Riggenbach, Christoph Johannes - Ueber die Person Jesu Christi.

Riggenbach, Christoph Johannes - Ueber die Person Jesu Christi.

Von der Person Jesu Christi soll ich heute zu Ihnen reden. Sie spüren mit mir, daß wir hier ins Heiligthum eintreten. Wenn Gott heilig ist, wir aber unheilig, so sind wir genöthiget zu fragen: wer bringt uns zu ihm? daß wir nicht bloß von ihm wissen, sondern wiederum in seine lebendige und beseligende Gemeinschaft eintreten? Wir dürfen ja den Sündenzustand nicht ansehen als einen Status-quo, darein man sich bestmöglichst schicken müsse, sondern wenn wir den Ernst der Lebensaufgabe nicht verleugnen wollen, müssen wir nach einer Rettung und Erlösung fragen. Eine solche wird auch von Alters her verheißen. In dem Volk des alten Bundes, welches dazu auserlesen wurde, sehen wir sie angebahnt und vorbereitet durch Gesetz und Propheten. Das neue Testament verkündigt uns die Erfüllung jener Verheißung in der Person Jesu Christi, des einigen Mittlers zwischen Gott und der Menschheit, mit dem Beifügen, daß solches nicht Sache menschlicher Erfindung, nicht von selbst in eines Menschen Herz aufgestiegen, sondern uns von Gott bereitet sei; also nicht ein Inhalt unserer Vernunft, den sie aus sich selber produzierte, sondern ihr von Gott gegeben, daß sie ihn vernehme. Das Auge muß wohl sonnenhaft sein, um das Licht der Sonne zu schauen; aber es ist nicht selbst die Sonne und bringt die Sonne nicht hervor. So auch von der Person Christi kann uns nicht eine Spekulation aus unsern eigenen Menschengedanken, sondern nur die Botschaft des Evangeliums melden, was er für uns gewesen ist und noch ist.

Davon zu reden ist eine große Sache. Wer will sich auch unterwinden, als sein Fürsprecher aufzutreten, da wir vielmehr nöthig haben, daß er unser Fürsprecher sei? Was wir darum einzig versuchen dürfen, das ist: durch einen kurzen Abriß der vornehmsten Gründe zu zeigen, daß und warum wir es nicht lassen können, an den Christus unserer Evangelien zu glauben.

Es kommt mir zu Statten, daß dieser Abriß nicht das Ganze beschlagen soll, was hier zu sagen wäre. Ich habe heute nicht näher einzugehen weder auf das Versöhnungswerk Christi, noch auf seine Auferstehung, Himmelfahrt und überirdische Verherrlichung. Das wird die Aufgabe der beiden nächsten Vorträge sein. Der heutige beschränkt sich auf die Person Jesu Christi, wie sie uns ihren Charakter hauptsächlich in ihrem Erdenwandel erwiesen hat.

Hievon denn also, wie überhaupt von allem, was geschichtlich ist, kann zunächst nur die Botschaft, die uns verkündigt wird, Zeugniß geben. Die große Frage aber, die sofort entsteht, ist die: ob dieses Zeugniß, das uns so vieles Ungewohnte und Auffallende berichtet, Zutrauen verdiene? Ein Geist des Mißtrauens dagegen ist gar vielen unserer Zeitgenossen eingeflößt worden, und dieses Mißtrauen empfiehlt sich als Freiheit und Selbständigkeit des Denkens. Aber auch besseres als Mißtrauen ist denkbar, nämlich ernstes und redliches Prüfen. Ja dieses ist wirklich Pflicht und Beruf. Es muß ja in der That als ein Gewissensanliegen erkannt werden, daß wir unser Heil auf nichts Unwahres, Unzuverlässiges bauen. Zu solchem Prüfen, dem rechten Prüfen, welches damit beginnt: So Jemand will deß Willen thun - fordert der Herr selber uns auf und ebenso auch sein Apostel (Joh. 7,17; 1 Thess. 5, 21). Es ist keine Rede davon, daß wir in Sachen des Glaubens auf vernünftiges Wissen verzichten, das vernünftige Denken ersticken sollen. Vielmehr handelt sichs um Befreiung des Denkens von den herrschenden Vorurtheilen der Zeit. Wir sollen wahrlich von der Ehre nichts preisgeben, mit welcher Gott selber uns ehren will: daß er will freie, persönlich überzeugte Diener haben. Was heißt das: überzeugte? das heißt solche, denen sein Zeugniß zu stark geworden ist.

Das Gegentheil von Ueberzeugung ist es, wenn man uns entgegenhält, wie auch schon geschehen ist: „Wie kann man von uns unbedingten Glauben an Jesum fordern, da gar nicht einmal mit Gewißheit zu ermitteln ist, was er gewesen, was er gethan und gesprochen hat?“ Ist das wahr? Die Christenheit hat achtzehn Jahrhunderte lang dafür gehalten, das sei freilich mit hinreichender Gewißheit zu ermitteln, wenn auch im tiefsten Grund ein göttliches Geheimniß bleibe, das wir nicht ausschöpfen, wie so manches andere nicht, das keine solche Tiefe hat. Der Glaube hat die Christenheit zum Wissen geführt. Der Nichtglaube dagegen führt, wie wir vernommen haben, eingestandener Maßen zum Nichtwissen. Sollte das wirklich der Triumph der fortgeschrittenen Wissenschaft sein?

Lassen Sie mich zur Einleitung eine kurze Betrachtung anstellen. Es hat der Straßburger Professor Schmidt, ein gründlicher Kenner der Geschichte, ein schönes Buch geschrieben, das von der französischen Akademie der Wissenschaften gekrönt worden ist. Dasselbe heißt in deutscher Uebersetzung: die bürgerliche Gesellschaft in der altrömischen Welt und ihre Umgestaltung durch das Christenthum. Der Verfasser schildert zuerst die heidnische Gesellschaft im alten Griechenland und Rom. Er freut sich natürlich der schönen Einsichten, der edlen Charaktere, der glänzenden Leistungen, die sich mannigfaltig darin finden. Um so unbefangener kann er uns dann die Schattenseiten aufdecken; und so führt er aus den Gesetzen und Schriftdenkmalen der Alten selber den gründlichen Beweis, an wie tiefen Gebrechen der ganze Zustand litt: wie das Staatswesen, die Ehe, das Verhältniß zwischen Eltern und Kindern, die Behandlung der Sklaven, der Armen, der Fremden, kurz wie das Leben in allen seinen Beziehungen im tiefsten Grund auf Selbstsucht gegründet war, und darum einer unaufhaltsamen Zerrüttung anheimfiel.

Diesem traurigen Bilde stellt er sodann die Christengemeinde gegenüber, die aus den Geringen und Verachteten vornehmlich sich recrutierend, durch Verfolgung bedroht, oft schwer gedrückt, dennoch Stand hielt, und in der Welt ein neues Beispiel aufstellte, ein bisher noch nicht gesehenes, das Beispiel nämlich einer von Grund aus anders gearteten Gesellschaft, die in allen jenen genannten Beziehungen, statt auf Selbstsucht wie die heidnische, vielmehr auf Liebe und Erbarmen gegründet war. Und noch mehr als das: nicht nur selber war die christliche Gemeinschaft auf selbstlose Liebe gegründet, sondern ihr Einfluß wurde sogar bei denen, die sie haßten, verfolgten und mit der grausamsten Gewalt zu vertilgen suchten, mehr und mehr so groß und mächtig, und drang zwar langsam, still und unmerklich, aber doch so unaufhaltsam durch, daß selbst vor Constantin in Sitte und Gesetzgebung schon manches Element eindrang, das nur aus christlichem Einfluß sich erklärt; bis es sich dem genannten Kaiser auch als die größte Staatsklugheit empfahl, sich offen auf Seiten der blutig verfolgten und doch nicht ausgerotteten Christen zu schlagen. Auch diese mächtige Umstaltung wird sorgfältig aus den Quellen belegt.

Nun aber, woher stammt diese Kraft ohne Gleichen, die durch Leiden und Sterben triumphiert? Es muß doch eine Kraft sein, die solches gewirkt hat, die ohne Gewalt die Gewalthaber besiegte, ja die vermochte, was die Weisheit der Weisesten und die Stärke der Stärksten nicht hatte können zu Stande bringen, was Philosophen und Kaiser nicht erreicht, kaum erstrebt hatten; die es vermochte, die Welt umzugestalten, und in die Gesellschaft, die auf Selbstsucht ruhte, den neuen wirksamen Grundsatz der selbstlosen Liebe zu pflanzen. Von wem stammt diese mächtige Kraft? auf welchen Urheber geht sie zurück? Was im großen gemeinsamen Leben der Menschheit geschieht, das entspringt zuweilen in vielen Geistern und Herzen zu gleicher Zeit und unabhängig von einander. Je größer aber eine Sache ist, desto gewisser sind es wenige, ja ist es vielleicht nur Einer, der den Gedanken zuerst ergriff, das Wort zum ersten Mal aussprach, die That allein that und durchführte, welcher dann freilich die Andern zufielen, weil sie darin verwirklicht fanden, was Alle suchten, Keiner aus sich selbst erreichte.

Eben das ist nun im höchsten Maß beim Christenthum wirklich der Fall. Fragen wir, was die Gesellschaft in ihren tiefsten Gründen umgestaltete, fragen wir die Christenheit selber, die das Werkzeug der Ausführung war, fragen wir die vorzüglichsten Christen, die in diesem Kampf die vordersten waren: keiner schreibt es sich selber zu, alle haben sie es von dem einen Jesus Christus hergeleitet. Er ist, wie man wohl auch bekennen kann, ohne in Wahrheit an ihn zu glauben, er ist gewesen „ der große Wendepunkt der Weltgeschichte. “. Und von diesem sollte die fortgeschrittene Wissenschaft bekennen müssen, daß gar nicht mit Gewißheit zu ermitteln sei, was er gewesen sei, was er gethan und gesprochen habe? Davor sollte sie als „vor einem ewigen Räthsel stille stehen müssen?“. Nämlich nicht als vor dem kündlich großen geoffenbarten Geheimniß Gottes, an das wir glauben, sondern als vor einem Räthsel, davon wir niemals wissen werden, was wir davon zu halten haben! Das wäre doch wahrlich auch wissenschaftlich betrachtet ein gar zu kläglicher Ausgang alles Forschens und Lernens! Lassen Sie uns versuchen, ob wir es wirklich zu nichts Besserem bringen können.

Wir wollen von dem ausgehen, was am wenigsten kann bestritten werden, was auch wirklich am meisten allgemein zugestanden ist. Wer war denn Jesus, ganz einfach menschlich betrachtet und von allem Wunderbaren für einstweilen abgesehen? Er war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und zwar in dem geringen verachteten Nazareth, dessen Einwohner, wo von ihnen die Rede ist, uns als rohe und beschränkte Leute erscheinen. Arm, wie er war, blieb er auch während seines öffentlichen Lebens von den Gaben seiner Freunde abhängig. Des Zimmermanns Sohn nannten ihn die Leute (Matth. 13,55), ja sogar ihn selber den Zimmermann (Marc. 6,3); er scheint dem Vater im Handwerk geholfen zu haben. Eine Schule bei den Rabbinen hat er nicht durchgemacht. Woher kommt diesem solche Weisheit? fragte man verwundert, als er zu lehren begann (Matth. 13, 54; Joh. 7, 15). Weder ein mannigfach bildender Umgang mit ausgezeichneten Menschen, noch ein Studium auserlesener Bücher ist bei ihm vorauszusetzen oder ihm abzuspüren. Nur die Schrift alten Bundes, das merkt man, die kennt er durch und durch.

Das alles sind Umstände, die hätte man ja nicht erdacht, wenn man etwas zu seiner Ehre hätte wollen erdenken. Das sind Thatsachen, die hätte am wenigsten ein Israelite von seinem Messias sich erträumt. Aber auch: das sind Verhältnisse, in denen man unstreitig wohl kann menschlich brav, gewissenhaft, redlich, tüchtig werden und selbst von schlechten Umgebungen sich vortheilhaft unterscheiden. Hingegen einen Mann, der im Innersten die Welt umgestaltet, würden auch wir nicht erwarten aus solchen Verhältnissen herkommen zu sehen. Wie soll er in so gedrückter Lage die Bildung und Menschenkenntnis; gewinnen, ohne die kein Einfluß denkbar scheint? Wie soll er dazu kommen, mit dem nöthigen Selbstvertrauen unter die Menschen zu treten, mit freiem und weitem Blick ihr Wesen und Treiben zu durchschauen?

Demungeachtet tritt Jesus auf, dieser arme, ungelehrte, unbekannte und unerfahrene Zimmermann, und zwar er tritt auf als ein junger Mann von dreißig Jahren. Er hat noch nicht die Erfahrung des Alters. Gleichwohl finden wir bei ihm nicht die hitzige Uebereilung der lebhaften Jugend. Er tritt auf ohne mächtige Freunde, ohne irgend eine Unterstützung von Seiten derer, welche die Gewalt haben, ja als einer, gegen den sich alsbald das Vorurtheil und die Eifersucht der Mächtigen erhebt. Er tritt auf und wirkt nur wenig Jahre lang, dann stirbt er den schimpflichen Tod des Verbrechers. Und in dieser kurzen Zeit, was hat er gethan? Wir schweigen einstweilen von seinen Wunderwerken, die ja Manche bezweifeln oder geradezu verwerfen. Sonst aber hat er wenig Thaten verrichtet, was man gewöhnlich Thaten heißt; keine Länder erobert, keine Staaten regiert, keine sorgfältig gegliederte Organisation der Gesellschaft gestiftet, keine Resultate gelehrter Forschung hinterlassen, keine schwungvollen Dichtungen hervorgebracht. Was wir außer jenen angezweifelten Wunderwerken von ihm haben, sind ganz einfache Reden, ohne Kunst, ohne System, bei Gelegenheit gesprochen, hier in der Kammer, dort auf der Straße, hier zu Einem oder Wenigen, dort zu großen Schaaren, höchst einfache Worte - und diese haben die Welt umgestaltet und sind noch jetzt nach 1800 Jahren vielen Tausenden theurer als ihr Leben. Das ist doch wahrlich schon zum Erstaunen. Noch mehr: er tritt auf unter einem Geschlecht, das nicht nur die Evangelien uns als ein verkehrtes und verderbtes schildern, wobei man denken könnte, sie seien parteiisch, sondern von dem auch der jüdische Geschichtschreiber Josephus ein gar nicht vortheilhaftes Gemälde entwirft. Und der junge, unbekannte und ungebildete Handwerker tritt strafend unter dieses sein Volk, hält ihm seine Sünden vor, verlangt gründliche Sinnesänderung, schilt nicht nur das arge und ehebrecherische Geschlecht überhaupt, sondern am unverblümtesten die höchsten und angesehensten Stände, die Pharisäer in ihrer scheinheiligen Genauigkeit, die Leute, welche den Ton angeben. Das thut er ohne das Ansehen des Alters und ohne den Schutz einer gesicherten äußeren Stellung, und dennoch duldet man es Jahre lang; aber er thut es auch mit einer innern Sicherheit, die nirgends eine Spur zeigt vom Einfluß seines geringen Herkommens, von der Nachwirkung seines Aufwachsens in beschränkten Verhältnissen und unter gemeinen Umgebungen. Klar und ruhig geht er seinen Gang. Nichts knechtisch-furchtsames haftet ihm an. Ohne Furcht noch Prahlen steht er den Menschen gegenüber. Wer hat ihn geheißen, aus seinem verborgenen Nazareth hervortreten? Niemand kannte ihn, Niemand rief ihn; nicht das Volk und auch nicht Jünger, die er noch gar nicht hatte; auch war es kein zufälliger Anlaß, der ihn auf den Plan rief und den Anfang einer Thätigkeit bewirkte, die nachher weiter gieng, als zuvor bezweckt war. Nichts von alle dem; sondern es war bei ihm ein rein innerer Antrieb vorhanden, der ihn bei allem Mangel an Schule und ohne alle sonst gewöhnliche Vorbereitung zum Auftreten trieb. Es war sein Gedanke, sein Wille, seine That, womit er die in ihrer Art einzige Anerkennung erreichte.

Welche Anerkennung denn? Auch das wenig berührte, gleichgültige Volk stimmte wenigstens darin mit seinen Jüngern überein, daß es ihn einen Propheten nannte (Matth. 21,16), und als einen Mann „von ergreifender prophetischer Gewalt“ anerkennen ihn wohl auch heutzutage solche, die sich nicht von ihm ergreifen lassen. Wohlan denn, was ist ein Prophet? Viele denken dabei an einen Menschen, der zu prophezeien versteht, das heißt in ihrer Meinung: zukünftige Dinge vorauszusagen, gleichgültig welche. Das wäre aber erst ein Wahrsager, noch nicht ein Prophet. Es kommt wohl auch beim wahren Propheten vor, daß er Einzelnes weissagt, was später in Erfüllung geht; aber das ist nicht die Hauptsache und nicht der Grund seines Wesens und Berufs.

Prophet ist vielmehr derjenige, der in ursprünglicher Weise den verborgenen Rath und Willen Gottes heraussagt; der aufdeckt, was bisher ein in Gott verborgenes Geheimniß war; der das Wesen Gottes, sein Werk und Walten kund macht, und zwar nach den beiden Seiten der Gerechtigkeit und der Gnade, des Gerichts und des Erbarmens. Auch der Prediger des Evangeliums hat die gleiche Wahrheit zu verkündigen. Aber die Grundlage für seine Predigt ist das geschriebene Wort. Bei ihm findet nicht das ursprüngliche Innewerden Gottes statt, dessen sich der Prophet bewußt ist; was in dieser Beziehung das Bemerkenswertheste an dem Selbstbewußtsein des echten Propheten ist, das ist die Bestimmtheit, mit der er sich von den falschen Propheten, zu denen Gott nicht geredet hat, unterscheidet (Jerem. 14,14; Cap. 23 u. 28). Er aber zeugt im Namen des Herrn von der Gerechtigkeit wie von der Gnade.

Nach der ersten Seite zeigt der Prophet dem Volke, was Gott ist und was er fordert; er schärft ihm das Gesetz ein, und zwar nach seiner innersten Bedeutung, er rügt die Uebertretung und deutet die Strafgerichte. So ist sein Wort die Stimme Gottes, die dem Volk das Gewissen schärft. Eure Opfer sind mir ein Greuel, spricht Gott durch Jesaja (1,11-15); Frevel und Feier zusammen kann ich nicht ertragen; ich mag es nicht leiden, wie das Volk mit seinen Lippen mich ehret (29, 13); davon habe ich euern Vätern nicht geboten (Jer. 7, 22). Dagegen wird als das Grundgebot eingeschärft: dem lebendigen Gott anzuhangen und nicht den Götzen; seinen Nächsten aber die einfachste Liebe und Treue zu erweisen: lernet Gutes thun, trachtet nach Recht, leitet zurecht den Frevler, schafft dem Waisen Gericht und führet der Witwen Sache (Jes. 1, 17). Unter dieser Bedingung wird den Reumüthigen neue Begnadigung verheißen.

Denn auch diese andere Seite fehlt ja nirgends bei den Propheten, daß sie dem Volk in der Gnade des Bundesgottes neues Heil und Leben in Aussicht stellen. Ich bin der Herr und wandle mich nicht, darum ist es mit euch Kindern Jakobs nicht gar aus geworden (Mal. 3,6). Ich habe Gedanken des Friedens über euch und nicht des Leides (Jer. 29,11). Freilich gilt es die Entscheidung zwischen Bekehrung oder Verderben, zwischen Leben oder Tod; und der Herzenskündiger weiß, wie Viele auf das entscheidende Wort nicht hören wollen, und deßwegen immer härter und stumpfer dadurch werden (Jes. 6,9. 10). Sie haben mich gereizet durch einen Nichtgott (dem sie sich ergeben haben), und ich will sie wiederum reizen durch ein Nichtvolk (das ich über sie bringe) (5 Mos. 32, 21). Die Heiden, mit denen sie gebuhlet haben, sollen als schwere Zuchtruthen über sie kommen. Darnach freilich, weil auch diese wiederum ihre Gewalt im Uebermuth mißbrauchen, sollen sie selber weggeworfen werden.

In Israel aber wird ein Rest übrig bleiben. Nicht das Volk in seiner natürlichen Macht wird des Heils theilhaftig werden, und sei es so zahlreich als Sand am Meer, das hilft ihm nichts; nur die Uebrigen werden sich bekehren und gerettet werden (Jes. 10,22).

Die Uebrigen, das heißt diejenigen, die in den schweren Gerichten sich von Grund aus bekehren, sich demüthigen und läutern lassen, das arme geringe Volk, das auf des Herrn Namen traut (Zeph. 3,12). Denen wird geholfen, daß sie des verheißenen Friedensreiches theilhaft werden (Jes. 2, 2 - 5), zu dessen König jenes wunderbare Kind aus der Wurzel Isai heranwachsen soll (Jes. 9, 6; 11, 1 ff).

Klingt die Schilderung seines Sieges manchmal, als werde er ein gewaltiger Kriegsheld sein, so mahnt uns doch jene Beschreibung des leidenden Knechtes Gottes, der sein Leben zum Schuldopfer giebt (Jes. 53), zu bedenken, daß nicht durch Heer oder Kraft die Hilfe soll kommen, sondern durch den Geist des Herrn Zebaoth (Sach. 4,6); und so wird auch jener Held aus Davids Stamme nicht mit dem eisernen Schwert die Widersacher schlagen, sondern nur mit dem Stab seines Mundes und mit dem Odem seiner Lippen (Jes. 11,4). Das wird der Retter sein, der die Gottlosen richtet, der in Israel das Reich aufrichtet, der aber auch dem bekehrten Ueberrest der Heiden Theil daran gibt. Auch über diese wird der Name des lebendigen Gottes als ihres Herrn, dem sie dienen, genannt werden (Am. 9,12); auch die Heiden werden indem Lichte wandeln, das über Israel aufgeht (Jes. 60,3); und so wird die ganze Erde voll Erkenntniß Gottes sein, wie Wasser den Meeresgrund bedeckt; denn das Schoß aus der Wurzel Isai steht zum Panier auch den Völkern (Jes. 11, 9. 10).

Das sind in Kürze die Grundgedanken des prophetischen Wortes. Auf solcher Grundlage ruhen die Einzelweissagungen, die je nach den wechselnden Zeitverhältnissen wechseln. Dabei ist Drohung und Verheißung der Entscheidung menschlicher Freiheit anheimgegeben. Plötzlich rede ich wider ein Volk und Königreich, daß ich es ausreißen, zerbrechen und verderben wolle. Wo sich aber das Volk bekehrt von seiner Bosheit, dawider ich rede, so soll mich auch reuen das Uebel, das ich ihm gedachte zu thun. Und plötzlich rede ich von einem Volk und Königreich, daß ich es bauen und pflanzen wolle. Wo es aber Böses thut vor meinen Augen, so soll mich auch reuen das Gute, das ich ihm verheißen hatte zu thun (Jer. 18,7 -10). So kann es wohl auch kommen, daß ein Prophet auf Glauben hin eine ganz bestimmte Errettung aus ganz bestimmter Gefahr verheißt; auf Glauben hin, und wo der Empfänger Glauben hält, so wird er nicht zu Schanden. So erfuhr Hiskia die Hilfe genau nach des Propheten wunderbarer Verheißung, da er wider den Assyrerkönig geweissagt hatte: er wird nicht kommen in diese Stadt (Jerusalem) und wird auch keinen Pfeil darein schießen (Jes. 37,33). Wenn dagegen andre Zusagen durch der Empfänger Untreue vereitelt wurden, so bleiben doch letzte Grundgedanken des Rathes Gottes und der Weissagung, die ihn nimmermehr gereuen.

Das ist ein Prophet. Und als ein solcher ist auch Jesus aufgetreten. Er begann wie sein Vorläufer Johannes der Täufer mit dem Ruf: Thut Buße! ändert euern Sinn! denn das Königreich Gottes ist herbeigekommen. Welches die rechte Gesinnung der Reichsgenossen sein müsse, das legt er seinen Hörern aufs Herz und Gewissen z. B. in jenen einfach herrlichen Worten der Bergpredigt, die nicht nur auf seine Zeitgenossen, sondern auf die Leser und Hörer aller Zeiten den unwiderstehlichen Eindruck machen, daß sie geredet seien von einem mit Vollmacht Ausgerüsteten. Wie schärft er ihnen als echter Prophet das Gewissen! es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Pharisäer und Schriftgelehrten, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen (Matth. 5, 20). Wie schärft er ihnen das Gesetz ein, und zwar nach seiner innersten Tiefe, wie es nicht nur die That der Leibesglieder, sondern die verborgenen Gedanken des Herzens meint: wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen (Matth. 5,28). Nichts Geringeres als das Größte kann genügen: ihr sollt vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist (Matth. 5,48); und dieß soll vorzüglich in Liebe selbst zu den Feinden sich bewähren (V. 44-47). So will das Gesetz Gottes erfüllt sein (Matth. 5,17): durch die doppelte Liebe zu Gott von ganzem Herzen und zum Nächsten wie zu sich selber (Matth. 22,37 ff.); aber im Wesen, nicht im Schatten, nicht in heuchlerischem Almosengeben, Beten und Fasten um der Leute willen, nicht im Lippendienst (Matth. 15, 7 ff.) oder im Halten des Sabbaths durch bloßes Nichtsthun (Marc. 3,4).

Zum freien und herzlichen Gehorsam gegen Gott soll aber das Volk sich bewegen lassen durch die Botschaft, daß das verheißene Königreich Gottes, das Königreich der Himmel herbeigekommen sei. Aber er weiß und erfährt es, daß es wiederum geht, wie bei den Propheten von Alters her. Er weiß und erfährt es, daß Viele auch durch seine gute Botschaft vom Reich nur hart und stumpf gepredigt werden; und so soll es sein nach der Gerechtigkeit Gottes bei denen, die nicht hören wollen. Die sollen hart und stumpf gepredigt werden. „Er will, daß sein Wort die Wirkung habe, wie der Regen auf dem übersättigten Lande. Wenn es die Absicht ihrer Hartnäckigkeit ist, sie wollen sich nicht bekehren, so ist es auch die Absicht Gottes: es muß so sein. “ Was sie nicht zum Heil annehmen, eben dieses muß ihnen zur Verhärtung gereichen (Matth. 13, 13 ff.). Darum ist das Ende seiner Predigt jenes Wehe über die Pharisäer (Matth. 23) und jene Weissagung wider Jerusalem und wider den Tempel, daß von demselben kein Stein auf dem andern bleiben solle (Matth. 24).

Ist es höchst auffallend, wie genau das, und zwar gegen Willen und Gebot des römischen Feldherrn Titus, in Erfüllung gieng, so darf ich doch hier nicht verschweigen, daß in diesen Weissagungen etwas Schwieriges liegt, das Manchen eine drückende Verlegenheit bereitet, Manchen ein willkommener Vorwand ist, das Ganze als Irrthum zu verwerfen. Es stehen Etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich. Dieß Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses Alles geschehe (Matth. 24,34). Wenn Jesus also spricht, sieht es nicht aus, als habe er selber die Meinung seiner Jünger veranlaßt, er werde noch bei ihren Lebzeiten zum Gericht kommen, und zwar nicht bloß über Jerusalem?

Es ist das ein Räthsel wie manches ähnliche bei den alten Propheten; die Hauptsache, um uns zurechtzufinden, liegt in der Einsicht, einmal daß diese göttlichen Dinge nicht nach dem engen Maßstab kurzlebender Menschen zu messen sind, und dann besonders, daß die Erfüllung der Weissagungen gar vielfach in anderer Gestalt, als die Worte lauteten, einzutreten pflegt, weil die Verwirklichung derselben den Einwirkungen der menschlichen Freiheit, der Treue oder Untreue anheimgegeben ist. Die alten Propheten sagen das, wie wir vernommen haben, ganz ausdrücklich. So kann es kommen, daß ein erstes Stadium des Gerichts eintritt, aber noch nicht sofort, ja noch lange nicht das Gericht im Ganzen und die Ausrichtung des verheißenen Friedensreiches. Von nun an, sagt er seinen Feinden, von nun an werdet ihr sehen das Herrschen des Menschensohnes und sein Kommen zum Gericht (Matth. 26,64). Das ist ein allmäliges Kommen durch Stationen, die können länger oder kürzer sein. Das schmälert im Geringsten nicht die ewigen unwandelbaren Grundgedanken des Gerichts und , Erbarmens, wie sie von den alten Propheten verkündiget wurden und in den Weissagungen Jesu von Neuem und für immer bekräftiget sind.

Denn auch Christus verheißt am Ende das Reich nur der kleinen Heerde (Luc. 12,32), wie Jesaja dem bekehrten Ueberrest. Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenig sind ihrer, die ihn finden, so redet der Prophet des neuen Bundes (Match. 7,14). Aber sie sollens bekommen, Alle, die bis ans Ende beharren (Match. 24, 13); und wenn von den Söhnen des Reichs, den Israeliten, die das erste Anrecht hatten, manche durch ihre eigene Schuld hinausgestoßen werden (Match. 8,12), so soll dagegen das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt geprediget werden und aus allen Völkern sollen herzukommen, die da selig werden (Matth. 24,14. u. oft).

Dieß die Predigt des Propheten von Nazareth. So redet er, nicht suchend, zweifelnd, forschend, beweisend, wie die Philosophen des Alterthums, sondern mit sanfter Gewißheit offenbarend, einfach, tief und kraftvoll, Verstand und Gewissen treffend, keine Phrasen, keine Formeln, sondern Worte des Lebens. Auch diejenigen, die mancherlei daran auszusetzen finden, oft augenscheinlich weil sie es nicht verstehen, und zwar aus Unglauben nicht verstehen, räumen ein, „unser sittliches Leben finde darin seine höchsten Ideale in den anschaulichsten Formen vorgezeichnet und auch das religiöse Wissen und Denken der Gegenwart sehe seine tiefsten Wahrheiten in manchen seiner Sprüche ausgesprochen. “

Das finden wir aber, wenn wir uns ernstlich daran hingeben, selbst bei solchen Worten, die uns zuerst befremden könnten etwa durch den Schein einer harten Rede, z. B. bei dem Verbot an jenen Jünger, unter obwaltenden Umständen seinen Vater zu begraben (Luc. 9, 60), oder bei dem strengen Vorhalt, mit dem er zuerst den hilfesuchenden Vater abweist: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht (Joh. 4,48), oder bei der scheinbaren jüdischen Härte, mit welcher er die cananäische Mutter behandelt (Matth. 15,21 ff.): überall, wenn man in den ganzen Zusammenhang sorgfältig eindringt, findet sich lichtvoll, was dunkel schien; läßt sich erkennen, wie treffend durch sein Wort der einzelne Fall entschieden ist, so daß er damit im Einzelnen zugleich eine allgemeine Wahrheit ausgesprochen hat, die sich keimfähig und fruchtbar für hundertfache Anwendung erweist. So wächst unser Zutrauen auch zu dem noch nicht Verstandenen.

Ebenso weiß er uns in den Geboten der Bergpredigt die Grundsätze seines Reiches in Einzelbeispielen anschaulich zu machen, so daß jedes Kind sie verstehen kann, und daß doch wiederum der reife Mann Tiefen darin findet, die er nicht ausschöpft; daß er namentlich inne wird, wie wenig er oft das Wort nach seinem Geist erfüllen würde, wenn er in peinlicher Gesetzlichkeit thäte, was der Buchstabe verlangt. Gilt das vom Ausreißen des Auges und Abhauen der Hand, so gilt es auch vom Almosengeben an jeden, vielleicht betrügerischen Bettler, was gar kein Almosen, das heißt Barmherzigkeitswerk mehr wäre. Und in der Art wäre noch Vieles zu sagen. Die Worte Christi sind eben Geist und Leben. Sie haben einen Geschmack der Ewigkeit, wenn ich nur z. B. an die Seligpreisungen erinnere, mit welchen er die Bergpredigt eröffnet, oder an die Reden am letzten Abend vor seinem Leiden, die uns Johannes (Capitel 14-17) aufbewahrt hat.

Ist das aber nicht zum Erstaunen, daß dem jungen, unerfahrenen Handwerker in höchstens drei Jahren seines Wirkens gelungen ist, was die schönsten Untersuchungen, die trefflichsten Einsichten, die ausgezeichnetsten Schriften der Weisen Griechenlands, eines Platon und Aristoteles nicht erreichten? daß er und er allein die tiefsten Wahrheiten über Gott und den Menschen und über des Menschen göttlichen Beruf, über die Liebe Gottes zu uns und über unsre Liebe zu Gott und dem Nächsten zum Gemeingut des Volks, ja der Völker gemacht hat? Woher hat er das? wer ist er, daß er solches vermochte? Wir fangen an größer und immer größer von diesem Propheten zu denken.

Das Größte aber ist, daß er die Sanftmuth und Liebe, die er forderte, im vollen Maße selber besaß. Sein Wort ist durch den Wandel bestätigt. Das ist in irgendwelchem Maß auch sonst beim Propheten die Regel. Er thut Gott kund nicht durch sein Wort allein, sondern auch durch sein persönliches Verhalten. Es ist mit dem Stempel einer bösen Ausnahme gezeichnet, wenn Bileam zum Trotz seiner Unlauterkeit Gott dienen und als Prophet seinen Rathschluß verkündigen muß. Sonst sind es Männer des Glaubens, des heiligen Ernstes, des Gehorsams im schweren Leiden für die Wahrheit, welche dem Herrn als seine Werkzeuge dienen. Siehe, spricht Jesaja, hier bin ich und die Kinder, die mir der Herr gegeben hat zu Zeichen und Wundern in Israel (8,18). Wie Schweres hat Jeremia in seinem Beruf ertragen müssen und herrlich ertragen! Wie Hartes mußte sich Hosea gleich zum Eintritt in seinen Prophetenberuf gefallen lassen, da ihm geboten wurde, ein bisher hurerisches Weib zu heirathen! ein auffallender Befehl, über den schon viel unreiner Spott ergossen wurde, und der doch, wenn wir den ganzen Zusammenhang recht verstehen, eine der Stellen ist, wo die heilige Majestät und Gnade Gottes ganz besonders herrlich leuchtet.

Das aber steht mit dem geheiligten Charakter jener Gottesknechte keineswegs im Widerspruch, vielmehr gehört es dazu, daß sie bei Gelegenheit das Sündenverderben, das auch ihrem Herzen von Natur anhaftet, aufs ergreifendste bekennen. Wehe mir! spricht Jesaja, ich bin ein Mann unreiner Lippen und wohne unter einem Volk unreiner Lippen (6,5). Das ist nun bei Jesu nicht der Fall. Einstimmig bezeugen seine Jünger den Eindruck, den er ihnen gemacht habe, daß in ihm das prophetische Wort (Jes. 53,9) erfüllt worden sei: Er hat keine Sünde gethan, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden (1. Petr. 2,22); er hat - aus eigener Erfahrung nämlich - von keiner Sünde gewußt (2 Cor. 5,21).

Sein ganzer Wandel macht auch wirklich den Eindruck von reiner, fleckenloser Heiligkeit. Zwar auch hierin begegnen uns Züge, die uns auf den ersten Blick befremden: hier ein Wort gegen seine Mutter, das wie eine Verletzung der Ehrerbietung lautet: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? (Joh. 2,4); dort sein Eifern gegen die Krämer im Tempelvorhof (2,15. 16); ein andermal sein Schelten der Pharisäer, die ihn doch zu Gast geladen hatten (Luc. 11,39ff.); wiederum jene Schädigung des Eigenthums der Gadarener (Marc. 5, 43), oder jenes Verfluchen des unschuldigen Feigenbaums, und was dergleichen mehr ist. Solches sind Züge, die wir zuerst nicht begreifen; vielleicht aber lernen wir nach und nach den einen oder den andern desselben in solchem Licht erblicken, daß, was uns früher befremdete, uns nicht nur keinen Anstoß mehr bietet, sondern als ein neuer Zug seiner reinen und heiligen Herrlichkeit einleuchtet. So ist jenes Wort gegen seine Mutter nicht hart und verletzend, nur fremd und ablehnend; sie soll gleich zum Anfang seines amtlichen Wirkens verstehen, daß sie fortan nicht mehr als Mutter befehlen dürfe, sondern ihn nach seiner Einsicht und zu der Stunde, die er als die seinige erkenne, müsse schalten lassen. „Wenn Jesus seine Mutter mit strengem Wort zur Geduld verweist und sie in seinen Beruf sich nicht einmischen läßt, so hat er ihr dadurch etwas gegeben, was sie brauchte, wenn sie zum Glauben an ihn kommen sollte. Für Maria war es aus nahe liegenden Gründen schwerer als für Andere, sich ihm als ihrem Erlöser, an den sie wie Andere glauben müsse, unterzuordnen. Daher konnte die Liebe zu ihr, die nicht ohne Wahrheit sein durfte, sich nicht anders als dadurch beweisen, daß er, wo er in seinem Berufe handelt und redet, ihr um nichts mehr zugesteht als Andern. Indem er sie so in die ihr, wie sie auch bald fühlt, gebührende Stellung versetzt, erleichtert er ihr so viel als möglich den Glauben und gibt dem gewohnheitsmäßigen Zusammenleben ein Gegengewicht. Er ehret sie als seine Mutter, aber nicht auf Kosten seines Vaters, seines Berufes und der wahren auf die Seele gerichteten Liebe zu ihr. “ Und so könnten wir uns leicht auch über die andern Züge zurechtfinden. Jedes neugewonnene Licht aber stärkt uns das Vertrauen auch in Bezug auf das, was wir noch nicht fassen. Es ist jetzt nicht möglich, ins Einzelne einzugehen. Ich habe es anderweitig in einer Weise gethan, auf die ich mich glaube berufen zu dürfen.

Auf Eins aber möchte ich Sie noch aufmerksam machen. Auch diejenigen, die an solchen unbegriffenen Zügen rütteln und kritteln, wagen doch, die offenbar Ruchlosen abgerechnet, kaum je geradeheraus zu sagen: hier hat Jesus gesündigt, sondern nur etwa: wenn das geschichtlich wahr wäre, so wäre es ein Abbruch an seiner Vollkommenheit, eine Schwäche oder Beschränktheit. Solche Macht hat auch über ihre Gemüther das „überaus hohe und erhabene Christusbild“.

Aber allerdings, es genügt nicht, ihm nur diese unbestimmte, überaus hohe Erhabenheit einzuräumen; das Evangelium verkündigt von ihm durchaus, daß er ohne Sünde gewesen sei. Der Zweifler kann nun freilich immer wieder einwerfen: woher will man das mit Sicherheit wissen? wie Weniges ist uns doch von ihm bekannt! einige Bruchstücke seines öffentlichen Lebens; aus den dreißig Jahren seiner verborgenen Jugend ein einziger Zug. Wenn nun auch die Feinde trotz allem Auflauern keine gegründete Anklage, sondern nur Verleumdungen, Verdrehungen, falsche Zeugnisse wider ihn aufbringen können; wenn Pilatus keine Schuld des Aufruhrs an ihm findet; wenn Judas verzweifelt, daß er unschuldiges Blut verrathen habe: was können doch diese über die Tiefen seines Herzens bezeugen? Ja selbst die Jünger, welche den stetigen Eindruck tadelloser Reinheit von seinem Wandel empfingen, wußten nicht sein ganzes Leben und schauten ihm nicht ins Innerste hinein.

Wir dürfen es zwar nicht gering anschlagen, was sie gesehen und gehört haben, daß darunter nie das Geringste war, was anders als durch Mißverstand, wenn nicht durch Böswilligkeit mißdeutet werden konnte. Wissen wir doch, wie leicht auch denjenigen, der die größte Selbstbeherrschung besitzt, gerade in kleinen Dingen ein Fehltritt übereilt; und nichts davon bemerkten sie je. Dabei aber ist sein ganzes Wesen ferne von aller Berechnung, von jedem Gemachten, Erzwungenen, Erkünstelten. Einfach und groß ist Wort und That. Fein und genau trifft er die Gewissen, deckt er den Grund der Herzen auf, denn er kennt die Sünder in ihrer Sünde und straft sie zu ihrem Heil. Und doch bei aller Schärfe seines Blicks ist er kein Verächter der Menschen, sondern ein Erbarmer. Welche zarte Liebe hat er für die gemeine Samariterin, für die Sünderin, die ihn salbt, für den gefallenen Apostel, für das Jerusalem, das ihn verwirft. Ihn jammert der Schafe, die keinen Hirten haben. Vater, vergieb ihnen! das ist der Athem seines ganzen Lebens. Sanftmuth und Demuth, Gnade und Wahrheit ist sein Wesen; diesen Eindruck empfingen die Empfänglichen; kein Zug in seinem Leben störte denselben.

So haben sie uns, was sie erfahren hatten, überliefert in einer Schilderung, die ihre Wahrheit durch sich selbst bezeugt. Woher hätten sie es auch genommen, wenn sie es nicht geschaut und erlebt hätten? Dann hätten sie es ja aus sich selber, aus ihrer inneren Anschauung, aus dem eigenen Wesen schöpfen müssen. Aber tragen denn wir Menschen ein solches Bild von tadelloser Reinheit in uns selber? Die Forderung derselben allerdings, eine Forderung unseres Gewissens. Aber die Erfüllung dieser Forderung, wer schaut sie in sich selber, daß er sie zeichnen könnte? Welcher Dichter oder Geschichtschreiber vorher und nachher hat ein Bild davon entworfen? Wohl sagt Xenophon von seinem edlen Meister, von Sokrates: Keiner hat je den Sokrates irgend etwas Gottloses oder Unheiliges weder thun sehen noch reden hören. Aber wie viel äußerlicher und niedriger ist der Begriff des Heiligen bei dem Griechen als bei den Evangelisten.

Eine Zeichnung aber wie diejenige des heiligen Wandels Jesu ist ohne ihres Gleichen: so fleckenlos rein, und merken wir es wohl, zugleich so lebensvoll, so naturwahr, so individuell persönlich, wie es keine menschliche Phantasie zu erdichten vermöchte. Was brächten doch wir Menschen zu Stande, wenn wir aus unsern Mitteln das Bild eines sündlosen Menschen entwerfen müßten? sündlos! würden wir sagen, und würden lauter Verneinungen dieser Sünde und jener Sünde, lauter Superlative von Tugenden und Trefflichkeiten an einander reihen. Aber eine lebendige persönliche Charakterzeichnung hervorbringen, wie es doch diejenige des Herrn im Evangelium unstreitig ist, und dazu dann eine Geschichte erdenken, worin sich diese Persönlichkeit in den mannigfachsten Beziehungen durchaus bewährte, und das alles ungezwungen, naturgemäß, schlicht und groß: das würden wir wahrlich, das würden auch die größten Dichter bleiben lassen. Die Evangelisten haben es gethan, sie haben es ohne geniale Dichter zu sein in kunstloser Weise gethan; sie haben es so gethan, daß der Mißverstand sich an manchem stoßen kann, bis das rechte Verständniß den Anstoß als einen neuen Zug der Herrlichkeit erkennt; sie haben es so gethan, daß sie uns nicht verbergen, wie manches an seinem Wesen ihren eigenen hergebrachten Vorstellungen von gesetzlicher Frömmigkeit und von demjenigen, was dem Messias zieme, widerstritt; sie haben es thun können, weil sie Geschautes und Erlebtes melden.

Zu diesem Charakter des Erlebten und Wirklichen gehört namentlich das Eine, daß sie uns die sündlose Heiligkeit Christi nicht als eine empfindungslose Erhabenheit über alle Versuchung schildern, sondern als eine Reinheit allerdings von Haus aus, die sich aber im Kampf bis ans Ende bewähren muß. Das Schwerste dieses Kampfes steht darin, daß Jesus nicht mehr in der Lage des ursprünglichen Menschen sich befindet, daß er nicht in einem Zustand des ungestörten Friedens heranwächst, sondern von Anfang seiner Entwicklung an dringt die Verführung auf ihn ein, sieht er Bilder der sündlichen Lust um sich her, liegt die Last des Schmerzes auf ihm, schrecken ihn die Leiden aller Art, die in ihrer Gesammtheit der Tod heißen, und die uns die Schrift als der Sünde Sold betrachten lehrt. Dawider sträubt sich die Natur, je reiner sie ist, um so entschiedener. Das ist keine Sünde, sondern gehört zur Güte seiner Natur. Ich muß mich taufen lassen mit einer Taufe, spricht er, und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde (Luc. 12,50). Du bist mir ärgerlich, schilt er den Petrus (Matth. 16,23), weil er spürt, wie die Versuchung, sich dem Leiden zu entziehen, in sein Inneres eingehen möchte. So trägt er fortwährend die Last, die der Umgang mit den Sündern ihm auferlegt (Matth. 8,17).

Das steigert sich bis zum Zittern und Zagen und bis zum Gefühl der Gottverlassenheit. So wenig ist er ein gemalter Held. So tief und natürlich menschlich fühlt er. Aber in dem allem überwindet er. Nirgends ein Geltendmachen des Eigenen, anders als wie das Kind vor dem Vater das Herz ausschüttet. Aber den reinen, wahren Zug seiner Natur, sich wider Qual und Tod zu sträuben, wie rein und wahr bringt er ihn zum Opfer: Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine. Wer diesen Sieg nicht als größer erkennt denn jemals ein auf dem Schlachtfeld erfochtener gewesen ist, der weiß noch nicht, was groß ist vor Gott. Wer diese Vollendung im Gehorsam des Leidens, wie der Hebräerbrief es nennt, mit der Angst und Verzagtheit des Sünders verwechselt, der hat noch nicht zu unterscheiden gelernt.

Das ist der Sündlosheilige, wie ihn die Evangelisten nach dem Leben schildern, das sie geschaut haben. Wolltet ihr aber immer noch sagen: unser Wissen davon ist viel zu unvollständig, bruchstückartig, unsicher und mangelt des Beweises; wie können doch auch die vertrautesten Jünger für das Innerste bürgen? so antworte ich: wir haben ein Zeugniß, das auf alles bisher Gesagte das Siegel drückt: wir haben die Aussage Christi von sich selber. Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen? so fragt er einmal seine Feinde (Joh. 8,46), und diese können ihm nur mit grundlosen Schmähungen und Lästerungen antworten. Einen Beweis gegen ihn können sie nicht aufbringen. Doch was sie sagen, ja selbst, daß sie verstummen, gilt noch wenig. Das Entscheidende steht darin, daß er also fragen durfte. Welcher Mensch, und auch der Edelste unter den Sündern, dürfte selbst an die rohesten seiner Mitmenschen eine solche Frage richten? So wir sagen: wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, ja wir machen den heiligen Gott zum Lügner (1 Joh. 1, 8. 10). Also der äußerste Frevel läge in jener Frage, wenn auch nur im verborgensten Grund des Herzens bei ihm das heimliche Bewußtsein einer Sünde läge.

Oder sind unter euch solche, denen die Behauptungen heutiger Kritiker ein Mißtrauen gegen das Evangelium Johannis und also auch gegen diesen Bericht desselben eingeflößt haben? Aber es hilft euch nichts, euch zu den drei ersten Evangelisten zu flüchten; sie geben euch die gleichen Aussagen Jesu von sich selber. Gleich in der Bergpredigt sagt er zu den Menschen: ihr, die ihr arg seid (Matth. 7,11), sich selber aber stellt er nicht zu den Argen, sondern ihnen gegenüber als den, der nicht arg sei. Die Feinde loben ihn, da sie schmähend von ihm sagen: Jesus nimmt die Sünder an (Luc. 15,2); niemand aber nimmt ihn als einen Sünder an. Er ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist (Luc. 19,10); ihn aber braucht niemand zu suchen und selig zu machen. Seine Jünger ohne Ausnahme lehrt er beten: vergieb uns unsre Schulden; er aber betet nicht um Vergebung seiner Schulden. Nirgends kommt eine Aeußerung des eigenen Schuldbewußtseins vor, so klar und wahr er den Sündenzustand der Menschenherzen aufzudecken versteht. In keinem einzigen seiner Gebete demüthigt er sich als ein Sünder und fleht um Gnade, während es sonst die am meisten Geförderten unter den begnadigten Sündern auszeichnet, daß sie den tiefsten Einblick haben in die Ungerechtigkeit des natürlichen Herzens, und auch bei Gelegenheit den stärksten Ausdruck für das eigene Verderben, die ergreifendsten Bekenntnisse und Selbstanklagen. Jesus aber erscheint uns in allen Aeußerungen über sich selber als heilig, unschuldig, unbefleckt und von den Sündern abgesondert.

So redet er von sich. Wenn ers nicht in Wahrheit wäre, welche unbegreifliche Selbsttäuschung müßten wir darin erkennen, und welchen lästerlichen Frevel zugleich. Darin steht die Macht seines Zeugnisses von sich selber, gegen das man sonst einwerfen möchte: wer darf in eigener Sache zeugen? hierin darf er, ja hierin muß er es thun, eben weil kein andrer vermöchte, aus sich selber einen Blick in dieses Allerheiligste zu thun. Wir aber müssen ihm glauben, weil eine Selbsttäuschung darin oder gar eine frevle, wahnsinnige Lüge, verbunden mit der hehren Gestalt seines Wesens, mit der heiligen Hoheit alles dessen, was wir beurtheilen können - ich sage nur: das Allerunbegreiflichste wäre.

Noch einen Einwurf darf ich nicht unterdrücken; er wäre der stärkste, wenn er triftig wäre; wenn es nämlich gelänge, aus dem eigenen Bekenntniß Jesu sein Sündenbewußtsein zu beweisen. Warum stellt er sich denn zur Taufe bei dem Täufer, der ja durchaus die Taufe der Buße predigt und vollzieht, und dem dabei alles Volk seine Sünden bekannte? Darauf muß ich erwidern: es ist durchaus ungehörig, nur festzuhalten, daß Jesus sich taufen ließ, ohne gleichfalls festzuhalten, wie er es that und was dabei vorging. Wenn wir aber dieses betrachten, so sehen wir, daß in den Worten, die zwischen Jesu und dem Täufer gewechselt werden, aufs allerbestimmteste ausgesprochen wird, daß Jesus bei der Taufe kein Bekenntniß eigener Sünden ablegte; daß er also nicht als Sünder, sondern nur als Mittler sich dieser Ordnung unterzog; in dem Sinne nämlich, daß er damit sein Amt antrat, welches dann stund, daß er in das Mitgefühl mit der Noth der Sünder einginge und auf dem Weg des Leidens um der Welt Sünde willen alle Gerechtigkeit erfüllte (Matth. 3, 13-17).

Wenn aber dieß zu jenem Beweise nicht taugt, lautet dann nicht um so stärker jenes andere Wort, das er dem reichen Jüngling erwidert (Matth. 19,17)? Guter Meister, hatte dieser gesagt, was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott! Was wollen wir weiter? sagen Manche; hören wirs denn nicht aus seinem eigenen Munde? was heißest du mich gut? Niemand ist gut als der einige Gott! Was kann das anders natürlich und ungezwungen bedeuten, als: du irrest dich, wenn du mich gut heißest; spare diese Bezeichnung für Gott, dem sie allein gebührt.

Ist das wirklich das rechte Verständniß? es wäre das rechte, wenn unser einer das Wort geredet hätte. Aber wie dürften wirs bei Jesu so verstehen, so lange jene Reihe ganz anderer, entgegengesetzter Aussagen in Kraft bleibt? Ja unsre Stelle selber, im Zusammenhang betrachtet, verbietet uns jene Auffassung. Denn gleich nachher folgt ja der Ausspruch über die Reichen, wie schwer sie ins Himmelreich kommen, und da die Jünger darüber erschrecken, der weitere Ausspruch von allgemeiner Gültigkeit: was bei den Menschen unmöglich, das ist bei Gott wohl möglich. Gott kann machen, daß sie hineinkommen. Jesus aber ist nach dem ganzen Evangelium nimmermehr unter diejenigen zu rechnen, die nur durch Gottes errettende Macht, aus sich selber aber unmöglich hineinkommen müßten, „denn das Himmelreich ist in ihm, und wo er hinkommt, da ist das Himmelreich nahegekommen,“ und er ists, welcher Ruhe schafft den Seelen der Mühseligen und Beladenen (Matth. 11, 28. 29). Also kann er auch nicht haben sagen wollen: was heißest du mich gut? ich bin nicht gut! sondern nur: was heißest du mich gut? du sollst mich nicht so heißen! Das Gutsein ist keine Sache, die mit solchem Heißen und Rühmen abgemacht wird, daß du mich nur brauchtest guter Meister zu nennen, und nun sagte ich dir auch mit einem einzigen leichten Worte, was du sollest Gutes thun, um auch wie der gute Meister gut zu werden. Nicht also; denn Niemand ist gut, als der einige Gott. Daß er selber, Jesus, gut sei, weil er allezeit in Gott sei und Gott in ihm, das läßt diese Rede die Verständigen merken. Für den reichen Jüngling verhüllt er einstweilen sein Gutsein und sein Gottsein miteinander. Ein oberflächliches Loben des Ersten ohne Anerkennung des Zweiten gestattet er nicht.

Ist also Jesus nach seinem eigenen Zeugniß, dem wir zufallen müssen, der Sündlosheilige, was wollen wir hiezu sagen? Er ist ein sittliches Wunder, das müssen wir erkennen. Wer dürfte sagen, das sei unmöglich, weil Sündigen zum Wesen des Menschen gehöre? Zu seinem jetzigen Zustand gehört es freilich, das ist uns in einem früheren Vortrag vorgeführt worden; wer aber sagen wollte: zu seinem ursprünglichen Wesen gehöre es, der müßte von der Sünde leichtsinnig reden wie von einem geringen Uebel, und müßte überdieß den Schöpfer frevelhaft beschuldigen, auf den ja dann die Urheberschaft zurückliefe.

Die christliche Lehre dagegen empfiehlt sich nicht nur dem Gewissen, indem sie die Schuld des Bösen dem Menschen zur Last legt, sie empfiehlt sich auch wenigstens schon durch ihre Folgerichtigkeit dem Verstande; denn es ist ja durchaus consequent, daß sie für die natürlichen Menschen den Grundsatz festhält: was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, und daß sie eben deßwegen von dem Sündlosheiligen einen andern Eintritt ins Leben lehrt, wie es im ältesten Bekenntniß der Christenheit übereinstimmend mit den Evangelien lautet: der empfangen ist vom heiligen Geiste, geboren aus Maria der Jungfrau. Das ist freilich ein Wunder. Wer aber an das Wunder der sündlosen Heiligkeit Jesu wirklich glaubt, von dem ist es unfolgerichtig gehandelt, wenn er dem Wunder seiner Erzeugung die Zustimmung verweigert. Er muß dann auf seine Hand versuchen, eine göttliche Fernhaltung der Vererbung der Sünde auch bei der gewöhnlichen Art der Erzeugung aufzustellen; also für Jesum das, was der Papst im December 1854 für Maria decretiert hat; ein selbsterdachtes Wunder statt des biblischen Wunders; ja ein Wunder, das weit unfolgerichtiger die Ordnung durchbricht. Denn daß sündliche Eltern sündliche Kinder erzeugen, und daß ein Sündloser nicht von Sündern erzeugt sei, beides stimmt zusammen. Daß aber durch die Erzeugung von sündlichen Eltern einmal nicht geschehe, was sonst immer geschieht, das wäre vielmehr ein übel verständliches Brechen der Regel.

Aber freilich gegen die Wunder überhaupt pflegt die Denkweise, die sich gern im ausschließlichen Sinne die moderne Bildung nennt, mit lautestem Widersprechen sich aufzulehnen. Dieß Durchbrechen der ewigen Weltgesetze, als könnte Gott seine besondern Zwecke nur erreichen, indem er „seine unzulänglich gewordene Schöpfung nachbesserte,“ dawider eifern sie in den stärksten Ausdrücken. Das ists eben, was ihnen an dem biblischen Jesus so zuwider ist, dieser „Wunderkram“, wie sie es zu nennen wagen, der ihnen freilich auf jeder Seite des Evangeliums begegnet.

Wir lassen für jetzt die Wunderthaten Jesu im Einzelnen stehen, und wenden uns zu dem, was wir schon im Bisherigen hier und da durchscheinen sahen. Es war eine Zeit und ihre Nachwirkung ist wohl noch gar nicht vorbei, da pflegten sich Viele, die in der Zuversicht zu den Wundern Christi irre geworden waren, um so lieber dessen zu getrösten, daß sie ja seine herrliche Lehre und überdieß sein reines erhabenes Vorbild hätten. Aber können wir wirklich dabei stehen bleiben? Ich schweige davon, daß uns sein bloßes Vorbild durchaus nicht erlösen, sondern vielmehr als ein allzeit unerreichtes nur richten würde. Aber auch seine Lehre will schärfer angesehen sein.

Es geht durchaus nicht an, sich etwa nur seiner „reinen Moral“ zu freuen. Ueberall ist seine Person der Hauptgegenstand, der Mittelpunkt aller seine Lehre. Obwohl von Herzen demüthig, als der alles, was er ist, nur durch den Vater sein will, erhebt er nichts destoweniger frei und offen die höchsten Ansprüche. Nicht nur das Königreich Gottes, das Königreich der Himmel prediget er, sondern sich selbst verkündet er als den König dieses Reiches. Das Himmelreich ist sein Reich; er ist Christus, das ist ja die griechische Uebersetzung des hebräischen Worts Messias, der gesalbte König. Darin ist er von an einig mit sich selber; und nur darum hält er noch zurück, weil der niedere Sinn des Volkes so vielfach jenes Prophetenwort vergessen hat: Nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist solls geschehen, spricht der Herr Zebaoth (Sach. 4,6). Deßwegen wären sie gar zu geneigt gewesen, mit fleischlichem Aufruhr ihn zum weltlichen König zu machen, und auch die eigenen Jünger Christi hätten in solcher Versuchung noch keine lautere Klarheit gehabt. Das ists, was ihm die heiligste Zurückhaltung auferlegte.

In ihm selber aber ist darüber kein Schwanken. Er ist des Menschen Sohn, wie er sich vorzüglich gern zu nennen pflegt. Das ist ein geheimnißvoller Titel, unscheinbaren Klangs und doch von hoher Bedeutsamkeit. Die Niedrigkeit und die Hoheit sind darin wunderbar verbunden. Es ist eine Bezeichnung, die auf Daniels Weissagung zurückgeht (Cap. 7). Derselbe schaute die Königreiche der Welt unter dem Bild von gewaltigen räuberischen Thieren. In diesem heidnischen weltlichen Herrschen ist es das Thier im Menschen, das seine Macht, aber auch seinen Grimm entfaltet. Dann aber kommt vor den Höchsten Einer, wie eines Menschen Sohn, dem wird es gegeben, das Reich aufzurichten, das allein ein ewiges Königreich ist. Dieser Menschensohn ist im Aeußeren gering an Kraft, unscheinbar gegenüber den gewaltigen Thieren; dennoch ist er es allein, welcher der Herrschaft des Thieres im Menschen ein Ende macht und ein wahrhaft menschliches Reich aufrichtet. Als solchen Menschensohn bezeichnet sich Jesus, seine Herrlichkeit verhüllend und enthüllend in Einem. Des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege (Matth. 8,20); ihn wird der hohe Rath überantworten und zum Tode bringen (Matth. 17,22); um seiner Niedrigkeit willen kann man verkennen, wer er ist und ihm noch ohne die äußerste Sünde widersprechen (Matth. 12,32). Aber eben dieser geringe Menschensohn wird dennoch als der König kommen, um über alle Welt zu richten (Matth. 25,31); er wird kommen in seiner Herrlichkeit, ja in der Herrlichkeit seines Vaters, das ist Gottes (Matth. 16, 27). Also des Menschen Sohn selber ist Gottes Sohn.

Gottes Sohn! das ist im alten Testament eine Bezeichnung, die vom Volk Israel im Ganzen (2. Mos. 4,22), von den Israeliten auch im Einzelnen (5. Mos. 14,1; Jes. 1,2), von seinen Regenten insonderheit gebraucht wird (2. Sam. 7,14). Es ist darunter niemals bloß das natürliche Geschaffensein verstanden, sondern immer ein neuer Anfang des Geisteslebens aus Gott; bei den Regenten besonders bedeutet der hohe Name, daß sie mit Gottes Geist gesalbt seien, um Gottes Gerechtigkeit handhaben zu können.

Von Christo aber gebrauchen die Evangelisten, überhaupt die neutestamentlichen Schriftsteller den Ausdruck in einem noch höhern Sinn; sie nennen ihn so als den, der in einziger unvergleichlicher Weise sein Leben aus dem Leben, sein Wesen aus dem Wesen des Vaters habe; am entschiedensten das Evangelium Johannis, wenn es ihn nennt den eingeborenen Sohn vom Vater, voller Gnade und Wahrheit, das Wort Gottes, das von Anfang an bei Gott und selbst Gott war, in der Fülle der Zeit aber Fleisch ward und unter uns wohnete.

Es sind aber vielleicht unter Ihnen Etliche, denen mans eingeredet hat, die Lehre vom Sohne Gottes in diesem höchsten Sinn sei gar nicht die ursprüngliche, sondern sei erst später durch den Apostel Paulus und durch den Verfasser des Evangeliums Johannis, das aber unecht sei, aufgebracht worden. Es ist jetzt bei Manchen Mode, wirklich nur Mode, das Evangelium Johannis mit besonderer Ungunst als eine späte Erdichtung zu behandeln. Aber was hilft ihnen das? Wenn wirs mit den drei ersten Evangelien genau nehmen, so finden wir in ihnen völlig die gleiche Würde von Jesu ausgesagt, wie bei Johannes. Lasset uns zusehen. Wir stellen Aussprüche nur aus den ersten drei Evangelien zusammen.

Vom Menschensohn, der da kommen werde in der Herrlichkeit seines Vaters (Matth. 16,27), haben wir schon gehört. Dieser Menschensohn nennt sich selber wiederholt in Reden, die am wenigsten können bestritten werden, den Bräutigam (Matth. 9,15; 25, 1 ff.); das ist aber von Alters her die Bezeichnung des himmlischen Herrn und Gottes, der sich mit seinem Volke vermählen will in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit (Hosea 2,19). Derselbe Menschensohn wird ausdrücklich bei der Taufe und bei der Verklärung durch eine Stimme von oben als Gottes lieber Sohn anerkannt (Matth. 3 u. 17). Oder wenn wir davon schweigen wollen, weil jene Zweifler am meisten solche Wunder anzweifeln, so hören wir dagegen, wie er sich selber in unbestrittenen Gleichnissen ankündigt. Nachdem der Herr des Weinbergs vergeblich seine Knechte zu den bösen Weingärtnern gesandt hat, schickt er endlich noch seinen einzigen geliebten Sohn (Marc. 12,6), der somit von allen Knechten unterschieden wird. Denn er ist der König des himmlischen Königreichs, und die Engel sind seine Unterthanen, die er schicken wird, das Gericht zu vollziehen, laut den Gleichnissen vom Unkraut und vom Netz (Matth. 13,41. 49). Ja, über die Engel erhaben ist er auch nach jener andern Aussage von sich selber, da er sagt: von der Stunde des Gerichts wisse Niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater (Marc. 13,32); denn hier ist klar, daß der Sohn zwar in seiner menschlichen Niedrigkeit unter den Vater, gleichwohl aber über die Engel gestellt wird. Und so redet er auch als der Weltrichter schon in der Bergpredigt; er ists, in dessen Namen auch unlautere Jünger weissagen und Wunder thun, zu dem sie vergeblich sagen werden: Herr, Herr! denn er wird sie als Uebelthäter von sich weisen (Matth. 7, 21—23). Er ists, der kommen wird und alle Völker vor seinem Richterstuhl versammeln (Matth. 25,31 ff.). Viel wichtiger als die Frage nach dem Datum ist die, ob er überhaupt ohne Frevel also reden durfte. Wenn aber ja, dann verliert auch die Frage nach Zeit und Stunde ihr Gewicht.

Aber nicht nur beim künftigen Gericht verheißt er seine Herrlichkeit zu offenbaren, er redet schon während seines Erdenlebens aus der Vollmacht seiner Majestät heraus. Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist, - Ich aber sage euch (Matth. 5): wer darf in solcher Art gegenüber der alten Gottesordnung eine neue aufstellen? Wer darf von sich sagen: des Menschen Sohn ist ein Herr auch des Sabbats, größer als der Tempel, größer als Salomon und Jonas (Matth. 12,8. 6. 41. 42)? Wer darf sich an die Stelle setzen, die im Alten Testamente Gott einnimmt? Denn wie sich dort die ganze Entscheidung dreht um Treue zu dem lebendigen Gott oder Abfall von ihm, so spricht im Neuen Jesus: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich (Matth. 12,30); wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht werth (Matth. 10,37). Ich frage: welcher Mensch, der nicht mehr als Mensch wäre, dürfte so reden, und dürfte für alle seine Jünger die himmlische Belohnung daran knüpfen, wenn sie um der Gerechtigkeit willen, oder gleichbedeutend: wenn sie um seinetwillen verfolgt werden (Matth. 5,10. 1 l)? Wahrlich, das ist in Vollmacht geredet! So auch wenn er den Täufer als seinen Elias bezeichnet (Matth. 11,14. 15), und ausruft: wer Ohren hat zu hören, der höre! Wem sollte denn Elias vorangehen, als dem Herrn vom Himmel selber (Mal. 4,5; 3,1)? und wem war Johannes vorangegangen? Nicht weniger ist es in Vollmacht geredet, wenn Jesus dem Gichtbrüchigen die Vergebung der Sünden zuspricht (Matth. 9,2. 6); oder wenn er allgemein die Mühseligen und Beladenen einladet: kommet her zu mir, Ich will euch erquicken (Matth. 11,28).

Diese letztere Stelle hängt zusammen mit einer, die völlig wie bei Johannes lautet (V. 27; Luc. 10, 22): Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und Niemand kennet den Sohn, denn nur der Vater, und Niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Wenn er einmal wirklich so geredet hat, muß er dann nicht nothwendig viel öfter, als die ersten Evangelien melden, so geredet haben? fordern sie hier nicht selber, daß das vierte zur Ergänzung eintrete?

Ueberhaupt was ist es alles, das er in jenen Stellen, die wir nur aus den ersten Evangelien zusammengestellt haben, von sich aussagt, was ist es anders als eine göttliche Würde und göttliche Werke? Die setzen aber nothwendig auch ein göttliches Wesen voraus, wie es eben das Evangelium Johannis am hellsten verkündiget. Aber wahrlich die andern drei nicht weniger. Wenn er den Jüngern zusagt: wo zween oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen (Matth. 18,20); wenn er ihnen verheißt: Ich will auf euch senden die Verheißung meines Vaters, nämlich den heiligen Geist (Luc. 24,49), so fragen wir abermal: welcher gewöhnliche Mensch dürfte also reden? Vollends das große Wort am Ende des Evangeliums Matthäi (28, 18-20): Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden; darum gehet hin, machet zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie taufet auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe; und siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende - wo ist ein größeres Wort bei Johannes? Wir taufen seit der Apostel Zeit alle Glieder der Kirche Christi, das ist eine fortgehende Thatsache. Die Apostel tauften sie nach der Einsetzung Christi, des Auferstandenen. Denn nicht vor seinem Tode hat er diese Ordnung eingesetzt. Da er es aber that, stellte er seinen Namen in die Mitte zwischen Vater und Geist, also mitten ins göttliche Wesen hinein. Er läßt auf seinen Namen taufen, wie auf den des Vaters und des Geistes. Er verpflichtet uns für sich wie für den Vater und den Geist. Die höchsten Aussagen, die wir bei Johannes lesen, sind nicht größer als dieses einzige Wort. Ich bin das Brot des Lebens (Joh. 6,35); Ich bin das Licht der Welt (8,12); Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, Niemand kommt zum Vater, denn durch mich (14,6); Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe (11,25); ja: wer mich siehet, der stehet den Vater (14,9), denn Ich und der Vater sind Eins (10,30): was ist es anderes, als was wir in jenem Gebot vernehmen: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes! Welcher größte Mensch, welcher höchste Prophet, welcher frömmste Apostel dürfte auch nur von ferne so etwas ohne den äußersten Frevel sagen?

So steht jetzt überhaupt die Frage für uns. Wir sehen, das ist nicht wegzubringen, das ist nicht abzuschneiden, das ist nicht auszuscheiden, denn es durchzieht allzusehr jede Faser des Evangeliums: der gleiche Jesus, der uns den Eindruck der Klarheit und Milde, der Sanftmuth und Demuth, der Weisheit und Heiligkeit in solcher Vollendung durchgängig macht; der gleiche Jesus, „der das sittliche Ideal in dem Gewissen der Menschheit geweckt und es in seinem Leben verwirklicht hat, so daß, wer das Gute erkennen, beschauen und verwirklichen will, immer von Neuem zurückkehrt zu Jesu Wort und Bild“: der gleiche Jesus hätte sich göttliche Würde, göttliche Werke, ja göttliches Wesen beigelegt, und das Alles gehörte ihm in Wahrheit nicht, sondern er wäre darin ein wahnsinniger Schwärmer oder ein gotteslästerlicher Lügner gewesen? Ein so arger Betrug wäre aus dem Munde dessen gekommen, der keine Sünde gethan hat?

Das ist das Räthsel, vor welchem die Ungläubigen stehen. Und sie entrinnen demselben nicht mit den Künsten einer Gelehrsamkeit, die nur ein Mißbrauch des Wissens ist, womit sie uns die Evangelien alle als höchst unzuverlässig verdächtigen möchten. Denn einmal ist der Apostel Paulus, dieser gewaltige Geist, auch in denjenigen Briefen, die kein vernünftiger Mensch anfechten kann, ein vollgültiger und vollgewichtiger Zeuge nicht nur für das Hauptwunder der Auferstehung des Herrn, sondern ebenso auch für die Gottheit Christi. „Ein Mann aber, welchem die Sehnsucht seines Geistes nach sittlicher Heiligung sich an die Person Jesu knüpft; ein Mann, welcher Jahrzehnte hindurch in aller Geduld und Selbstverleugnung und in unzähligen Nöthen zu Wasser und zu Land als Missionar sich müht; ein Mann, der mit dem Ernst des Gewissens an den Gewissen der Menschen arbeitet, an welchen die, zu denen er redet, prüfende Fragen stellen: ein solcher Mann benützt die ihm dargebotene Gelegenheit, über den Grund seines Glaubens ins Klare zu kommen. “ In der That, kein Vernünftiger, der eines Paulus Charakter zu würdigen weiß, kann glauben, daß derselbe, so unabhängig er von den ersten Aposteln sich hielt, hätte können sein eigenes Heil und sein ganzes Wirken auf den Glauben an die Gottheit Christi gründen ohne die sicherste Gewißheit, daß der geschichtliche Christus sich wirklich also ausgesprochen habe.

Dann aber begegnen uns auch in den Evangelien selber bei allem Wunderbaren, das die Kinder unsrer Zeit verschmähen, doch wieder so tief ergreifende, so unantastbare Züge von Herrlichkeit, Züge, die den Stempel der geschichtlichen Wahrheit so unverkennbar an sich tragen, und die doch von dem fremden und anstößig scheinenden so gar nicht zu lösen oder auszuschmelzen sind, daß auch jene Gegner des Glaubens immer von Neuem staunend und verwirrt vor dem Räthsel stehen bleiben.

Auch Kaiaphas ist davor gestanden. Als mit allem Aufbieten falscher Zeugen nichts auszurichten war, da beschwor er Jesum, daß er bekenne, ob er sei Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und Jesus antwortete: Du sagst es! und von nun an werdet ihr sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels (Matth. 26,64). So zeugt der Gebundene vor dem grimmigen Richter, wissend: was ich rede, das bringt mir den Tod. Als Mitregent Gottes und Richte r aller Welt verheißt er offenbar zu werden von nun an. Solches sagt er zu denen, welche die Macht hatten, ehe der Tag verflossen war, sein Wort, so schien es, zu Schanden zu machen. Ward es wirklich zu Schanden? Wer hat Recht, der hohe Priester oder Christus? Das ist hier in der That das große entscheidende Entweder - Oder. Wenn man wie der hohe Priester davon ausgeht, als wäre es ein Axiom: er ist nicht der Sohn des lebendigen Gottes, der Mitregent des Vaters und Richter der Welt, das ist er nicht und darf es nicht sein, und sagt es dennoch von sich aus und macht sich zu diesem Höchsten, ohne es zu sein: dann müßte man es in der That eine Lästerung Gottes heißen; ja, das wäre wirklich „der frevelhafteste Raub an Gottes Majestät, den wahnsinniger Hochmuth je versucht hätte;“ und dieser Raub begangen von demjenigen, welcher uns wie Keiner den Eindruck vollendeter Reinheit macht? Ja, das ist ein Räthsel, das kein Ungläubiger lösen wird!

So Hohes, Göttliches sagt jener geringe, junge, ungebildete, unangesehene Handwerker von sich aus. Dieser Prophet, das sehen wir, ist nach seiner eigenen Aussage mehr als ein Prophet. Er ist nicht nur der Schlußstein der ganzen Reihe von Propheten, er ist persönlich der Inhalt und das Ziel aller prophetischen Verkündigung; er ist es, der uns in Wort und That den Vaternamen, das Vaterwesen Gottes offenbart (Joh. 17,6). In ihm, in seinem Wort und Werk, ist der Wille Gottes zur Erneuerung der Creatur thatsächlich kund gethan. Wenn wir es annehmen, was er von sich aussagt, so haben wir ihn anerkannt als das Wunder, das er persönlich ist. Dann ist es aber durchaus nichts anderes als der folgerichtige Ausfluß des Wunders, das er ist, daß er auch Wunder thut.

Das ists, worum wir mit euch streiten, sagen wir zu denen auf der Gegenseite. Ihr könnt ihm nicht mit Wahrheit die Wendung geben, als handelte sichs nur um die Schweine der Gergesener oder um die Brotbrocken, die von der Speisung übrig blieben. Es handelt sich um den Heiland selber. Es handelt sich um den Gott der Christen, den ihr nicht habt, um nichts Geringeres. Warum denn steht ihr rathlos still vor dem ewigen Räthsel dieser Person? Weil ihr von dem Axiom ausgeht: Jesus kann nur ein Mensch wie wir gewesen sein; und doch geben euch die Urkunden, die von ihm zeugen, durchaus einen Menschen, der höher als ein Mensch ist, geben euch des Menschen Sohn, der Gottes Sohn ist in einem Sinne, wie wir es nicht sind, der es freilich für uns ist, und uns zu sich emporziehen, erlösen und vollenden will. Ihr aber anerkennet dieses Wunder nicht, und habt doch, Gott Lob für euch! nicht den heillosen Muth, mit Kaiaphas zu sagen: er hat Gott gelästert, er ist des Todes schuldig. Darum steht ihr vor dem Räthsel, wie vor einer verschlossenen Thür, deren einzigen Schlüssel ihr weggeworfen habt, und die doch viel zu fest dasteht, als daß ihr sie einzuschlagen vermöchtet.

Wir aber erinnern euch an das, was ihr früher vernommen habt, und fragen euch: wo ist der Mensch hergekommen? Er ist doch da und ist nicht von jeher dagewesen, sondern ist entstanden mit Durchbrechung der bisherigen Ordnung, aus Elementen, die ihm ungleich waren, und die sein Entstehen nimmermehr erklären. Er ist entstanden als ein Wunder durch die Wirkung des Gottes, der Wunder thut. Wie wollt ihrs erhärten, daß nicht auch der Menschensohn als ein höheres Wunder in die Menschheit eingetreten sei? Woher entnehmt ihr die ungeheure, die trostlose Sicherheit, zu sagen: es ist nicht möglich? es kann nichts über dem Menschen geben; nichts über dem gegenwärtigen Zustand des Menschen; nichts über der jetzigen Ordnung der Dinge. Und doch, das sagt ihr und das müßt ihr sagen. Nicht einmal als sündlos heilig könnet ihr Jesum gelten lassen. Also wäre er auch nicht der Erlöser gewesen, sondern selbst eines Erlösers bedürftig. Oder vielmehr nach dieser Lehre giebt es keinen Erlöser und braucht auch keinen zu geben; ihr brauchet keinen Heiland, um „im Frieden zu sterben;“ keinen Heiland, der euch die Sünden vergiebt; keinen Heiland, der euch vom Tod erweckt. Es ist genug, daß die Weltgeschichte „ein Siegeszug der Gesittung und Geistesbildung“ ist; fragt sich freilich sehr, ob sie's wäre, wenn nicht Christus, der Heiland, in sie eingetreten wäre; und auf ein Reich der Vollendung führt keine Weltgeschichte ohne Christus hinaus, sondern ohne ihn behaupten Sünde und Tod ihre ungebrochene Herrschaft, darein wir uns finden müßten, so gut es eben gienge, die wenigen Jahre, bis wir dahingehen und zu Staub und Moder werden. Das ist die Menschenwürde, welche dieser euer Gott verheißt, jener All- oder Urgeist, der als das wahre Wesen das Weltall und auch uns durchdringt, der nichts von sich selber weiß, denn Wissen ist etwas viel zu Niedriges und Beschränktes, nur wir wissen ihn, nur in uns weiß er sich, weil wir Eins mit ihm sind.

Da haben wir Christen einen andern Gott und in ihm eine andere Menschenwürde. Wohl demüthigt es: einen Heiland zu bedürfen. Darin liegt ja das Bekenntniß, daß wir aus uns selbst todtkranke Leute seien, die aus der äußersten Gefahr sich selber nicht zu retten vermögen. Aber selber diese Schmach ist eine Ehre. Euer Stand ist nicht gut, sagt uns die Schrift; euer Stand ist nicht der rechte; ihr seid von euerm Adel herabgekommen; ihr seid zu etwas Besserem berufen; das Höchste und Herrlichste, wozu ihr es ohne den Erlöser bringt, ist tief unter dem, wozu euch Gott bestimmt hat, dem heiligen, seligen, ewigen Leben. So ehrt der Christen Gott uns sündige Menschen, der heilige Gott, mit dem wir nicht von Natur Eins sind, wie der Wahnglaube der Pantheisten meint, mit dem wir aber Eins werden sollen und werden können in Christo.

Und wir selber ehren uns, wenn wir auf diesen heiligen Gnadenwillen Gottes eingehen. Was giebt es für eine größere Unehre, die wir uns anthun können, als wenn wir zwar Sünder sind, aber von Reue nichts wissen wollen, im Unrecht Recht haben wollen, die Sünde leugnen oder doch leicht nehmen und beschönigen? Was giebt es aber Höheres, worin der Menschenadel könnte beginnen durchzubrechen, als wenn der Zöllner an seine Brust schlägt: Gott sei mir Sünder gnädig, und wenn der König sich vor des Propheten Strafwort beugt und vor Gott bekennt: An Dir allein habe ich gesündiget!

Diesem Adel hilft Jesus Christus zur Vollendung. Er heilt und er vollbringt die Verherrlichung der Menschheit, ja der Welt. Er ist, was die Christenheit gemäß dem Evangelium ausspricht, wenn sie bekennt: Ich glaube an Jesum Christum, Gottes eingebornen Sohn, unsern Herrn. Das ist das geoffenbarte göttliche Geheimniß, vor dem wir uns beugen. Da lohnt es sich, zu versuchen, wie weit wir es in Erkenntniß der Person Christi, ihres göttlichen und menschlichen Wesens, bringen können, aber nicht indem wir bei Seite werfen, was er selber von sich aussagt, sondern indem wir es allem Erkennen zum Grunde legen. Und dabei ist es uns keine Beunruhigung und auch kein Vorwurf, wenn auch dieses Wissen Stückwerk bleibt: bis wir werden erkennen, wie wir erkannt sind. Unterdessen aber leben wir in seiner Gemeinschaft, und wissen, daß solches, auch ohne daß etwas sichtbares dabei ist, auch ohne daß wir irgend etwas auffallendes erleben, eine heilige und selige Wirklichkeit ist. Denn wie die Schrift sagt (Joh. 3,33), und wie es derjenige, der damit umgeht, erfährt: wer das Zeugniß Christi annimmt, der versiegelt es, daß Gott wahrhaftig sei.

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