Richard von St. Victor - Macht und Weisheit Gottes.

Richard von St. Victor - Macht und Weisheit Gottes.

Wer sollte nicht darüber staunen, wie vielfach bewegt der menschliche Gedanke, wie eilig und unermüdlich schnell er ist, wie er so vieles, so mannigfaltiges und so unendliches durchläuft, wie er in keiner Stunde, in keinem Augenblicke ruhend so viele Räume des Ortes, so viele Abschnitte der Zeit durchdringt, da ihm überall der Zugang so leicht, der Lauf so ungehemmt ist: von der Höhe zur Tiefe, von der Tiefe zu Höbe, vom Anfange zum Ende und vom Ende zum Anfange! Was sollen wir ferner von der Einbildungskraft und ihren Gemälden sagen? Was nur immer die Seele von außen durchs Gehör empfängt, was sie von innen aus dem bloßen Gedanken entnimmt, das alles prägt sie in außerordentlicher Schnelligkeit zu einem Bilde aus. Was ists für ein Wunder, so vieler und so großer Dinge Bilder in einem Augenblicke hervorzurufen und dieselben eben so leicht wieder zu verwischen oder auf die mannigfachste Weise zu verwandeln! Schafft sich nicht durch die Einbildungskraft der Geist täglich einen neuen Himmel und eine neue Erde, wenn er nur will? Und in jener eingebildeten Welt belebt er nicht da wie ein zweiter Schöpfer Creaturen so viele er will, zu jeder Stunde, und gestaltet sie nach seinem Gutdünken? Siehe nun auch auf den Verstand und merke wie vieles, ja fast unendliches ihm zugänglich ist, was kein Sinn des Körpers erreichen kann. Siehe, wie er das Tiefe zu ergründen, das Innerste zu durchdringen, das Verwirrte und Verwickelte, das Dunkle und Verdeckte zu entwirren, zu lösen, zu beleuchten und zu enthüllen pflegt. Zum innersten Herzen und zum geheimsten Sitz der sich verbergenden Natur gelangt und kommt er, er eilt und strebt immer weiter zu dringen, und immer tiefer sich zu senken. Bedenke, wie viele Wissenschaften er erfunden, wie viele Künste er hervorgebracht hat, und erstaunen mußt du und vor Erstaunen fast vergehen. Nun achte weiter auf das Gedächtniß, wie unermeßlich groß sein Busen ist, das so viele Stoffe, so vieler Stoffe Gestalten, so viele Geschlechter der Dinge, so viele Arten der Geschlechter, so viele Einzelwesen der arten, und von diesen Einzelwesen so viele Eigenschaften, Beschaffenheiten, Größen, Thätigkeiten und Zufälle, Zustände, Lagen, Oertlichkeiten und Zeiten in seinen weiten Grenzen begreift und bewahrt und, lange bewahrt, wieder hervorbringt. Ermiß, wenn du kannst, die Kammern, wie breit, wie weit, wie tief und hoch sie sind, die so viele Schätze der Erkenntniß und Weisheit überall her aufnehmen und ohne Verwirrung bewahren können! Nicht minder wunderbar ist aber endlich auch die Stärke der Urtheilskraft. Wie groß sie sei, kann man aus dem Bemerkten entnehmen. Denn alles was der Sinn auffaßt, der Gedanke gebiert, die Einbildungskraft schafft, der Verstand ergründet, das Gedächtniß bewahrt, das erfaßt die Urtheilskraft und zieht es entweder zur Betrachtung herab oder läßt es aufgehen in Andacht.

Quelle: Galle, Friedrich - Geistliche Stimmen aus dem Mittelalter

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