sein. Nun kann er ihm aber nichts helfen; was ist ein Besitztum noch, wenn sein Besitzer ein toter Mann ist? Von den Menschen hat er nichts zu hoffen; denn den Menschen ist es versagt, Herzen zu heilen. Ist er hilflos? Nein, sagt der Psalmist; denn der Herr ist ihnen nahe, die innerlich todwund sind. Hat ein schmerzhafter Stoß meine Pläne zerbrochen, meine Hoffnungen zerstört und alle meine Gedanken entwurzelt, so hat er mir doch meinen Gott nicht genommen. Er ist mir eben jetzt, da ein schmerzhafter Bruch mein Innerstes verletzt hat, nahe, nach seiner heiligen Regel, dass er zur Not seine Hilfe und zur Armut seine Gabe fügt und da, wo der Mensch zu Ende ist, mit seinem Werk beginnt. In solcher Lage bewährt sich die selige Botschaft, dass alles zum Guten hilft. Sie umfasst auch das Schwerste, was uns treffen kann, und dies ist nicht der Verlust unserer Habe, auch nicht der Zusammenbruch unseres Leibes, sondern der inwendige Bruch, der Schlag, der unseren Geist verletzt. Nun hilft uns auch er zum Guten, da er uns Gottes Nähe verschafft. Darum dürfen wir dem Apostel glauben, der uns sagt, dass uns jede Versuchung zur Freude werden kann. Auf die gefährliche Höhe steigt die Versuchung dann hinauf, wenn unser Herz zerbricht; denn dann ist uns die Verzweiflung nahe. Aber auch unsere Rat und Hilflosigkeit wird zum Band, das uns mit Gott vereint. Das gibt den Stunden, in denen das Herz krampfhaft zuckt und aus tiefen Wunden blutet, eine feierliche Weihe. Nun bedenke: jetzt ist Gott mir nahe. Denn selig sind die Armen im Geist, weil Gott zu ihrer Armut seinen Reichtum fügt.
Führe mich nicht in Versuchung! Ich bebe, wenn ich daran denke, wie zerbrechlich mein Herz ist und wie tief die Schläge, die den Geist treffen, dringen. Aber auch, wenn Du mich in Versuchung führst, offenbarst Du die Herrlichkeit Deiner Gnade. Wenn ich nichts mehr bin und keine Stütze mehr habe, zeigst Du mir, dass Du meine Stütze bist, und lehrst mich glauben. Amen.

Psalm 42

Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.
Psalm 42,12

Weil du warten musst, Seele, wirst du ungeduldig, nennst das Warten ein peinliches, schweres Geschäft und kannst es doch nicht lassen. Denn was gegenwärtig ist, erfüllt dein Verlangen nicht. In dem, was du bist und hast, kannst du nicht ruhen, nicht in dem, wozu die Natur dich macht, und wenn sie dich noch so gütig beschenkt, und auch nicht in dem, was dir Gottes Gnade gewährt, auch wenn du dich täglich an der seligen Freude nährst, die aus der Nähe Jesu in dich strömt. Du musst warten; denn du bist für die Zukunft geboren und stehst im Werden und nicht am Ziel. Warten ohne Schwanken und Ungewissheit, ruhig warten, wie kann ich dies? Sieh auf Gott! Wenn ich den Blick nicht zu ihm erhebe, wird mein Warten ungeduldig. Ob es kommt, ob es nicht kommt, das, wonach ich mich sehne, darüber gibt es im menschlichen Bereich keine Gewissheit, und wenn die Seele von der Erwartung zum Verzicht und von der Hoffnung zur Furcht hinüberschwankt, dann stöhnt sie und findet ihren Zustand hart. Darum bedarf sie der Mahnung: harre auf Gott! Von dem, was kommt, weißt du eines ganz gewiss: es kommt von Gott und zeigt dir ihn und zeigt dir, wie Er hilft. Darum entsteht das heftigste Schwanken und peinliches Bangen dann, wenn das, was gegenwärtig ist, uns Gott verbirgt und den Blick auf ihn uns verwehrt. Aber auch im tiefsten Dunkel, Seele, ist dies dein Amt und Werk, auf deinen Gott zu warten. Er ist der deine, weil er dich schuf und weil er dich rief. Darum weißt du, was Er ist, Anfänger und Vollender, der Gegenwärtige und der Kommende, das A und das O. Etwas anderes brauchst du nicht als die eine Gewissheit: du wirst sehen, was Er tun wird, und empfangen, was Er dir geben wird. Dann wirst du danken; dann gibt es kein dunkles Schicksal mehr und du hast nicht mehr dich quälende Wünsche in dir und bist nicht mehr eine unruhige Seele. Zeigt dir Gott, was Er tun wird, dann, Seele, bist du satt.
Ich werde Dir danken, Herr, heiliger Gott, und will Dir auch heute schon danken, aus all meiner Unruhe heraus unter allem Druck, der auf mir liegt. Dir, meinem Gott, danke ich. Deinem teueren Wort gehorsam heiße ich Dich meinen Gott, unseren Gott, meinen Vater, unseren Vater. Dass ich so sprechen darf, das ist der erste und letzte, der allermächtigste Grund zum Dank, der mich in Ewigkeit dazu bringen wird, dass ich Dir danken darf. Amen.

Psalm 51

An dir allein hab ich gesündigt und übel vor dir getan.
Psalm 51.6

Es gibt keinen Fall, der nicht den, der stürzt, verletzt. Jede Sünde verwundet ihren Täter und er trägt ihre Narben zeitlebens an sich. Es gibt auch keinen Fall, der nicht auch die anderen schädigte, die mit uns zusammen leben; jeder Sturz überträgt auf sie einen Stoß und wir können nicht abmessen, wie weit sich diese Erschütterung erstreckt und was sie für Unheil anrichtet. Dennoch hat der Psalmist völlig recht: „an dir allein hab ich gesündigt“, nicht als ob meine Bosheit ihn schädigte und meine Missetat ihn kränkte oder ärgerte. Falle ich, so ist das für Gott kein Verlust. Dennoch „an dir allein habe ich gesündigt“. Dein Gebot ist zerrissen, dein Schöpferrecht in seiner königlichen Größe ist bestritten. Dein Wort warf ich weg und habe mich von der Hand losgelöst. Das ist das Sündliche in meinem Tun, das unbedingt Verwerfliche, was nicht geschehen darf. Weil meine Sünde mein Verhältnis zu Gott berührt, darum liegt auf ihr der Fluch, der mich ganz entehrt und ganz vernichtet. Wenn ich mich selber durch mein Sündigen schädige, was liegt an mir? Wenn die anderen Menschen durch mein Unrecht leiden, so kann mir das bittere Reue und Tränen bringen; doch was sind wir Menschen ohne Gott? Heilig und unzerreißbar wird das Band, das unsmiteinander durch Recht und Pflicht vereint, dadurch, daß Gott es um uns gewunden hat. Daß ich Gottes Feind geworden bin, indem ich den Menschen entehre und verderbe, das ist die Sünde, die jeden, der sie tut, verdirbt. Weil wir an Gott sündigen, sind wir auf ihn geworfen, daß er uns vergebe, und darum ist die Vergebung, die er uns gewähret, unsere vollständige Aufrichtung.
Daß du unser Gott bist, ewiger Gott, Schöpfer und Erlöser, das führt uns zur Buße und ist unser Heil. Das macht unsere Buße tief und den Dank für dein Vergeben groß. Amen.

Psalm 69

Ihr Tisch müsse vor ihnen zum Strick werden, zur Vergeltung und zu einer Falle. Ihre Augen müssen finster werden, dass sie nicht sehen, und ihre Lenden lass immer wanken. Gieße deine Ungnade auf sie und dein grimmiger Zorn ergreife sie.
Psalm 69,23–25

Soll ich auch so beten? Das ist eine kindische Frage. Ich leide kein Unrecht und habe keine Feinde. Wo sich in meinen Verhältnissen Schwierigkeiten zeigen, entstehen sie nicht nur durch die anderen, sondern auch durch mich. Wie wäre es aber dann, wenn ich einmal ernsthaft Unrecht litte, oder wenn ich sehe, dass andere um Gottes willen gequält und verfolgt werden, soll ich dann so beten, wie der Psalmist es hier tut? Bittet für die, die euch verfolgen, sagt mir Jesus, und wenn ich das kann, so entsteht aus dem Gebet des Psalmisten daraus keine Einrede. Dann gilt auch hier: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde; ich aber sage euch. Warum soll ich nun aber das in der Bibel lesen? Wie kann mich ein solches Wort stärken? Wäre mir der Psalter wirklich eine größere Hilfe, wenn er nur Gebete wie Psalm 23 oder 91 enthielte? Wenn ich mir vorstellen müsste, bei all dem Schweren, das die Alten litten, durch die Bedrückung des Volkes von außen und durch die Zerrüttung der Gemeinde im Inneren, sei keine Klage zu Gott emporgestiegen und nie seine rächende Gerechtigkeit angerufen worden, sie hätten in jeder Lage nur gebetet: Der Herr ist mein Hirte; es mangelt mir nichts? Dann wäre der Psalter nicht mehr wahr, nicht mehr ein menschliches Gebet. Beten soll der Mensch, freilich so, dass er im Gebet die Einigung mit Gottes Willen sucht, doch so, dass er, der Mensch, sie sucht. Und wenn sein Gebet wahrhaftig ist und nicht nur eine eingeübte Formel und angelegte Tracht, dann kommt unvermeidlich in seinem Gebet die heiße Klage ans Licht, sowie die Bosheit der anderen in sein Leben verwüstend eingreift. Kann ich nicht neutestamentlich beten, so bleibt es doch unbedingt nötig, dass ich bete. Besser ist es, ich bete einen Rachepsalm, als ich trage einen gottlosen Hass in mir. Wenn ich meine Empörung über das Unecht, das geschieht, zur Bitte mache und in den Ruf nach Gottes Gerechtigkeit verwandle, so bin ich keine Gefahr für den Frieden. Im öffentlichen Leben der Völker wie im privaten Verkehr der Einzelnen sind nicht die die Zerstörer des Friedens, die beten, sondern die Gottlosen und Atheisten, die für ihr Handeln keine Regeln kennen als ihren Eigennutz.
Auch unser Gebet, Vater, bedarf Deiner Vergebung; denn es offenbart sich in ihm unsere menschliche Art. Deine Gerechtigkeit und was wir Gerechtigkeit heißen, ist weit voneinander getrennt. Du hast uns aber in Deiner väterlichen Güte gewährt, dass wir vor Dir reden dürfen ohne Angst und Zwang, und legst in unser Beten Deinen Segen. Amen.

Psalm 73

Denn mich verdrossen die Ruhmredigen, da ich sah, dass es den Gottlosen so wohl ging.
Psalm 73,3

Bei unseren gegenwärtigen Zuständen erschüttert diese Versuchung jeden in unserem Volk. Denn es wird unter uns in hellem Umfang und großem Maßstab der Tatbeweis geführt, dass man auch ohne Gott leben und nicht nur leben, sondern gedeihen kann. Wozu soll ich nun zu Jesus gehen und von ihm sein Joch empfangen, das mich zum Wettbewerb mit den anderen unfähig macht? Nun ist mir der Griff nach der Macht, der keine Rücksicht kennt, und der Rausch des ungehemmten Genießens versagt. Aber solche Gedanken können mich nicht nur dann packen, wenn ich in meinem innersten Denken und Wollen schon gottlos wäre. Nur dann könnte es mir scheinen, dass die Frage, ob ich für mich selbst oder für Gott leben wolle, durch eine Berechnung meiner Gewinne zu entscheiden sei. Wenn ich meinen Entschluss von meinem Vorteil abhängig mache, dann habe ich Gott verleugnet; dann ist er mir nicht mehr die Wirklichkeit, an die ich glaube, nicht mehr der Schöpfer, durch den ich bin, nicht mehr der Herr, dessen Willen ich tue, nicht mehr der Gute, dessen Gnade meine Freude ist. Glück oder Unglück, Macht oder Misserfolg, das scheidet völlig aus, wenn ich nach Gott frage, und hat meinem Christenstand nichts zu tun. Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit, das ist das Einzige, wonach ich zu fragen habe, und wenn diese Frage mit ihrem heiligen Ernst in mir erwacht ist, dann hat der Erfolg der Gottlosen den versuchlichen Reiz verloren. Aber ich muss mich aus der schwülen Luft unseres öffentlichen Lebens immer wieder in die Nähe Jesu flüchten, damit ich unverwundbar werde, und muss seiner Mahnung gehorchen: bleib in meinem Wort; dann wirst du die Wahrheit erkennen; dann blendet dich kein prunkender Schein eines solchen Glücks.

Ich fürchte mich, Herr, Gott, vor mir und meiner Begehrlichkeit. Unsere Seele ist ein unzufriedenes Ding; sie will nicht unten bleiben, sondern stürmt nach oben, und mag nicht entbehren, sondern ist hungrig nach Genuss. Aus dem Lärm der Welt trete ich in Deine uns stille machende Gegenwart. Nun wird das Auge klar und die Seele froh und der Dank flammt auf, der Dank dafür, dass ich Dich kenne, weil Du mich erkannt hast. Amen.

Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.
Psalm 73,25

Es schien der Christenheit oft vorteilhaft, wenn sie auch unter den Himmlischen Freunde habe. Kann uns ihre Fürbitte nicht beistehen und ist es nicht ein Trost, der uns den Gedanken an den Tod erleichtern kann, wenn uns drüben himmlische Helfer erwarten? Im Herzen des Psalmisten hatten solche Gedanken keinen Raum mehr. Er erwartete von denen, die im Himmel sind, keine Hilfe und keinen Trost. Noch näher liegt es, auf der Erde Helfer und Tröster zu suchen. Es gibt ja dort Machthaber, deren Gunst uns wertvoll sein kann und Freundschaften, die uns wirksam unterstützen. Aber auch von denen, die ihm auf der Erde nahe sind, wendet sich der Psalmist ab. Er stützt sich nicht auf ihre Hilfe und sucht seinen Trost nicht bei ihnen. Warum sucht er weder im Himmel noch auf Erden einen Helfer? „Weil ich dich habe.“ Er erkennt, dass er Gott deshalb habe, damit er in ihm alles habe, nicht einen unter vielen Helfern, sondern den Helfer, nicht einen Herrscher neben anderen, sondern den Herrn, nicht einen unter vielen Tröstern, sondern den, der ihm die ganze Freude gibt. Er hat es kraftvoll empfunden, dass es bei Gott immer um das Ganze geht, um die ganze Welt, so weit sie ist, mit allem, was sie enthält, nicht weniger aber auch um das ganze Herz, was immer in mein Sehfeld hineintreten mag, und um das ganze Leben, was immer mein Schicksal werden mag. Für unser Verhältnis zu Gott ist es ein wesentliches Merkmal, dass es jedes gleichwertige Verhältnis ausschließt und uns ganz an ihn bindet. Wenn ich Gott habe, so hat Er mich ganz. Wenn ich Ihm glaube, gibt es nicht noch Raum für einen anderen Glauben. Ich kann mich nicht auf Ihn und neben Ihm noch auf etwas anderes stützen. Wenn ich ihm nicht ganz glaube, so glaube ich ihm nicht. Es steht ebenso mit meiner Liebe und mit meinem Gehorsam. Eine Liebe, die ihm nicht alles gibt, ist keine Liebe Gottes, und wenn mein Gottesdienst nicht aus meinem ganzen Handeln besteht, so ist es kein Gottesdienst. Darum wendet sich der Psalmist von allen himmlischen und irdischen Helfern und Genossen weg. Wie sollte er sie neben Gott setzen? Wendet er sich zu ihnen, so verlässt er Gott. Er hat ihn aber; denn er hat ihn an seiner rechten Hand erfasst und er spürt diesen Griff Gottes, der ihn zu Gottes Eigentum macht, damit er in ihm alles habe, was er bedarf und begehren kann.
Lass mich spüren, dass Du meine Hand erfasst hast, damit ich nach nichts begehre als nach Dir. Ich will es meiner Seele sagen, dass sie Dich loben soll, Dich allein, und Dir trauen soll, Dir allein. Amen.

Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.
Psalm 73,26

Die Vergänglichkeit unseres Leibes sieht jedes Auge. Wenn wir sie uns zeitweilig verbergen, so ist das immer nur kindische Eitelkeit. Der Psalmist denkt aber nicht nur an das Verwelken des Leibes. Das Altern und Kranksein wäre weit weniger schwer, wenn nur die leiblichen Organe ihre Kraft einstellten, dagegen das inwendige Leben in ungeschwächter Kraft fortbestände. Das Welken trifft aber auch unsere Seele und bei der festen Verbundenheit, die aus unserem leiblichen und seelischen Leben eine Einheit macht, muss es so sein. Wenn aber alles ermattet und versagt, was bleibt uns noch? Der Psalmist, der weder im Himmel noch auf Erden einen Helfer gesucht hat, klammert sich auch nicht an seinen Leib und an seine Seele, als umschlösse sie das, was ihm das Leben gibt. „Weil ich dich habe“, das gilt auch dann, wenn Leib und Seele vergehen. Der Eine, sagt der Psalmist, bleibt mir auch dann: Gott. Er ist auch dann meines Herzens Fels, wenn Leib und Seele kraftlos sind, und er ist auch dann meines Herzens Fels, wenn Leib und Seele kraftlos sind, und er ist auch dann mein Teil, Besitz und Reichtum, wenn mein eigenstes Eigentum, Leib und Seele, mir verloren gehen. „Weil ich dich habe“, das ist das Ende der Todesfurcht. Mit seinem Gott geht er dem Sterben entgegen als ein Lebender. So zeigt uns der Psalmist, wie wir das ewige Leben ergreifen, wie es in uns wurzelt und der Grund zur lebendigen Hoffnung in uns entsteht. Keine Naturbetrachtung, kein Studium des seelischen Lebens, kein Hochgefühl, mit dem uns eine wertvolle und gelingende Lebensarbeit beglücken kann, kein Schluss, der aus dem, was wir von Gottes Gnade wissen, einen Anspruch an ihn ableitet, macht uns zu solchen, die des ewigen Lebens gewiss und froh sind. Dahin gibt es nur einen Weg: „weil ich dich habe“. Gott ist der Gott der Lebenden. Wenn er mich wie den Psalmisten an meiner Hand erfasst, so bedeutet das, er führt mich ins Leben.
Was Du uns gibst, Vater, hat Deine Treue in sich; darum kann unser Leib unbrauchbar werden und die Seele verwelken, so dass uns das Ende unsres Lebens wieder zu schwachen Kindlein macht. Denn Du bleibst bei uns, und was Du uns gabst, verwelkt nicht. Darum preisen wir Dich als den lebendigen Gott, der Du Dich dadurch an uns offenbarst, dass Du uns das Leben schenkst. Amen.

Psalm 103

Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen.
Psalm 103,1

Einst rief der Priester der Schar, die im Tempelhof versammelt war, zu: Lobt den Herrn! und die Festgenossen wiederholten seinen Ruf und es rief es einer dem anderen zu: Lobe den Herrn! Auch der Psalmist wiederholt diesen Ruf, richtet ihn aber nicht an die anderen, sondern an sich selbst: auf, meine Seele, lobe den Herrn! Paulus hat gesagt: du kannst dir selbst das Gesetz sein, kannst dir selber vorhalten, was Gottes Gebot verlangt, und dich mahnen und ermuntern, dass du es tust. Wie ich mir das Gesetz sein kann, so kann ich mir auch der Evangelist sein und kann und soll mir vorhalten: „Der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöset und dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“ Wenn ich aber mir selbst zum Evangelisten geworden bin, dann beginnt und schließt mein Gespräch mit meiner Seele damit, dass ich ihr zurufe: Lobe den Herrn, meine Seele. Sie hat es nötig, dass ein Evangelist sie besuche und sie zum Lob Gottes ermuntere. Denn sie trägt mancherlei Bürden und hat doch nur schwache Schultern. Sie klebt am Leib und dieser füllt sie mit seinen starken Reizen. Sie kennt ihre Not und Schuld und trägt schwer daran. Sie hat vielerlei Wünsche und hätte gern Flügel, damit sie eilig dahin gelange, wohin sie ihr Begehren zieht. Über all dem verlernt sie das Loben. Nun sorge dafür, dass deine Seele den Evangelisten nicht entbehre. Sie braucht nicht zu warten, bis die Glocken läuten und von der Kanzel aus das Evangelium zu ihr kommt oder bis ein Volksmissionar und Evangelist anlangt und es dir sagt. Sei du selbst der Evangelist deiner Seele. Halte ihr das göttliche Wort, das ihr Gottes Gnade zeigt, vor und mahne sie: Lobe den Herrn, und wenn du deine Seele mit dem Evangelium mahnst, wird sie dir zustimmen und aus dem Befehl: lobe den Herrn! entsteht dann wirklich und gläubig Gottes Lob.
Ich habe mich mit dem Psalmisten gemahnt und will seiner Mahnung gehorchen und dir, Vater, danken und mich zu Deiner Schar gesellen, die im Himmel und auf Erden ohne Unterlass Dich preist. Bleibt mein Wort dürftig, weil meine Seele müde ist, so bist Du gnädig und barmherzig; darum darf dich auch meine Seele loben so, wie sie ist. Amen.

PSalm 121

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
Psalm 121,1+2

Wenn der Blick des Psalmisten sich zu den Bergen wendet, so bewegt ihn eine Frage und er sagt uns, was ihn umtreibt. Er sucht die Hilfe. Darum sieht er hinaus in die weite Ferne und hinauf zu den höchsten Höhen, die seinem Blick erreichbar sind. Aber sein Blick bleibt nicht an den Gipfeln und Kämmen der Berge hängen, als könnte sich dort eine Heerschar zeigen, die Israels Schutz und Schirm wäre. Höher empor erhebt er das Auge und sucht nicht im irdischen Umkreis den Helfer. „Meine Hilfe kommt vom Herrn.“ Nur einer ist der Helfer, der, der den Himmel und die Erde gemacht hat. Nun hat aber seine bange Frage die Antwort und sein spähender Blick sein Ziel gefunden und er weiß, woher die Hilfe kommt, nicht nur vielleicht, nicht nur hoffentlich, sondern sie kommt von Gott, und sie kommt deshalb von ihm, weil der Himmel und die Erde sein Werk sind. Deshalb gibt es keine Not, die ihn ohnmächtig machte, keinen Feind, der ihn hindern könnte, und keine Schranke, die seine Güte einengte. Aus der Schöpferherrlichkeit Gottes folgt die Fülle seiner ewigen Gnade.
Ich mache es, wie der Psalmist es mir sagt, und sende meinen Blick in die Höhe, über alles Irdische und Menschliche empor, empor auch über alles, was die Natur mir zeigt, empor zu Dir, mein Schöpfer und mein Vollender. Amen.

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.

Psalm 126

Psalm 126,1+2

Der Glaube, sagte Paulus, bleibt, nicht die Erkenntnis. Darum geht es uns wie der Psalmist es sagt. Kommt Gottes Hilfe, so kommt es uns vor, wir träumen. Wir sind völlig überrascht, weil alles anders kommt, als wir dachten. Dann fallen alle unsere Vorstellungen um und unser Hoffen und Weissagen ist als Stückwerk erwiesen, als die Rede eines Kindes, das, solange es Kind ist, denkt und spricht wie ein Kind. Aber der Glaube bleibt und bekommt seine Bewährung eben dadurch, dass die Gefangenen Zions dann, wenn die Erlösung für sie kommt, wie Träumende sind, die es nicht begreifen können, dass Gottes Gnade so reich und seine Hilfe so herrlich ist. Dann empfangen sie, worauf ihr Glaube gewartet hat. Weil wir nicht undankbar sind, wenn wir unser irdisches Leben eine Gefangenschaft heißen, dürfen wir unsere Verheißung auch mit jener Stunde verbinden, die uns durch die enge Pforte des Todes führt. Dorthin reicht kein Auge und kein Ohr vernahm die Kunde von dem, was Gott uns dann bereiten wird. Aber auch unser gegenwärtiger Umgang mit Gott bringt unserem Psalm mannigfache Bestätigung. Was gibt es doch für ein Staunen, wenn es uns gegeben wird, nicht unsere Sünde anzuschauen, sondern auch Gottes Vergeben wahrzunehmen. Dann zerbrechen alle unsere Meinungen über das, was uns helfen könne, worin unsere Buße und Heiligung bestehen müsse, und wir nehmen wahr, dass Gott größer ist als unser Herz. Und wie erstaunen wir, wenn uns einmal Jesus begegnet und uns sichtbar wird: er ist mein Herr! Dann fallen alle unsere frommen und unfrommen Gedanken ab, die wir vorher hatten, und ein tiefes Erstaunen beginnt, aus dem uns das erwächst, dass unser Mund voll Rühmens wird.
Du richtest unser Angesicht, Herr, Gott, nach vorn. Du stellst mich freilich in den heutigen Tag, damit ich ihm gebe, was ihm gehört. Aber Deines Reiches ganze Kraft und ganze Herrlichkeit steht noch vor uns und unsere Gedanken fassen nicht, was kommen wird. Dein Wort heißt uns aber hoffen, und das ist Deiner Gnade Zeichen und Geschenk. Amen.

Psalm 131

Meine Seele ward entwöhnt, wie einer von seiner Mutter entwöhnt wird.
Psalm 131,2

Hungrig schauen unsere Augen in die Welt hinaus und unsere Hände greifen eifrig nach allem, was wir Gewinn heißen, in der Tat wie ein Kindchen, das sich nach der Brust der Mutter streckt. Gibt es denn für uns Menschen ein Sattwerden? Ja, sagt der Psalmist, es ging ihm wie dem Kind, von dem das ungestüme Begehren der ersten Wochen abgefallen ist und das nun seine Nahrung nicht mehr bei der Mutter sucht. Nun ist ein anderes Bedürfnis aufgewacht und das neue Bedürfnis macht das alte still. Es kann uns wie dem entwöhnten Kinde gehen, weil wir von zwei Seiten her unsere Bedürfnisse und Begehrungen empfangen. Zuerst legen sie die natürlichen Vorgänge in uns hinein und erzeugen jenes Verlangen, das nach den Dingen greift. Wenn uns aber Gottes Gnade besucht hat, dann öffnet sich uns ein neuer Quell, aus dem Bewegung und Begehrung und Wille in uns hineinströmen. Nun greifen wir nach dem, was Gottes ist, und das eine Verlangen vertreibt das andere. Was die Natur fordert, muss ihr freilich Tag um Tag gewährt werden und dies ohne Widerwillen; sie soll willig und reichlich erhalten, was sie bedarf. Aber die Mitte unseres Lebens füllt dieses Begehren nicht mehr aus. Deutlich und wirksam kommt eine Wandlung zustande, die unser ganzes Leben umstellt. Wie viel war uns früher unentbehrlich oder erschien uns doch als höchst begehrenswert und machte uns zu lebhafter Anstrengung munter, vielleicht sogar zu fieberndem und heldenhaften Ringen! Nun aber ist alles, was nur die Sinne reizt, nur den Menschen angeht und nur den Menschen schmückt, abgewelkt. Wir sehen die anderen nach diesen Dingen greifen und lächeln, weil wir wissen, wie wenig sie damit gewinnen, und mit dem Lächeln verbindet sich ein tiefes Erbarmen, weil das, was sie begehren, sie gefährdet, weil das Leben in Gefahr kommt, wenn es darben muss. Ohne Schmerzen und Klagen ist uns die Entsagung gewährt, wie sie dem entwöhnten Kind gegeben wird, das nun ohne Begehrlichkeit auf dem Schoß der Mutter sitzt. Denn eine neue Füllung ward in unser Leben gelegt, neue Arbeit, damit auch neue Schmerzen und neue Seligkeit.
Zeige mir, was Dir wohlgefällt, damit ich mich nicht verzehre im Dienst der Eitelkeit. Reichst Du uns das Brot des Lebens, dann quält uns kein falscher Hunger mehr; dann werde ich satt. Amen.

Psalm 139

Wo soll ich hingehen vor deinem Geist und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.
Psalm 139,7–10

Auf der Flucht vor Gott sind wir Menschen alle. Der eine flieht hinein in das Gewimmel der Menschen, in den Tumult der Wirtschaft und des Staats, um im Erwerben und Genießen Gott zu vergessen. Ein anderer flüchtet sich zur Natur, um zu singen, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnt, und um zu rauben, wie das Raubtier raubt, das seinen Hunger füllt. Ein dritter flieht in das Gemach des Denkers, der sich aus seinen Gedanken eine eigene Welt aufbaut, oder in die Zelle des Büßers, der seine Frömmigkeit als seine Decke über sich sieht. Ihnen allen sagt der Psalmist, was sie gewinnen: und wenn ich wie das Morgenrot mich über die weiteste Ferne schwänge, so bliebe ich von deiner Hand gefasst. Wohin soll ich denn fliehen, wenn es mir bange ist vor Gott? Zu ihm. Das ist die einzige Flucht vor Gott, die uns rettet. Mit all dem, womit uns Gott erschreckt, lockt er uns zu ihm. Die unabänderliche Festigkeit der Natur, die uns so oft weh tut, verwirrt und erschreckt uns. Sieh, sagt mir Gott, wie fest meine Ordnung ist; du beugst sie nicht; unterwirf dich mir und traue mir. Sein Gebot erschreckt uns, das unsern Willen verwerflich heißt, und wer steht nicht unter seinem verdammenden Spruch? Sieh, sagt mir Gott, ich bin das Gute und darum dem Bösen feind; nun weißt du, dass du meiner Güte trauen sollst. Siehst du an deiner Bosheit, dass ihr Lohn Tod ist, so weißt du, was dir der gibt, dessen Güte Wahrheit ist in Ewigkeit. Führt uns unser Weg zum Kreuz, so überfällt uns ein tiefes Erschrecken. Ist das Gottes Wahrzeichen, dies die Erscheinung seiner Liebe? Gibt es denn keine Versöhntheit mit Gott als durch den Tod seines Sohnes, und keinen Weg ins Leben als das Auferstehen? Damit lockt uns aber Gott zu sich. Sieh, sagt er mir, auf dieses von mir errichtete Kreuz; da siehst du den, der dich tot für deine Sünde macht. Hast du ihn nicht nötig? Und hier siehst du den, der dich ins Leben führt; willst du nicht nach dem Leben streben? Fleisch und Blut erlangen es nicht. Es ist die Gabe dessen, der gestorben und auferstanden ist. Flieh nicht von ihm weg; flieh zu ihm; flieh zu mir.
Vor dir, heiliger und ewiger Gott, fliehe ich, weil ich vor mir fliehe. Vor dem, was ich bin und mache, kann ich mich nur so retten, dass ich mich zu Dir flüchte, und ich darf mich zu Dir flüchten; denn Du bist unsere Zuflucht für und für. Amen.

Denn du hast meine Nieren in deiner Gewalt; du warst über mir im Mutterleib. Es war dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde.
Psalm 139,13.15

Wir bringen viel aus dem Mutterschoß mit. Was wir hernach in eigener Kraft erwerben, ist wenig neben dem, was uns mitgegeben wird, und jeder eigene Erwerb wird uns nur durch das möglich, was von Anfang an uns verliehen war. Verletzt das meinen Stolz? Das wäre ein Zeichen, wie gottlos ich mich selbst in die Höhe strecke und in mir den suche, den ich verehren möchte. Nur so kommt es zu dem wahnsinnigen Gedanken, dass nur das ein wertvolles und richtiges Eigentum sei, was ich mir selber erworben habe. Um zu erwerben, brauche ich ein Kapital. Das gilt nicht nur vom Ertrag der natürlichen Arbeit, sondern auch vom inwendigen Bilden und Erwerben. Wo nichts ist, wird nichts, und wer hat, erwirbt. Das ist Gottes Ordnung, die uns sichtbar macht, dass wir von dem leben, was Gott uns gab. Für das erleuchtete Auge des Psalmisten haftet am Zusammenhang seines Lebens mit dem, was vor seinem Bewusstsein und vor seiner Entschließung lag, nichts Schreckliches. Denn Gottes Wirken vollzog sich durch das, was seine Eltern ihm mitgaben. Hat er recht? Bringen wir nicht aus dem Mutterschoß die schweren Lasten mit heraus, die uns zeitlebens quälen? Wie bitter kann uns Ererbtes demütigen, das wir nicht von uns wegbringen, eben weil es ererbt und schon im Mutterschoß entstanden ist! Nie ist das uns gegebene Erbe nur Kraft; immer ist auch Schwächung dabei. Dennoch erschrickt der Psalmist vor dem Erbgang nicht; denn du, sagt er, warst dabei. Ich bekam meine Gestaltung nicht ohne dich. Ist dies ein Trost oder wird etwa die ererbte Last dadurch erst recht schwer? Habe ich nun nicht das Recht, nicht bloß die Natur zu schelten, sondern auch Gott, der den natürlichen Vorgang in seinen Händen hält? Gott schelten! Wollte ich das, so wäre es Wahnsinn und Gottlosigkeit. Der Töpfer macht das Gefäß nach seinem eigenen Willen, und dies ist ein starker, voll tröstender Trost, dass ich auch vom Erbgang mit allen seinen Folgen weiß, dass er nach Gottes Willen vor sich geht. Jede Last wird leicht, wenn ich sie aus Gottes Hand empfange.
Was Du gibst, Herr Gott, das nehme ich. Ist es Kraft, so dient sie mir. Ist es Schwachheit, so preist sie Dich, weil Du durch Deine Kraft auch Dein schwaches Kind bewahrst. Ich kann an mir nicht teilen, was ich ererbt und was ich erworben habe; denn die Wurzeln meines Lebens sind in einer Tiefe verborgen, die Du allein kennst. Was ich wissen muss, ist das Eine: Du kennst mich. Das ist mein Trost. Amen.

Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz. Prüfe mich und erfahre, wie ich es meine, und sieh, ob ich auf bösem Wege bin und leite mich auf ewigem Wege.
Psalm 139,23+24

Diese Bitte sprach der Psalmist in der Gewissheit, dass sie erhört sei; denn er beginnt mit den Worten: „Herr, du erforschest mich und kennest mich“, und er preist den Blick Gottes, der ihn in allen seinen Lagen begleitet und auch dann über ihm war, als ihn noch kein menschliches Auge sah, schon damals, als er im Mutterschoß bereitet wurde. Indem er aber um das bittet, was Gott tut, macht er aus dem, was Gott tut, sein eigenes Verlangen und bekennt sich mit entschlossenem Willen dazu, dass er als der stets und völlig von Gott Gekannte sein Leben führt. Es ergibt einen großen Unterschied, ob wir das, was Gott ist und tut, nur wissen oder ob wir uns mit Willen und Liebe dazu bekennen und uns mit ihm einigen. Die Gewissheit, dass wir von Gott gekannt sind, kann das Sträuben in uns erwecken, das sich ihm entziehen möchte. Wir wissen zwar, dass dieses Sträuben Torheit ist, weil es keinen Erfolg haben kann, und doch zwingt uns die Furcht vor Gott dazu, diese Erkenntnis von uns abzuschütteln. Das ist jener Kampf gegen die Wahrheit, von dem Paulus gesagt hat, er bringe Gottes Zorn auf uns herab. Anders macht es der Psalmist mit der ihm geschenkten Erkenntnis, dass nichts in ihm vor Gott verborgen ist. Er verdrängt sie nicht, sondern macht sie zu seinem Begehren und begründet mit ihr seine Bitte: Herr, erforsche mich; das ist mein Heil, dass dein Licht mich durchleuchtet und dein Urteil mir vernehmlich wird. Jede Bitte hat das Geständnis unseres eigenen Unvermögens in sich, und dies gilt auch von diesem Gebet. Wie kann ich mich selbst erkennen, mich selbst erforschen? Ich bleibe für mich ein Geheimnis, das ich nicht aufschließen kann. Vor dir sind aber alle Wurzeln meines Lebens aufgedeckt. Schuld und Unschuld, was ich sollte und was ich konnte, was die anderen aus mir machten und was ich selbst aus mir machte, alles liegt klar vor dir. Unser Unvermögen, uns richtig zu beurteilen, kann uns schwer ängstigen; aber was uns ängstigt, wird uns dadurch zum Segen, dass es uns zu Gott hintreibt. Über unserer Unwissenheit steht sein göttlich klares Wissen und über unserem schwankenden Urteil, das uns heute Zuversicht gibt und morgen uns anklagt, sein unfehlbares Gericht, das ohne Trübung der Wahrheit dient. Der im Glauben an Gott gerichteten Bitte wird auch die Erhörung nicht versagt. Gottes Urteil über das, was wir sind und tun, bleibt uns nicht verborgen. Sein Gericht enthüllt, was wir verstecken, und seine Gnade gibt uns durch seinen Geist das Zeugnis, dass wir Gottes Kinder sind.
Mit dem Psalmisten betet Deine ganze Schar: Herr, erforsche mich. Sie haben es alle gelernt, die Wahrheit lieb zu haben, weil Du, Herr Christus, unser Weg bist, der Du die Wahrheit bist. Mein Schutz gegen alles, was mich blendet und mich über mich täuscht, bist Du, Herr, allein. Amen.

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